Fortschritte und Rückschritte bei der Umsetzung der Istanbul-Konvention

Bekämpfung von Gewalt gegen Mädchen* und Frauen* gerät unter Druck
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Frauenprotest

Am 11.05.2011 hat der Europarat unter Vorsitz der Türkei in Istanbul das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ als völkerrechtlichen Vertrag ausgefertigt, der 2014 in Kraft trat. Diese sog. „Istanbul-Konvention“ ist der bislang einzige, auf EU-Ebene juristisch bindende völkerrechtliche Vertrag, der dezidiert auf die Bekämpfung und Verfolgung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* zielt. Bis heute haben 46 Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet, 34 davon haben sie inzwischen ratifiziert. Der Grundsatz der Konvention in Art. 1a lautet: "Zweck dieses Übereinkommens ist es, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen". 

Neben umfangreichen staatlichen Verpflichtungen, ist es vor allem der ihr zugrunde gelegte struktureller Gewaltbegriff, der die Konvention besonders macht: So geht die Konvention davon aus, dass die Ursache von Gewalt gegen Mädchen* und Frauen* nicht nur im Einzelfall bzw. der individuellen Tat liegt. Vielmehr erzeugt die gesellschaftlich und historisch verankerte Unterscheidung in Männer und Frauen und damit einhergehend ungleich verteilte Machtverhältnisse erst spezifische Lebenslagen, die für bestimmte gesellschaftliche Gruppen – insbesondere für Mädchen* und Frauen* - mit einer besonderen Verletzbarkeit einhergehen. So eröffnen die Verfasser*innen das Übereinkommen „[…] in Anerkennung der Tatsache, dass die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ein wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen ist; in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern ist, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben; in Anerkennung der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt strukturellen Charakter hat, sowie der Tatsache, dass Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden; […]“ und „mit großer Sorge feststellend, dass Frauen und Mädchen häufig schweren Formen von Gewalt wie häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung, im Namen der sogenannten „Ehre“ begangener Verbrechen und Genitalverstümmelung ausgesetzt sind […]“ (Istanbul-Konvention, Präambel, S. 3-4). 

Bis heute haben 46 Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet, 34 davon haben sie inzwischen ratifiziert. Deutschland ratifizierte die Istanbul-Konvention 2017 mit Wirkung ab 2018. Dem waren einige Gesetzesänderungen, insbesondere im Sexualstrafrecht, vorausgegangen. Zu den Vertragsparteien, auf deren Unterzeichnung keine Ratifikation folgte, zählen neben dem Vereinigten Königreich und der EU vor allem osteuropäische EU-Staaten wie Ungarn, Bulgarien, Tschechien, die Slowakei, Lettland und Litauen. 

Die Türkei, die den völkerrechtlichen Vertrag als erster Staat am 14. März 2012 unterzeichnet und ratifiziert hatte, ist nun der erste Staat, der die Konvention aufgekündigt hat. Einer innenpolitisch motivierten Argumentation von Traditionalist*innen folgend, wonach die Konvention „traditionelle“ Familien- und Geschlechterbilder und die hegemoniale Lebensform der (heterosexuellen) Ehe gefährde, verkündete der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am 20. März 2021 – im Alleingang – den Austritt , ohne dabei das türkische Parlament zu beteiligen (vgl. bspw. TAZ vom 01.07.2021Der Standard vom 01.07.2021).

Viele Beobachter*innen halten das Vorgehen Erdoğans nach türkischem Recht für verfassungswidrig, da es gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstößt. Auch darf der Präsident nach der türkischen Verfassung die dort geschützten Grund- und Individualrechte nicht per Dekret regeln, so bspw. die Anwaltsvereinigung aus Istanbul. Die Istanbul-Konvention betrifft aber eben genau solche Rechte, insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Hierzu berichten türkische Initiativen wie "Wir werden Frauenmorde stoppen!", dass die Zahl der ermordeten Frauen* seit Jahren steigt - zuletzt um 60 Prozent von 303 Fällen in 2015 auf 474 Fälle im Jahr 2019 (vgl. auch Amnesty International vom 06.07.2020). Mit diesen Argumenten haben mehrere türkische Oppositionsparteien und Verbände das präsidiale Dekret und damit die Aufkündigung der Istanbul-Konvention vor dem obersten Verwaltungsgericht der Türkei (Staatsrat) angefochten – mittlerweile erfolglos. Damit ist der Austritt der Türkei zum 01.07.2021 wirksam geworden (vgl. hierzu auch ausführlich Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag vom 11.07.2021:  Aktueller Begriff: Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention: Nr. 07/21).

Neben Erdoğan kündigte auch der polnische Justizminister bereits im Juni 2020 an, einen Austritt zu befürworten, während das Parlament in Ungarn zu diesem Zeitpunkt bereits die angelaufene Ratifizierung und Umsetzung der Konvention in national gültiges Recht gestoppt hatte. In den unterzeichnenden Staaten Tschechien, die Slowakei, Bulgarien, Lettland und Litauen sind Ratifizierungsprozesse bislang gänzlich ausgeblieben - sodass Frauen*rechtsorganisationen wie bspw. das Bündnis Istanbul-Konvention (BIK), ein bundesweiter Zusammenschluss von Frauenrechtsorganisationen zum Monitoring der Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland, schon seit geraumer Zeit einen "Dammbruch" auf europäischer Ebene befürchteten (BIK-Stellungnahme vom 20.08.2020). 

Der jetzt eingetretene „Präzendenzfall“ Erdogan ist deshalb das „[…] Ergebnis einer schon seit Jahren schwelenden Entwicklung, die darauf abzielt die Rechte von Frauen und Mädchen auf ein gewaltfreies Leben massiv einzuschränken. Der Kampf von Frauen für Gleichstellung und Selbstbestimmung ist durch das Wiedererstarken patriarchaler, nationalistischer und autoritärer Strömungen und Politik vehementen Angriffen ausgesetzt“, so das BIK in einer weiteren Stellungnahme vom 24.04.2021 zum Austritt der Türkei. Das BIK appelliert weiterhin an die Verantwortung der Bundesregierung:

  • „[…] Im Rahmen des aktuellen Vorsitzes des Ministerkomitees des Europarates die Türkei aufzufordern, diesen Schritt unverzüglich rückgängig zu machen.
  • Sich als aktuelles Mitglied der EU-Triopräsidentschaft ohne Verzug dafür einzusetzen, dass der Austritt der Türkei Konsequenzen für die deutschen und EU-Beziehungen mit der Türkei haben muss. Die Menschenrechtsverletzungen und antidemokratischen Entwicklungen des Landes dürfen nicht länger ignoriert werden.
  • Jeder weiteren Bestrebung anderer Unterzeichnerstaaten, wie beispielsweise Polen oder Ungarn, das Abkommen zu blockieren oder auszutreten entschieden entgegenzuwirken.
  • Die Ratifizierung der Konvention auf EU-Ebene und in allen EU-Mitgliedstaaten sowie die konsequente und vorbehaltlose Umsetzung – auch in Bezug auf den Artikel 59 und damit den bedingungslosen Schutz von geflüchteten Frauen vor Gewalt –  in Deutschland voranzutreiben […]“ (BIK vom 24.03.2021).