Praxisentwicklungsprojekt Migrationssensibler Kinderschutz

Gemeinsam mit dem Institut für sozialpädagogische Forschung Mainz e.V. führte die IGfH ein Projekt zur Umsetzung des Kinderschutzauftrages bei Familien mit Migrationshintergrund durch. Das Projekt ist abgeschlossen; die Projektergebnisse liegen in Form eines Werkbuches vor.

Kurzbeschreibung:
In der Diskussion um die Verbesserung des Kinderschutzes blieben bisher spezifische Anforderungen an die Kinder- und Jugendhilfe, die sich aus der pluralen Zusammensetzung der Bevölkerung sowie im Kontext von Migration und Mobilität ergeben, weitgehend unbeachtet. In der Kinder- und Jugendhilfestatistik wird der Migrationshintergrund der Familie seit dem Jahr 2007 erfasst. Die Umsetzung des Kinderschutzes, die Sicherstellung der Rechte von Kindern und die Bereitstellung bedarfsgerechter Hilfen für alle Kinder, die Gefahren für ihr Wohl ausgesetzt sind, bildeten demzufolge den Hintergrund des Projekts „Migrationssensibler Kinderschutz“. Gefördert wurde das Projekt von der Deutschen Behindertenhilfe - Aktion Mensch e.V. und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie einer privaten Stiftung.

Das Projekt verfolgte verschiedene Ziele. Ein wesentliches Anliegen war, durch die empirischen Anteile des Projektes eine fundierte Datenbasis zu Fragen rund um die Themenbereiche „Kinderschutz“ und „Migration“ zu schaffen, da die Datenlage sich hierzu insgesamt als sehr unzureichend erwies. Das Projekt zielte demzufolge darauf ab, einen Beitrag zur Normalisierung von Migration bzw. einer durch Migrationsprozesse geprägten Gesellschaft in der Jugendhilfe zu leisten und im Dialog mit den beteiligten Projektstandorten herauszuarbeiten, wie das Handeln des ASD sich unter den Bedingungen einer pluralen und heterogenen Gesellschaft weiterentwickeln kann. Als explizites Praxisforschungs- und -entwicklungsprojekt war es dezidiert so angelegt, dass neben der Schaffung einer soliden Datenbasis zu Fragen rund um die Themen Kinderschutz in Familien mit und ohne Migrationshintergrund und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen die Praxisentwicklung einen zentralen Bestandteil innerhalb des dreijährigen Projektkontextes innehatte.

Projektanlage: Praxisforschungs- und –entwicklungsprojekt mit den Bestandteilen:

  • Quantitative und qualitative empirische Untersuchung (Zielgruppenanalyse,  Einzelfallanalysen
  • Praxisentwicklung (Projektgruppenworkshops sowie Praxisentwicklungstage an den drei Modellstandorten und viertägige Fortbildung)

Zur Umsetzung des Projekts konnten als Modellstandorte die Städte Essen und Stuttgart sowie der Landkreis Germersheim gewonnen werden.

 

Aufbau, Verlauf und Beteiligte des Projekts

Zu Projektbeginn wurden zunächst in den einzelnen Standorten ProjektkoordinatorInnen benannt, die den gesamten Projektverlauf begleiteten und mit denen die einzelnen Arbeitsschritte des Projekts abgestimmt wurden. Nach einer gemeinsamen Projektauftaktveranstaltung wurde an jedem Standort zudem eine Projektgruppe gebildet, an der neben VertreterInnen des ASD in der Regel auch MitarbeiterInnen von freien Trägern teilnahmen, die viel Erfahrung in der Kinderschutz-Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund haben. In den Sitzungen der Projektgruppen vor Ort wurden die Projektergebnisse ausführlich diskutiert und die einzelnen Arbeitsschritte gemeinsam entwickelt.

Zur kritischen Diskussion der Projektergebnisse wurde ein ExpertInnenbeirat mit VertreterInnen aus der Wissenschaft, von Fachverbänden, der Politik sowie aus der öffentlichen und freien Jugendhilfe einberufen, der im Projektverlauf mehrmals tagte. Parallel hierzu begleitete eine Steuerungsgruppe, an der MitarbeiterInnen des ism e. V. und der IGfH teilnahmen, das Projekt kontinuierlich und diente als Dialogforum, um Thesen und Ergebnisse kritisch zu diskutieren und die inhaltliche Ausgestaltung des Projekts prozessorientiert zu justieren.

 

Empirische Erhebung / Quantitative Untersuchung von Kinderschutzfällen und vertiefende Einzelfallstudien

Mit dem Ziel, die Datenlage in Bezug auf die Thematik „Kindeswohlgefährdung bei Familien mit und ohne Migrationshintergrund“ zu verbessern, wurde eine Zielgruppenanalyse durchgeführt. Hierzu wurden alle Kinderschutzverdachtsfälle der beteiligten Standorte, in denen im Jahr 2008 eine Meldung bei den Allgemeinen Sozialdiensten einging, erhoben und ausgewertet. Die quantitative Erhebung erfolgte mit dem Ziel der Ermittlung von typischen Fallkonstellationen, Gefährdungslagen, Problembereichen, Informationsbedarfen und Anforderungen in der Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Erhoben wurden alle Kinderschutz- und Kinderschutzverdachtsfälle, die im Jahr 2008 begonnen wurden. Alle Fälle, unabhängig davon, ob das betroffene Kind einen Migrationshintergrund hatte oder nicht, wurden in die Stichprobe aufgenommen, um Vergleiche zu ermöglichen und die Aspekte herausarbeiten zu können, die auf allgemeine Herausforderungen im Kinderschutz verweisen und unabhängig vom Migrationshintergrund für die Fallarbeit von Relevanz sind.

Im Verlaufe des Sommers 2009 wurden an den Standorten alle Kinderschutzverdachtsfälle aus dem Jahr 2008 erhoben. Der Rücklauf aus den Standorten betrug insgesamt 759 Bögen, hiervon waren 718 verwertbar. Diese wurden mithilfe eines Datenanalyseprogramms detailliert ausgewertet, auch bezogen auf die einzelnen Standorte und deren Sozialräume, um diese vor Ort in den Projektgruppensitzungen an allen Standorten zur Diskussion stellen zu können. Im Sample hatten 52,4 % der Kinder und Jugendliche keinen Migrationshintergrund entgegen 47,6 % der Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Die detaillierten Ergebnisse der Zielgruppenanalyse liefern umfangreiche Informationen zur Umsetzung des Kinderschutzes durch die Jugendämter, speziell bei Familien mit Migrationshintergrund, und bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Fortentwicklung der Praxis. Bundesweit liegt damit erstmalig Datenmaterial vor, welches auf Verfahrensstandards in der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen verweist. Die Daten liefern hilfreiche und wichtige Erkenntnisse zur Verbesserung des Kinderschutzes sowie zur Präzisierung eines migrationssensiblen Vorgehens an den Modellstandorten und darüber hinaus für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Im Rahmen des erstellten Werkbuchs werden die Ergebnisse der Zielgruppenanalyse vorgestellt und diskutiert.

Zur Vertiefung und Validierung der in der Zielgruppenanalyse und den weiteren Recherchen gewonnenen Daten wurden als weiterer Untersuchungsschritt im Projekt im Jahr 2010 qualitative Einzelfallstudien durchgeführt. Diese dienten insbesondere dazu, die Perspektive der Familien in die Studie einzubeziehen und damit die Sichtweise der Fachkräfte – die über die Zielgruppenanalyse abgebildet wurde – zu komplementieren.

 

Auslandsrecherche Großbritannien

Vor dem Hintergrund einer langjährigen Auseinandersetzung mit spezifischen Anforderungen eines diversitätsbewussten Kinderschutzes, die auf zahlreichen Forschungsergebnissen zum Thema basiert, wurde im Rahmen des Projekts auch eine Auslandsrecherche zu Großbritannien durchgeführt. Ziel war es, Forschungsergebnisse und Erfahrungen, die in Großbritannien in der Umsetzung des Kinderschutzes bei Migranten gemacht wurden, auszuwerten und auf ihre Übertragbarkeit auf den deutschen Kontext hin zu prüfen. Die Ergebnisse der Recherche erscheinen als eigenständige Veröffentlichung (siehe Flyer unten - in Erstellung -). Der Text beleuchtet einige Aspekte, die interessante Anknüpfungspunkte bei der Umsetzung eines migrationssensiblen Kinderschutzes in Deutschland bieten.

 

Praxisentwicklung an den Standorten

In den Projektgruppen wurden zunächst die Ergebnisse der Zielgruppenanalyse differenziert in ihrer Bedeutung für den jeweiligen Standort ausgewertet. Darauf basierend wurden für jeden Standort spezifische mögliche Praxisentwicklungsthemen erarbeitet und in einer weiteren Sitzung vertieft diskutiert. Anschließend wurden gemeinsam die Maßnahmen zur Praxis- bzw. Infrastrukturentwicklung festgelegt. An jedem Standort wurden 2011 seitens des ism e.V. zwei Beratungstage durchgeführt, deren Ziele und Inhalte zuvor in den Projektgruppensitzungen erarbeitet wurden.

 

Fortbildungsreihe „Migrationssensibler Kinderschutz“

Basierend auf den Erfahrungen des Projekts erfolgte parallel zu den Auswertungen der empirischen Analysen die Konzeption der Fortbildungsreihe. Diese wurde an insgesamt vier Tagen in Mainz durchgeführt. Sie begann mit einem 2-tägigen Fortbildungsblock im November 2010, im Anschluss wurden zwei eintägige Seminare im Januar und März 2011 durchgeführt. TeilnehmerInnen der Fortbildung waren MitarbeiterInnen aus den einzelnen Projektstandorten. Gemeinsam mit diesen und den ProjektkoordinatorInnen wurde die Fortbildung evaluiert und durchgängig dokumentiert, um die Übertragbarkeit des Konzeptes zu gewährleisten.

 

Ergebnisbündelung, Erstellung eines Werbuches

Die zentralen Ergebnisse  des Projekts „Migrationssensibler Kinderschutz“ finden sich in der gleichnamigen Veröffentlichung. So bilden die Zielgruppenanalyse und Einzefallinterviews die Grundlage für die Kernbefunde aus dem Projekt. Aspekte, die im Rahmen der Praxisentwicklung von Relevanz waren, werden in den einzelnen Kapiteln im Kontext der Umsetzung von Migrationssensibilität im Kinderschutz aufgegriffen. Durch dieses mehrdimensionale Vorgehen soll auch das Werkbuch dem Charakter des Modellprojekts, empirische Grundlagen herauszuarbeiten und gleichzeitig einen Beitrag zur Praxisentwicklung zu leisten, gerecht werden.

Die ausführliche Projektkonzeption finden Sie hier, außerdem einen Flyer zum erstellten Werkbuch "Migrationssensibler kinderschutz", das die Projektergebnisse bündelt.