Der erste Tag
Am 4. Dezember kamen die ersten sechs Zöglinge und übergaben mir einen märchenhaften Brief mit fünf riesigen Siegeln. Der Umschlag enthielt die 'Akten'. Vier Zöglinge waren achtzehn Jahre alt und wurden wegen bewaffneten Raubüberfalls auf eine Wohnung zu uns geschickt. Die beiden anderen waren jünger und des Diebstahls angeklagt. Unsere Zöglinge waren sehr gut angezogen: Reithosen, elegante Stiefel, das Haar nach der letzten Mode. Das waren keineswegs verwahrloste Kinder. Die Namen dieser ersten waren: Sadorow, Burun, Wolochow, bendjuk, Gud und Taranez.
Wir hießen sie freundlich willkommen. Schon seit dem frühen Morgen war ein besonders leckeres Mittagessen zubereitet, und unsere Köchin strahlte unter ihrem schneeweißen Kopftuch. Im Schlafssaal waren auf dem freien Platz die Tische gedeckt. Tischtücher hatten wir nicht, doch neue Bettlaken vertraten sehr gut ihre Stelle. Hier hatten sich alle Angehörigen der im Entstehen begriffenen Kolonie versammelt. (...)
Ich hielt eine Ansprache über ein neues, tätiges Leben, sagte, die Vergangenheit müsse vergessen werden, und es hieße jetzt immer nur vorwärts gehen ...! Die Zöglinge hörten schlecht zu, flüsterten miteinander und musterten hämisch lächelnd die zusammenklappbaren 'Betten' mit ihren durchaus nicht mehr neuen Steppdecken, die ungestrichenen Türen und Fenster. Und plötzlich, mitten in meiner Ansprache, sagte Sadorow laut zu einem seiner Kumpane: 'Durch dich sind wir in diesen Schlamassel geraten.'
'Den Rest des Tages verbrachten wir mit der Planung unseres künftigen Lebens. Die Zöglinge hörten sich meine Vorschläge mit höflicher Geringschätzung an und hatten im übrigen nur den einen Wunsch, mich möglichst bald loszuwerden.'
(Anton S. Makarenko: Ein pädagogisches Poem)
Auch fast 80 Jahre nach den Makarenko zufolge 'unrühmlichen Anfängen der Gorki-Kolonie' liegt etwas Besonderes über den Anfängen des Lebens ‚am anderen Ort’ - sei es in der Heimgruppe, in der Pflegefamilie, im Internat oder der Tagesgruppe. In der Redaktionsdiskussion zum Thema waren wir uns sehr schnell einig, dass die ersten Begegnungen am neuen Lebensort für Mädchen und Jungen von herausragender Bedeutung sind. Dem vorherigen Leben noch verhaftet ist das Neue, Unbekannte spannend, verunsichernd und beängstigend. Gleichzeitig bestimmen die ersten Stunden und Tage in entscheidender Weise die Lebenschancen an einem neuen Ort.
Mit kurzem Nachdenken können die meisten Erwachsenen Situationen beschreiben - in der neuen Wohnung, am neuen Arbeitsplatz, in einer Fortbildungsgruppe - in denen sie selbst Anfänge erlebt haben. Mit diesem Themenschwerpunkt wollen wir daher anregen, die Praxis des "Beginnens", des Auf- und Annehmens von Kindern und Jugendlichen insbesondere in Gruppen der Erziehungshilfe zu reflektieren, zu diskutieren und wo erforderlich bewusster zu gestalten.
"Oh, da erwischt Du mich aber an einem kritischen Punkt", so etwa war die erste Reaktion eines Heimleiter-Kollegen, als wir ihn um einen Beitrag für das Heft baten. Ähnliche Antworten hörten wir noch von mehreren KollegInnen. Kritisch deshalb, als mit der Formulierung des Themas sofort klar wurde, dass "der erste Tag" ein besonderer Augenblick ist, dies aber im Handeln und konzeptionellen Gestalten in den meisten Erziehungshilfe-Einrichtungen scheinbar nur eine geringe Rolle spielt. Auch in der verschrifteten Fachdebatte findet sich wenig.
Die sechs folgenden Beiträge bearbeiten das Thema auf verschiedenen Ebenen - mal mehr analytisch, mal konzeptionell, mal alltagsnah-phänomenologisch - und mit verschiedenen ‚Brillen’, jedoch vor allem bezogen auf die Aufnahmesituation von Mädchen und Jungen. Eine Debatte über die Berufseinmündung und den ersten Arbeitstag von Fachkräften wäre indes ebenso sinnvoll: Die Ergebnisse der Studie zur Berufszufriedenheit von HeimerzieherInnen von Günther & Bergler (Arbeitsplatz Stationäre Jugendhilfe, Ffm. 1992, IGfH ) wiesen bereits darauf hin, 'dass derzeit bei einem bedenklich hohen Anteil von BerufsanfängerInnen der Einstieg in die Berufsausübung entweder völlig misslingt oder zum Aufbau negativer Grundeinstellungen gegenüber dem Berufsfeld führt' (a.a.O., S. 188). Damit auch diese und weitere Facetten des 'ersten Tages' zur Sprache kommen, laden wir alle KollegInnen und auch Jugendliche ein, sich mit weiteren Beiträgen, die in den nächsten Heften abgedruckt werden können, zu beteiligen.
Wolfgang Trede
Aus dem Inhalt
Ullrich Gintzel: Der erste Tag als pädagogische Herausforderung
Christina Fischer: Der erste Tag im Heim - Erfahrungen von zwei Mädchen
Gundi Hesse: Mein erster Tag
Hans Hansen: Der erste Tag - eine institutionelle Sicht
Stephan Kibben: Der erste Tag in einer Wohngruppe
Stefan Kunold: Der Tag der Aufnahme im SOS-Kinderdorf `Worpswede`
Klaus Dettma, Frank Deubel: Treffen des Landesheimrates Hessen mit Ministerpräsident Eichel
Miklos Lévai: Zum Umgang mit jugendlichen Straffälligen in Ungarn
Roland Stübi: Kurzbericht zum Verhältnis von Jugendstrafrechtspflege und Heimerziehung in der Schweiz
Ullrich Gintzel: Rechte von Mädchen und Jungen in der Heimerziehung
Barbara Kavemann: Sexueller Mißbrauch ist Gewalt und schadet der Gesundheit von Mädchen immer
Matthias Skotnik u.a.: Das Modellprojekt `IKipA - Ein Intensives Kriseninterventionsprogramm für Familien in Frankfurt/Main