Adressat*innen der HzE während der Coronapandemie. Und danach?

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Längst ist die Metapher des „Brennglases Corona“ zur Chiffre geworden, um die Verstärkung sozialer Ungleichheit in Zeiten der Pandemie zu beschreiben, was sich in geschlechtsspezifischer Hinsicht auch in der soziologischen Diagnose der „Re-Traditionalisierung“ (Allmendinger 2022) ausdrückt. Die notwendige Eindämmung der Pandemie hat zu neuartigen und plötzlichen Einschnitten in soziale Beziehungen, Netzwerken sozialer Unterstützung und gesellschaftlichen Infrastrukturen geführt, die aber bestehende bekannte strukturelle Probleme und Mechanismen sozialer Ungleichheit verstärkt haben. Freilich, die Schutzmaßnahmen wurden auf Grundlage epidemiologischer Expertise und auf der Basis des Infektionsschutzes getroffen. Doch in der sozialpolitischen Ausgestaltung der Schutzmaßnahmen zeigte sich, wie „quasi-natürlich“ die bürgerliche, gut situierte Kernfamilie und damit einhergehenden Rückzugsmöglichkeiten in einen privaten Haushalt mit einer oftmals geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung stillschweigend zur politischen Leitfigur der Pandemiebewältigung wurde − und damit zur Voraussetzung, um einigermaßen „gut“ den veränderten Alltag in Zeiten der Pandemie bewältigen zu können. Im Schatten dessen sind die Lebensrealitäten des (institutionalisierten) Aufwachsens von jungen Menschen in öffentlicher Verantwortung außerhalb der sog. „Herkunftsfamilie“ in den Beschlüssen zu den Lockdowns, Hygienemaßnahmen und Pandemie-Schutzmaßnahmen nicht systematisch mit bedacht worden. Im folgenden Heft richten wir dieses „Brennglas“ auf das Handlungsfeld der Hilfen zur Erziehung und unternehmen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) den Versuch einer Befragung, Beleuchtung, Diskussion und zukunftsgerichteten Bilanzierung der Situation von jungen Menschen und Familien als Adressat* innen der Erziehungshilfen in Zeiten der Coronapandemie. Mit einem Forderungspapier des Bundesnetzwerks der Interessensvertretung junger Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe (BUNDI) kommt zum Ausdruck, dass und wie sich die sozialen und politischen Folgen einer Pandemie mit dem Aufwachsen von jungen Menschen in öffentlicher Verantwortung überlagern, die ohnehin schon häufig ein „Mehr“ an Herausforderungen zu bewältigen haben. Stefanie Krauter knüpft daran an und bebildert in ihrem Beitrag auf Basis einer Befragung der AGE Freiburg, wie Kinder und Jugendliche in stationären Hilfen ihr Aufwachsen während der Pandemie erlebt haben, was wie (anders) möglich war – und was vor allem auf keinen Fall mit Blick auf eine zukunftsfähige stationäre Kinder- und Jugendhilfe noch einmal passieren darf. Hartmut Rotermund fokussiert auf das Feld der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Sein Beitrag zeigt, wie sich die Anforderungen an Familien in schwierigen Lebenslagen in Zeiten der Pandemie verändert haben und wie dies in der Beziehung mit Fachkräften (neu) verhandelt wurde. Die vorläufigen Schlüsse, die die Leser*innen aufgrund dieses erfahrungsbasierten Intros ziehen können, erhärten sich durch den Beitrag von Heinz Müller dann auch empirisch. Er unternimmt eine breit angelegte Bündelung und Verdichtung von Studienergebnissen zum Wohlergehen, zum Alltag und zum Aufwachsen von jungen Menschen/Familien in der Pandemie und bilanziert, welche neuen und bestehenden Bedarfe in den Erziehungshilfen zu erwarten sind und was aus der Krise für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe sozialpolitisch und fachlich gelernt werden könnte. Diese empirische Zusammenschau der Folgen und Auswirkungen der Pandemie erfährt im Beitrag von Nicole von Langsdorff und Lisa Albrecht eine intersektionale Reflexion, insbesondere im Hinblick auf Geschlecht als Strukturkategorie und auf die Situation von Mädchen* und jungen Frauen* in ohnehin schwierigen Lebenslagen. Helen Ghebremicael und Benita Richter gehen im Anschluss auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ein und zeigt, wie die Pandemie bestehende Exklusionsmechanismen zulasten der jungen Menschen Familien verstärkt hat. Anhand von Studienergebnissen und Erfahrungsberichten aus der Arbeit der Lebenshilfe e.V. wird so abschließend einmal mehr sichtbar, was es zukünftig braucht, damit alle Kinder und Jugendliche sowie deren Angehörige eine verlässliche Unterstützung in Ausnahmezuständen erhalten.

Juliane Meinhold, Lisa Albrecht

Aus dem Inhalt

Bundesnetzwerk der Interessenvertretungen in der Kinder- und Jugendhilfe (BUNDI): „Wir brauchen eine Politik, die sich was traut! Es braucht auch in Coronazeiten endlich eine jugendgerechte Politik!“

Stefanie Krauter: „Das geht gar nicht und darf nicht noch einmal passieren!“ Junge Menschen aus stationären Wohngruppen erzählen von inakzeptablen Einschränkungen während der Pandemie

Hartmut Rotermund: Familien doppelt abgehängt: Anforderungen an die SPFH während und nach der Pandemie

Heinz Müller: Auswirkungen der Pandemie auf die Lebenssituation von jungen Menschen und Familien und Konsequenzen für die Hilfen zur Erziehung und die Kinder- und Jugendhilfe

Nicole von Langsdorff, Lisa Albrecht: Die Coronapandemie als Verstärker intersektionaler Benachteiligungen bei Mädchen* und jungen Frauen* in den Erziehungshilfen

Helen Ghebremicael, Benita Richter: Vergessen und allein gelassen? Kinder mit Behinderung und deren Angehörige in der
Pandemie

Julia Rohrbach, Stefan Eberitzsch, Samuel Keller: „Wie wir das sehen“. Beteiligungsanliegen und -erleben junger Menschen in stationären Erziehungshilfen

Anna-Sophia Brinkmann, Carolin Kirchhoff, Eva Christina Stuckstätte: Ich bin dann mal weg – aber wohin?

Themen
Preis
€10.00
Seiten
64
Erscheinungsjahr
2022
Ausgabe
5
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2022