Geschlecht

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Im Jahr 2010 konstatieren Bütow und Bitzan, dass eine dezidiert geschlechtsbezogene Perspektive in der Jugendhilfe rückläufig und die Geschlechterthematik eher ein „Luxus-Thema“ geworden sei (ebd.: 6), auch, da andere Themen wie Kinderschutz, Armutslagen oder Steuerung der HzE als drängender markiert werden. Dass eine solche Perspektive keineswegs verabschiedet werden kann und dass die Erziehungshilfen aufgrund ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Einbettung durchwoben sind von geschlechtsspezifischen Strukturen, Aspekten und Handlungsmustern – ob diese nun für die AkteurInnen bewusst und sichtbar sind, oder nicht-bewusst und unsichtbar wirken –, zeigt sich bereits auf der Ebene der Inanspruchnahme von Erziehungshilfen. Schon die Anlässe für HzE sind geschlechtsspezifisch grundiert: Während dies bei Mädchen im Wesentlichen familiale Problematiken, Beziehungskonflikte und selbstgefährdendes Verhalten sind, sind es Aggressivität, Gewaltinszenierungen und Schulproblematiken bei den Jungen (vgl. Hartwig 2008: 208). Mädchen sind in den HzE insgesamt unterrepräsentiert und werden seltener durch die HzE erreicht. Ihre Verteilung in den Hilfeformen fällt zudem sehr unterschiedlich aus: Mädchen erhalten frühzeitig stark eingreifende Hilfen (und insgesamt weniger Hilfen im Vorfeld), oft im Rahmen von akuten Kriseninterventionen. Bei den Inobhutnahmen 2011 werden vor allem bei den Jugendlichen weitaus höhere Fallzahlen bei den Mädchen als bei den Jungen ausgewiesen, die höchsten Fallzahlen liegen bei 14- und 15-jährigen Mädchen mit einem Anteil von 57 % (vgl. Pothmann 2012: 10). Mädchen und junge Frauen sind häufiger Selbstmelderinnen, und ihre Hilfen sind insgesamt kürzer. Innerhalb der Unterrepräsentanz wirkt ein Bedingungsverhältnis zwischen Geschlecht und Alter: Während Jungen sehr viel jünger in die HzE kommen, erhalten Mädchen in der Regel später als Jungen eine Hilfe. Während der Mädchenanteil mit zunehmendem Alter in den ambulanten Hilfen durchgängig abnimmt, steigt dieser Anteil in den stationären Hilfen (vgl. Fendrich/Pothmann 2006).

In den Anlässen für eine HzE spiegeln sich gleichzeitig die bis heute unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Bewältigungsmuster von Mädchen und Jungen in belastenden Lebenslagen, denn „das Bewältigungsverhalten in kritischen Lebenssituationen [ist] bei Männern mehr nach ‚außen‘, bei Frauen mehr nach ‚innen‘ gerichtet“ (Böhnisch/Funk 2002: 13): Während Jungen eher riskantes, aggressives Verhalten zeigen, das sozial, institutionell und öffentlich auffällig ist, sind die Bewältigungsmuster von Mädchen, wie z. B. autoaggressives Verhalten, Selbstverletzungen, Essstörungen oder innerer Rückzug, weniger sichtbar und bleiben eher verdeckt. Eine fehlende entsprechende Aufmerksamkeitsstruktur der Fachkräfte gilt als ein Einflussfaktor für die Unterrepräsentanz der Mädchen in den HzE, da die unauffälligeren Bewältigungsmuster und damit auch die sie auslösenden Problematiken nicht in den professionellen Blick geraten. Hinzu treten geschlechtsspezifische Zuschreibungsprozesse: Die Probleme und die Lebenssituation von Mädchen werden stärker als bei Jungen vor dem Hintergrund der familialen Bindungen betrachtet und interpretiert, Mädchen verbleiben bis zum Bezug einer HzE entsprechend auch länger in ihrer Familie als Jungen. Die Orientierung am familialen System – ein Aspekt der sog. „Familialisierung“ der HzE – kann so die Erkenntnis mädchenspezifischer Gefährdungen im familial-sozialen Nahraum und die recht- und frühzeitige Loslösung der Mädchen aus gewaltförmigen Beziehungen verhindern (vgl. Hartwig/Kriener 2007: 202 f.). Bei Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund potenzieren sich die hier aufgeführten Aspekte: Für sie existiert eine noch höhere Zugangsschwelle zu den HzE, obwohl sie bei den Schutzsuchenden überrepräsentiert sind – was auf ihre tatsächlichen Bedarfslagen hindeutet (vgl. ebd.: 205 f.).

 

Notwendigkeit geschlechtsbezogener Perspektiven

Schon diese Schlaglichter zeigen, dass eine geschlechtsbezogene Perspektive in den HzE keinesfalls hinfällig geworden ist. In Bezug auf den als Dreischritt im § 9 Abs. 3 SGB VIII festgeschriebenen Auftrag – Jugendhilfe hat bei der Ausgestaltung von Leistungen und der Erfüllung ihrer Aufgaben die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen und Jungen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen sowie die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu fördern – gibt es noch erhebliche Baustellen und deutliche Umsetzungsdefizite: Obwohl gerade Mädchen und jungen Frauen Zugänge zu wichtigen institutionellen Ressourcen und zu verfügbaren Räumen (im wörtlichen und übertragenen Sinne) in ihrem Lebensumfeld fehlen, erleben gerade sie eine deutliche Zugangsungerechtigkeit in den HzE. Dabei zielt der gesetzliche Auftrag, Benachteiligungen abzubauen, grundsätzlich auf beide Geschlechter, insofern sind auch die Jungen in den Blick zu nehmen. Aktuell erleben wir eine Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus durch den Diskurs um eine „neue Benachteiligung“ von Jungen und jungen Männern als die „Bildungsverlierer“ im deutschen Bildungssystem. Die nach außen gerichteten, „auffälligen“ Bewältigungsmuster verweisen darauf, dass es für Jungen nach wie vor legitimer ist, Probleme zu machen als Probleme zu haben. Eine geschlechtsbezogene Perspektive ist nötig, um die geschlechtsspezifischen Ausdrucksformen und die je eigenen Arten und Weisen der Mädchen und Jungen, Hilfe- und Unterstützungsbedarfe zu markieren, verstehen und entschlüsseln zu lernen. Entsprechend gilt es auch die Anstrengungen und Nöte wahrzunehmen, die aus den Anforderungen und Erwartungen der männlichen Sozialisation und der geschlechtlichen Identitätsfindung für Jungen resultieren sowie die (durchaus schon frühen) Erfahrungen des Scheiterns am tradierten Männlichkeitsideal, weil es für viele Jungen in der Realität unerreichbar und die Orientierung daran in schulischen und beruflichen Kontexten dysfunktional ist (vgl. Budde 2007: 18).

Auch auf der Ebene des Berufsfeldes selbst spielt der Geschlechteraspekt eine Rolle. Das Berufsfeld HzE ist durch eine horizontale wie vertikale Geschlechtersegregation und -hierarchie gekennzeichnet. HzE sind erstens ein Frauenberuf unter männlicher Leitung: Ende 2006 liegt der weibliche Personalanteil bei 70,3 %. Männer besetzen trotz ihres geringeren Personalanteils über die Hälfte der Leitungspositionen (55 %) in den Einrichtungen jenseits der Kindertageseinrichtungen (vgl. Fendrich u. a. 2006: 23). Während sich je nach Form – beratend, familienunterstützend, -ersetzend – keine Unterschiede in der Geschlechterverteilung finden lassen, steigt zweitens mit dem Alter der zu betreuenden jungen Menschen, dem Einflussgrad der Position und den organisationsbezogenen Anteilen des Arbeitsplatzes der Männeranteil (vgl. Fuchs-Rechlin/Schilling 2006: 3). Eine Sonderstellung in der Jugendhilfe hat der ASD als einziges männlich dominiertes Feld mit 71 % männlichem Personal und 75 % männlichen Jugendamtsleitungen. Die Zuweisung von Erziehungs- und Fürsorgetätigkeiten als „weibliche“ Tätigkeiten, die Unterstellung quasi naturhafter Qualifikation und besonderer Befähigung hierfür aufseiten von Mädchen und Frauen sowie die Nähe der beruflichen Tätigkeiten zur unbezahlten, häuslichen Arbeit hat auf gesellschaftlicher Ebene eine Abwertung und geringere Anerkennung der Berufstätigkeit zur Folge, die sich u. a. in den Vergütungsstrukturen zeigt sowie den Schwierigkeiten, Ausbildungs- und Professionalisierungsansprüche durchzusetzen (siehe etwa die Diskussionen um die Akademisierung der ErzieherInnenausbildung). Für junge Männer sind die gesellschaftlich und finanziell vermittelte Geringschätzung sozialer Berufe sowie das „Image“ der Tätigkeiten zentrale Gründe, diese zu meiden. Die Berufstätigkeiten sind für sie kaum mit ihren Männlichkeitsvorstellungen vereinbar (vgl. Budde u. a. 2009).

Eine Debatte zu den Fragen, wie sich die aufgezeigte Geschlechterverteilung in der Alltagspraxis der HzE auswirkt, welche Bedeutung männliche Betreuungs- und Bezugspersonen dort einnehmen (können und sollen), wie und welche Männlichkeit(en) in diesem Feld präsentiert werden soll(en) und wer – die Fachkraft selbst, die KollegInnen, die betreuten Jungen und/oder Mädchen – welche Erwartungen daran knüpfen (könnten), steht noch weitgehend aus. Klar ist jedoch, dass die Fachkräfte selbst ihren eigenen Anteil an der (Re-) Produktion tradierter Geschlechtervorstellungen haben, sowohl durch Erwartungszuschreibungen und/oder die eigene geschlechtliche Inszenierung. Entsprechend konstatiert Hartwig (2008: 201): „Pragmatisch lässt sich in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe aufzeigen, dass Frauen und Männer als sozialpädagogische Profis immer geschlechtsbezogen auf Mädchen und Jungen reagieren und Letztere dies im Sozialisationsprozess auch herausfordern, um ihre eigene (Geschlechts-)Identität herauszubilden.“ Die Zuweisung und die Darstellung des Geschlechts bleiben fundamentale Elemente der gesellschaftlichen Interaktionsordnung, auch in Erziehung und pädagogischer Förderung sowohl im familialen Kontext als auch im institutionellen der Kindertagesbetreuung, der Schule, der Jugendhilfe etc.

Dieser Umstand der Zuweisung und Darstellung ist auch insbesondere im Begriff „Gender“ aufgehoben. Für den Geschlechterdiskurs zentral bedeutsam war die in den 1970er-Jahren eingeführte Unterscheidung zwischen „Sex“ als physisch-biologischem Geschlecht und „Gender“ als sozialem, sozialisiertem Geschlecht. Durch diese Differenzierung konnten die Geschlechterrollen als Zuschreibungen, als soziale Konstruktionen thematisierbar gemacht werden und mussten nicht mehr als biologisch determinierte Zwangsgesetzmäßigkeiten erscheinen; geschlechtsspezifisch zugewiesene Fähigkeiten, Zuständigkeiten und Identitäten sowie Definitionen von weiblich und männlich ließen und lassen sich infrage stellen. Mit den Arbeiten von Judith Butler wurde schließlich die Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit an sich infrage gestellt bzw. diese als Konsequenz einer heterosexuell organisierten Gesellschaftsordnung verstanden (vgl. Soiland 2004: 98). In dieser Gesellschaftsordnung kommt gleichwohl dem „Doing Gender“, d. h. der individuellen Übernahme, Ausgestaltung und insbesondere Darstellung geschlechtsspezifischer Muster weiterhin eine fundamentale soziale und identitätsrelevante Bedeutung zu. Das Konzept „Doing Gender“ nimmt die sozialen Prozesse und performativen Akte in den Blick, in denen Geschlecht jeweils situativ von den Beteiligten hervorgebracht und reproduziert wird (vgl. Gildemeister 2008: 137).

In der Alltagspraxis der HzE würde es entsprechend darum gehen, das eigene professionelle „Doing Gender“ in Alltagssituationen zu erkennen und in seinen Wirkungen zu reflektieren. Als mögliche Umgangsweisen werden das „Undoing Gender“ und das „De-Gendering“ konzipiert. Elemente dabei sind die Bewusstwerdung über den Konstruktionscharakter der Geschlechterdifferenz und mit dem Geschlecht einhergehende stereotypisierende Wahrnehmungen und Bewertungen, um daran anschließend hierarchisierende Kategorisierungen und geschlechtsspezifische Zuweisungen, die mit Entwertung und Einengung gekoppelt sind, abzubauen und solchen Zuweisungen in konkreten Situationen und strukturell aktiv entgegenzutreten (vgl. Brückner 2008: 196). Gefragt werden kann dann bspw., inwiefern die Familienkonflikte, mit denen Familien im Rahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe zu kämpfen haben, auf Geschlechterkonstruktionen und -zuweisungen innerhalb der Paar-/ Elternbeziehung gründen. Hierzu gehört auch, die faktische oder inszenierte „Unsichtbarkeit“ der Väter vermehrt zu thematisieren und den Blick auf Möglichkeiten der Väterarbeit zu richten – und sich nicht allein auf die den Erwartungen der JugendhilfeakteurInnen in Bezug auf Problemwahrnehmung und Selbstreflexion scheinbar anschlussfähigere Kommunikation mit Müttern und Mädchen zu reduzieren (vgl. Hartwig/Kriener 2006: 129). Eine selbstkritische Bestandsaufnahme würde dann z. B. in den Blick nehmen, wenn Mädchen aufgrund eines ausgeprägteren Sozialverhaltens als „sozialer Schmierstoff“ in Wohngruppen genutzt werden und Jungen aus entsprechenden Verantwortlichkeiten entlassen werden oder dass etwa alltagspraktische Kompetenzen der Mädchen, die aus ihrer engeren Bindung an das häusliche Umfeld resultieren, in den HzE bestärkt und gerne genutzt werden, da Mädchen so einen großen Teil ihrer Verselbstständigung selbst leisten – ihre Probleme und Nöte hinter diesen institutionell gern gesehenen funktionalen Fähigkeiten aber vielleicht verdeckt und unbearbeitet bleiben (vgl. ebd. 2007: 205). Im Hinblick auf die heranwachsenden Jungen wären ihre „auffälligen“ Bewältigungsmuster nicht umstandslos zu tolerieren oder als nun mal „jungentypisch“ abzutun, sondern als Ausgangspunkt zu nehmen, um sich verstehend ihren Schwierigkeiten, Problemen, Bedürfnissen und auch Fähigkeiten zuzuwenden (vgl. Budde 2007: 32).

Um den Abbau von Benachteiligung und eine Gleichberechtigung (weiter) zu fördern, wäre eine ausreichende Geschlechtersensibilität und Genderkompetenz der Profession notwendig – basierend auf der grundsätzlichen Anerkennung, dass eine geschlechterbezogene Perspektive nach wie vor zentral bedeutsam ist. Ein Wissen um Geschlechterverhältnisse, um die Betroffenheit(en) beider Geschlechter und Fähigkeiten zur Umsetzung von geschlechtergerechten Bedingungen in Settings und Methoden bezieht sich dabei nicht nur auf die Arbeit mit den AdressatInnen. Dies umfasst auch die Personalsituation und Personalentwicklung sowie die organisatorischen Rahmenbedingungen (Zugänge zu sozialen Diensten, Informierung der Klientel, Beteiligungsmodi etc.) und die Verfahren, die zur Anwendung kommen. Verfahren werden häufig als „geschlechtsneutral“ verstanden – sind sie aber nicht, wie exemplarisch die Ausführungen von Hartwig und Kriener (2006) zu einer geschlechtergerechten Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII zeigen. So sind gewaltförmige oder missbrauchende Problemlagen von Mädchen im familialen Kontext in Gegenwart der Erziehungsberechtigten schlichtweg kaum thematisierbar, oder Fachkräfte nehmen bspw. eine geschlechtsspezifische Kommunikation insofern wahr, dass es ihnen leichter fällt, mit Mädchen und Müttern über Bedürfnisse und Wünsche zu kommunizieren – während für die Väter trotz ihrer Anwesenheit selten angemessene Wege gefunden werden, sie wirksam in die Kommunikation einzubeziehen (vgl. ebd.: 129).

Gleichwohl stellt sich die aktuelle Situation einer geschlechterbezogenen Perspektive als komplex dar: Denn Geschlecht lässt sich als zentrale Kategorie sozialer Ungleichheit kaum mehr isoliert betrachten, da sie sich in äußerst komplexer Weise verschränkt mit weiteren Kategorien wie Schicht/Klasse, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Alter u. Ä. Diese Komplexität greifen neuere Intersektionalitäts- und „Diversity“-Konzepte auf. Das Reden von Geschlecht beinhaltet zudem die Gefahr unzulässiger Homogenisierungen – auch wenn sich die Welten des Aufwachsens von Mädchen und Jungen bis heute unterscheiden und sich bspw. die Lebensthemen, mit denen sich junge Menschen in alltagsbegleitenden Hilfen auseinandersetzen, wie Herkunftsfamilie, eigene Identität oder Partnerschaften, durch geschlechtsspezifische Ausprägungen kennzeichnen (vgl. Braun 2006) – gibt es weder „die“ Mädchen, „die“ Jungen, noch „die“ Frauen und „die“ Männer. Neben dieser Komplexität ist die Situation zudem ambivalent: Es wird auch für eine „Ent-Dramatisierung“, d. h. gegen eine Überbetonung von Geschlecht plädiert. Denn es gilt zwar, die Bedeutung der Geschlechterdimension anzuerkennen, jedoch wird durch die Thematisierung von und Fokussierung auf Geschlecht gleichzeitig Geschlecht als differenzierende Kategorie immer wieder erneut bestärkt und das Denken in bipolaren Mustern von Weiblichkeit und Männlichkeit verfestigt. Das Erkennen, wann Thematisierungen von Geschlecht notwendig, relevant und bedeutsam sind, bildet entsprechend ein Element von Gender- und somit letztendlich professioneller Handlungskompetenz.

 

Fallstricke des Bezugs auf Gender

Der Begriff „Gender“ zielt, wie oben bereits beschrieben, auf die Thematisierung von Geschlechterrollen als Zuschreibungen und soziale Konstruktionen. In einer spezifischen Verkürzung kann die Idee des konstruierten Geschlechts Geschlechterdifferenzen individualisieren – und zwar dann, wenn Mechanismen der Exklusion, Nichtanerkennung und Unterdrückung als Frage und Folge von Geschlechtsidentitäten, wenn Dominanz- und Unterordnungsverhältnisse als Effekt des individuellen Doing Gender der Subjekte begriffen werden. Geschlechtszuschreibungen sind weder willkürliche Eigenschaften noch beliebig verwendbare Identitätsmuster, wie das Konzept Gender nahelegen könnte, sondern haben manifeste gesellschaftliche, sozialpolitische und ökonomische Funktionen. „Die Vorstellung, dass den Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern durch Dekonstruktion von ,Geschlechtskonstrukten‘ beizukommen wäre, verdeckt die politisch-ökonomischen Grundlagen dieses Geschlechterarrangements. An die Stelle politischer Aushandlungsprozesse, beispielsweise um die Verteilung der Ressourcen Zeit und Geld, setzt gender mit seiner spezifischen Problemdefinition individuelle Handlungsoptionen, die häufig gar nicht existieren. So appelliert die heute hoch gehaltene Frauenförderung an eine Selbstbestimmung möglicherweise auch dort, wo die äußeren Rahmenbedingungen deren Entfaltung kaum erlauben.“ (Soiland 2004: 101) Ein individualisierendes und unpolitisches Verständnis von Gender verdeckt strukturelle Zusammenhänge und erschwert die Thematisierung von gruppenbezogenen gemeinsamen Erfahrungen und Strukturen – und spielt dem aktuellen sozialpolitischen Aktivierungsparadigma in die Hand: Die im flexiblen, entgrenzten Kapitalismus normativ prägende neue Figur des oder der mit hoher Eigenverantwortung ausgestatteten „UnternehmerIn seiner/ihrer selbst“ (vgl. Flecker 1999: 6), die und der ihren/seinen Arbeits- sowie (dies gilt insbesondere für die „Unternehmerin“!) den privat-familialen Alltag unter Nutzung individueller Fähigkeiten und Kompetenzen selbst steuert und managt, wird für alle wirkmächtig. Indem Frauen zunehmend als (Arbeits-)Marktsubjekte auftreten (wollen und müssen), tritt die vormalige Geschlechterdifferenz in den Hintergrund gegenüber der Unterscheidung zwischen am Markt Erfolgreichen und Erfolglosen – ohne jedoch die geschlechtsspezifischen Auswirkungen der Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes zu thematisieren. „Gender“ kann schließlich zur Humankapitalressource für die Wirtschaft degenerieren, wobei sich entsprechend verwertbare Kompetenzen in Gender-Werkstätten, Gender-Trainings etc. angeeignet werden – insbesondere von Frauen: „Der willigen Frau steht denn auch ein beachtliches Set von Trainings zur Seite, das aus der ‚Chancengleichheit‘ ein ausschließlich an sie gerichtetes Bündel von Impulsen macht, die sie dazu befähigen sollen, von ihrer Freiheit vernünftigen Gebrauch zu machen.“ (Soiland 2004: 101) An der Geschlechterhierarchie ändert sich gleichwohl wenig, da sie weiterhin durch im Sozialisationsprozess reproduzierte geschlechtsspezifische Denk- und Handlungsmuster sowie die unterschiedliche materielle Einbindung der Geschlechter in den Reproduktionsprozess aufrechterhalten wird (vgl. Rentschler 2005: 87 f.). Verschiebungen weg von der Struktur hin zum einzelnen Subjekt in den Aktivierungspolitiken zeigen sich auch geschlechterbezogen, wie z. B. in Konzeptionen wie jener des „Girls Day“: statt etwas an den Strukturen in Schule und Bildungssystem zu verändern, sollen durch solche Maßnahmen Änderungen der individuellen Berufswahlentscheidung von Mädchen herbeigeführt werden (vgl. Bitzan/Bütow 2010: 7) – und seit 2011 ebenso beim „Boys Day“. Alle haben nunmehr ihr Leben mit allen Chancen, und insbesondere auch Risiken, individuell-biografisch im Horizont größtmöglicher Eigenverantwortlichkeit zu gestalten und zu bewältigen.

Legitimiert werden diese Verschiebungen u. a. durch den Mythos der gleichen Startchancen unabhängig vom Geschlecht sowie der Gleichberechtigung: Trotz beträchtlicher Veränderungen lassen sich widersprüchliche Tendenzen beobachten, wie bspw., dass sich für Mädchen und junge Frauen trotz guter Schulbildung oftmals hohe Hürden im dualen Ausbildungsmarkt stellen und nach wie vor wirksame weibliche Rollenzuschreibungen eine breite, erfolgreiche und längerfristige Verwertung ihres erreichten Bildungsvorsprungs verhindern. Zweitens finden wir bis heute konstante Tendenzen, wie bspw. die geschlechtsspezifische Entgeltlücke, dass die Vereinbarkeitsproblematik eine Frauenproblematik bleibt oder dass die unentgeltliche, private Reproduktions- und Familienarbeit auch in egalitär ausgerichteten Beziehungen im Wesentlichen nach wie vor von Frauen geleistet wird (vgl. Brückner 2008: 185; Allmendinger 2011). Zwar ist auf der Ebene der Identitäten und Lebensentwürfe das Mädchen- und Frau-Sein sowie Junge- und Mann-Sein vielfältiger (aus-) gestaltbar geworden, auf struktureller Ebene lässt sich bis dato jedoch nicht von Geschlechtergerechtigkeit sprechen. Die Faktoren der Ungleichheit bleiben verdeckt bestehen und zeigen sich meist erst im späteren Lebensverlauf; insbesondere bei Geburt eines Kindes. Eine hegemoniale Geschlechterordnung mit ökonomischer, politischer und sozialer männlicher (Vor-)Herrschaft bleibt wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Struktur (vgl. z. B. Brückner 2008: 186).

Auch wenn legitim ist, dass Mädchen heute teilweise die Etikettierung als Benachteiligte auch ablehnen und für sie spezifische Angebote infrage stellen und die aktuelle Thematisierung der Lebenssituationen von Jungen als positiv zu werten ist, geraten doch mädchenpolitische Anliegen im Fahrwasser der fiskalpolitischen Restriktionen durch schlichte Mittel- und Aufmerksamkeitsverschiebungen erneut in die Defensive. Dieser Konkurrenzdruck und die Förderung der Inszenierung von Bedürftigkeit – im Sinne von: wer bzw. welches der Geschlechter ist denn nun bedürftiger? (vgl. Bitzan/Bütow 2010: 5 f.) – ist unbedingt zu vermeiden; nicht zuletzt, da dies zu einer weiteren Entsolidarisierung der Geschlechter beiträgt. Für die eigenen Organisationen kann in den HzE schließlich die Strategie des Gender Mainstreamings, die eine systematische Berücksichtigung der Lebenssituationen von Frauen und Männern und ihrer Bedürfnisse auf allen Ebenen anvisiert, für gleichstellungsorientiertes Handeln genutzt werden. Die entscheidende Frage dabei dürfte sein, ob Menschen in diesem und anderen geschlechtsbezogenen Kontexten „zur Teilhabe an der Macht eingeladen“ sind (Soiland 2004: 104). Rhetorisch ist der Bezug auf Gender in der Jugendhilfe recht selbstverständlich, steht aber in Gefahr, lediglich Etikett einer „Political Correctness“ zu sein, wenn Genderfragen schnell durch „wichtigere“ Themen auf den Tagesordnungen nach unten oder ganz wegrutschen und die alltägliche Praxis vielerorts hinter den eigentlichen Ansprüchen zurückbleibt – auch wäre zu eruieren, inwiefern die Fachkräfte, darin auch die jüngere Generation, die Dimension Geschlecht überhaupt (noch) als relevant und Chancengleichheit als (sowieso) gegeben begreift.

Im Anschluss an Bitzan und Bütow (2010: 3) ist an ein Verständnis von Aktivierung zu erinnern, wie es zentraler Begriff in der Mädchenarbeit unter emanzipatorischen Gesichtspunkten war und ist: Dieses zielt auf die Schaffung und Förderung von Bedingungen, vorhandene Unterschiede, Kontinuitäten und eigene Bedürfnisse zu erkennen und sich dafür einzusetzen. Dies gilt für beide bzw. alle Geschlechter. In Bezug auf die Jungen können sich Ziele der HzE nicht nur auf eine Reduktion ihres Störverhaltens oder Zivilisierung ihres sozialen und institutionellen Verhaltens beziehen, sondern es müssen auch Familienkonstellationen und psychoemotionale Bedürfnisse der Jungen einbezogen werden – auch, um Voraussetzungen für ihre Bildungsteilhabe zu schaffen. Mädchen und Jungen brauchen verschiedenste Räume und Gelegenheitsstrukturen, sowohl geschlechtshomogene Settings, um ihre individuell-biografischen Geschichten auf einen potenziell kollektiven Zusammenhang hin reflektieren zu können und in ihren jeweiligen Bewältigungsmustern (besonders die Mädchen und jungen Frauen) „gesehen“ zu werden, als auch koedukative, geschlechtsheterogene Settings. In den HzE gilt es für die Fachkräfte, einen auch kritischen Blick beizubehalten bzw. zu reaktivieren auf die Institution Familie, als lokalisiert im Spannungsfeld zwischen Geborgenheit und Zuneigung sowie Willkür und ungeschützter Beziehung. Die starke Übernahme familialer Verantwortung und die Verstrickung in familiale Konflikte stellen für Mädchen und junge Frauen nach wie vor starke Belastungsmomente dar und erschweren die Entwicklung eines eigenen Lebensentwurfs (vgl. Schimpf 2007: 198 f.). Da Mädchen und junge Frauen häufig erst im jugendlichen Alter die familiale Loslösung wagen, kommen den Hilfen für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) hier auch eine besondere geschlechtsbezogene, jugendhilfepolitische Bedeutung zu. Für beide, für Mädchen und Jungen, sind alle gesellschaftlichen und fachlichen Spielräume auszuschöpfen, um Räume und Anforderungen zu schaffen, die ihnen eigenständige Entwicklungsmöglichkeiten im physischen, psychischen und kulturellen Sinne eröffnen, für Selbstständigkeit und Autonomie sowie für ein enthierarchisiertes und selbstbestimmtes Mädchen- und Junge-Sein. Es sollte deutlich geworden sein, dass das Geschlechterthema auch in den HzE bis heute alles andere als ein Luxus-Thema ist.

 

Literatur

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  • Böhnisch, L./Funk, H. (2002): Soziale Arbeit und Geschlecht. Weinheim u. a.
  • Braun, G. (2006): Wohnen, arbeiten – und noch mehr. Lebensthemen junger Menschen in alltagsbegleitenden Hilfen. In: Bitzan, M./Bolay, E./Thiersch, H. (Hg.): Die Stimme der Adressaten. Weinheim, S. 125–141.
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