Hartz IV und die Jugendhilfe
„Hartz IV“ ist zu einem Synonym für ein bundesdeutsches Experiment geworden: Die Zusammenlegung von Arbeitlosen- und Sozialhilfe stellt eine der größten Sozialverwaltungsreformen aller Zeiten da. Die Aus- und Nebenwirkungen bekamen und bekommen in Deutschland viele Menschen zu spüren: Ist schon die Umstellung zum Stichtag 01.01.2005 nur knapp am „schlechtesten Fall“ vorbeigerutscht – beinahe hätten viele Erwerbslose im Januar kein Geld gehabt – wurden die Diskussionen in der Folge vor allem von der Kostenexplosion, die die Einführung des SGB II zur Folge hatte, geprägt.
Ohne ernstzunehmende Reflektionen, welche Mechanismen zu den Kostensteigerungen führen, wurden, je nach politischem Lager populistisch unterlegt, Forderungen nach der Reform der Reform laut und dann auch gleich umgesetzt: aktuell wurde das SGB II Fortentwicklungsgesetz verabschiedet, aber schon im April des Jahres wurden einzelne Regelungen, z.B. zum Auszug von Jugendlichen aus der elterlichen Wohnung, verschärft.
Tenor der öffentlichen Diskussion: Werden Anreize zur Beantragung von Leistungen gestrichen, dann werden auch Kosten gespart. Wer Arbeitslos ist, ist selber schuld! „Fördern und Fordern“ als Prinzip stellt sich für Betroffene meist als ansteigender Druck, ohne Perspektiven und bei abnehmenden Unterstützungsleistungen zur Integration in den Arbeitsmarkt dar. Stattdessen erhalten Erwerbslose verfügte Eingliederungsvereinbarungen, Sofortangebote und Sanktionsdrohungen. Arbeit gibt es jedoch keine. Werden so Probleme gelöst, die ihre Ursache doch an ganz anderer Stelle haben? Probleme einer Gesellschaft, deren konstituierendes Element (noch immer) die bezahlte Erwerbsarbeit darstellt, obwohl diese schon längst nicht mehr für alle erreichbar ist?
Was Arbeitslosigkeit für Menschen bedeutet ist bekannt und erforscht, welche Wirkung materielle Mangelsituationen auf Teilhabechancen auch. Was fehlt ist Empirie, die Auswirkungen von Hartz IV systematisch untersucht. Wir wissen nicht viel darüber was mit Menschen passiert, die einen Regelsatz erhalten, der 20% zu niedrig angesetzt ist ( DPWV ), bei gleichzeitigem Generalverdacht der „Abzocke“ (Clement). Wir wissen nicht wie der verstärkte Zwang zur Suche nach Arbeit auf Menschen wirkt, für die es keine Arbeitplätze gibt. Wir wissen auch nicht, was es individuell bedeutet, wenn Rechtsansprüche auf Leistungen installiert werden, bei deren Inanspruchnahme dann zu mehr „Anstand“ aufgerufen wird (Kurt Beck). Wir wissen nichts über geschlechtsspezifische Auswirkungen eines „mobilisierten“ Arbeitsmarktes: Im Osten des Landes sind zunehmend Frauen mobil und verlassen strukturschwache Regionen. Verlässliche Zahlen fehlen an allen Ecken. Was wir sicher wissen: Solcherart veränderte gesellschaftliche Bedingungen haben Auswirkungen auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Sie habe damit Auswirkungen auf Jugendhilfe.
Einige Auswirkungen versucht das vorliegende Heft zu umreißen. Thomas Drößler geht daher in seinem Beitrag der Frage nach, wie die veränderte Lage von Erwerbslosen Einfluss die Entwicklung von Kindern in ihren Familien nimmt: Er konstatiert die gravierende Zunahme „armer Kinder“ mit allen Folgen. Manfred Busch und Gerhard Fieseler stellen die wesentlichen Gesetzesgrundlagen des SGB II und die Auswirkungen auf die Jugendhilfe dar. Ute Karl und Eberhard Raithelhuber schauen genauer auf die scheinbare Sozialpädagogisierung des Arbeitslosenrechts durch die Verwendung des „Case Managements“ in der Arbeitslosenvermittlung. Tina Hofmann setzt sich mit veränderten Bedingungen durch das SGB II Fortentwicklungsgesetz auseinander. Das gerade in Kraft getretene Gesetz bringt vor allem für Jugendliche deutliche Verschlechterungen mit sich. Werner Freigang und Xenia Spernau widmen sich dem Verhältnis Jugendhilfe und Hartz IV aus einer anderen Perspektive: Die sprunghafte Zunahme von „1-Euro-Jobs“ nach Einführung des SGB II lässt Raum für Vermutungen, welche Rolle „1-Euro-Jobs“ in Einrichtungen der Jugendhilfe spielen.
Konkret werden zur Zeit die Auswirkungen von Hartz IV für die Jugendhilfe besonders bei Jugendlichen und jungen Volljährigen, die sich im Übergang in das Erwerbsleben befinden. Was in Zukunft auf die Jugendhilfe zukommt, bleibt abzuwarten. Neben empirischen Daten, die generiert werden müssen, bleibt die Forderung bestehen, dass die breiten gesellschaftlichen Diskussionen zu „Familienfreundlichkeit“ und der „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ in Zukunft stärker auch benachteiligte Kinder und Jugendlichen in den Blick rücken.
Aus dem Inhalt
Werner Freigang
Vom Spargelstechen und Erdbeerpflücken. Familienpolitischer Rückblick auf die Erntesaison
Thomas Drößler
Hartz IV, Kinder und die Jugendhilfe
Manfred Busch und Gerhard Fieseler
Bedeutung und Auswirkung von Hartz IV für die Jugendhilfe
Ute Karl, Eberhard Raithelhuber
Sozialpädagogische Fachlichkeit im SGB II? – Schwierigkeiten und Widersprüche
Tina Hofmann
Das SGB II Fortentwicklungsgesetz und die Kinder- und Jugendhilfe
Werner Freigang und Xenia Spernau
„1-Euro-Jobs“ – Zusätzliche Leistungen für Kinder und Jugendliche?
Jürgen Blandow
Selemat datang di Medan. Eindrücke aus einer Studienreise in den Norden Sumatras „Grauzonen“ der geschlossenen Unterbringung.
Hans-Ullrich Krause, Friedhelm Peters,Xenia Spernau und Mechthild Wolff
Gefährliche Entwicklungen in einer unkontrollierten Praxis
Reinhard Joachim Wabnitz
Föderalismusreform und Kinder- und Jugendhilferecht