Familialisierung

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Familialisierung meint die familienideologische Überfrachtung des Systems Familie in der Gesellschaft, verbunden mit einer Re-Privatisierung öffentlicher Aufgaben. In der Jugendhilfe konkretisiert sie sich in der Festschreibung tradierter Geschlechtsrollen und der vorrangigen Orientierung am System Familie anstelle am einzelnen Individuum.

 

Der Diskurs

Mit Einführung des SGB VIII und dem Wandel von der interventionsorientierten zur dienstleistungsorientierten Jugendhilfe wurde die bürgerliche (patriarchale) Kleinfamilie zum zentralen Erfolgsmodell für gelingendes Auswachsen von Kindern erkoren. Alle Leistungen der Jugendhilfe sind als familienberatende, -unterstützende und zumeist temporär-ersetzende bestimmt. Hier gilt es zu fragen, ob das Bild von Familie, an dem die meisten Leistungen ausgerichtet sind und die Realität der Familien, die Hilfen zur Erziehung erhalten, weit auseinanderklaffen. Des Weiteren trägt die Vielzahl neuer Lebensmodelle (wie z. B. gleichgeschlechtliche Paare mit Kind, Patchworkfamilien, Wohngemeinschaften mit Kindern) dazu bei, dass Leistungsbezieher (i. d. R. leibliche Mutter und/oder Vater) und reale Beziehungen und Beziehungsnetzwerke der Kinder weit auseinanderfallen können. Das Leben „elternreicher Kinder“ hat sich von der bürgerlichen Kleinfamilie entfernt, es ist bunter geworden und benötigt neu ausgerichtete Formen der Hilfe.

Ein zweiter Aspekt zur Begründung des Themas resultiert aus der zunehmenden „‚Ver-Öffentlichung‘ privater Zusammenhänge“ (Richter u. a. 2009: 1) in den letzten Jahren. Familie galt und gilt als Garant für Intimität, Schutz und Geborgenheit. Durch die zweite Frauenbewegung („Das Private ist politisch“) und zunehmend im Zuge der Diskussion um Vergewaltigung in der Ehe, Häusliche Gewalt und Kinderschutz wurde Familie auch als Gefahrenort wahrgenommen und in den öffentlichen Diskurs gebracht. Damit sind der Schutz von zumeist Frauen und Kindern nicht mehr nur ein privates, sondern aktuell auch ein öffentliches Thema. Der Zusammenhang von struktureller und personaler Gewalt ist damit in der Gesellschaft und in der Sozialen Arbeit angekommen. Es berechtigt zu der Frage, ob Familie die einzige Option für gelingendes Aufwachsen von Kindern ist.

 

Wie konkretisiert sich Familialisierung in der Jugendhilfe?

Familialisierung meint in der Jugendhilfe die vorrangige Ausrichtung am familialen System und nicht am Individuum. Diese Ausrichtung wird durch familienbezogene systemische Handlungskonzepte gestärkt. Familie ist die Keimzelle des Staates, sie ist Privileg und Norm: Vater, Mutter und zwei Kinder. Bei allen Veränderungen ist sie nach wie vor nach geschlechts- und generationshierarchischen Prinzipien organisiert, die die Abhängigkeit und Ausbeutung von Frauen und Kindern begünstigen. Sie ist an traditionellen Rollenbildern mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung orientiert, die eine Ursache für geschlechtshierarchische Strukturen darstellt. Pflege und Fürsorge für Kinder und ältere Menschen, für Kranke und Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen wird vorwiegend von Frauen in der Familie und im Erwerbsleben geleistet. Dieser gesellschaftlich expandierende Aufgabenbereich des Sorgens bedarf einer gesellschaftlichen Neuorganisation, nicht zuletzt, weil er ein zentrales Element der Verstetigung geschlechterhierarchischer Strukturen darstellt (vgl. Brückner 2009: 40 f.).

Die Geschlechterhierarchie in Familien wird wiederum durch eine Familienpolitik befördert, die in der Steuergesetzgebung (Ehegattensplitting), Sozialversicherung (Mitversicherung von Frauen in der Kranken- und Rentenkasse des abhängig beschäftigten Ehemannes) und schließlich die Auszahlung eines Betreuungsgeldes für Frauen, die ihr Kind nicht in Kindertagesbetreuung geben. Diese Anreize für eine traditionelle Rollenverteilung in Familien und eine unzureichende eigenständige Existenzsicherung für Frauen schaffen private Beziehungen in Abhängigkeit. Diese geben für Mädchen und Jungen eingeschränkte Geschlechtsrollenorientierung wieder.

Nun zeigt sich in der Jugendhilfe eine überproportionale Repräsentanz von Familien, die dem traditionellen Bild nicht entsprechen, die darüber hinaus in prekären ökonomischen Bedingungen leben und mit der Aufgabe, für ein gelingendes Aufwachsen ihrer Kinder zu sorgen, überfordert sind. Gerade an dieser Stelle ist es Aufgabe der Jugendhilfe, förderliche Sozialisationsbedingungen für Kinder bereitzustellen, die weniger an dem traditionellen Familienmodell anknüpfen, sondern vielmehr die Regeleinrichtungen, wie Kindertagesstätten, Schulen und Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit, unterstützen. Des Weiteren gilt es die Beziehungsfähigkeit und allgemein die Sozialkompetenz der einzelnen Familienmitglieder und hier insbesondere der alleinerziehenden Frauen zu stärken, damit sie Netzwerke im Sozialraum nutzen können und damit aus sozialer Isolation herauskommen.

Familie ist für Mädchen und Jungen Wunsch und Wirklichkeit: Einerseits träumen sie von einem Familienideal mit fürsorgenden Eltern – andererseits erleben sie ebenso Zwang und Abhängigkeit, Trennung der Eltern, Unterversorgung, „Erziehungsarmut“, soziale und ökonomische Ausgegrenztheit sowie unzureichende Anbindung ans Bildungssystem. Sie entwickeln in solchen Lebenssituationen eigenwillige (Über-)Lebensstrategien, die sie bisweilen vor weiterem Abgleiten schützen, sie aber andererseits unmittelbar in die Jugendhilfe „treiben“. Die Verarbeitungsformen von Notlagen in der Familie sind bei Mädchen und Jungen geschlechtsspezifisch geprägt, sie bedürfen einer geschlechtergerechten Hilfe(-planung) auch und gerade in der Erziehungshilfe (Hartwig/Kriener 2005; 2011). Da in der Hilfeplanung häufig nur die Mütter beteiligt sind, gehört die „Suche“ nach den abwesenden Vätern zu den vordringlichen Aufgaben, um sie in die Hilfeplanung einzubeziehen und als Ansprechpartner für ihre Töchter und Söhne zu gewinnen.

Nun ist es der Auftrag der Jugendhilfe, mit ihren Leistungen den spezifischen Sozialisationsanforderungen von Mädchen und Jungen gerecht zu werden (vgl. § 1 SGB VIII); d. h. bei sie beeinträchtigenden und diskriminierenden Bedingungen Abhilfe zu schaffen. Dies impliziert die Aufgabe, geschlechtsbezogenen Diskriminierungen entgegenzuwirken (vgl. § 9 Abs. 3 SGB VIII) und sollte das Ziel verfolgen, geschlechterdemokratische Strukturen zu entwickeln.

Aus Sicht der öffentlichen Träger ist die Familialisierung der Jugendhilfe kostengünstig, sie baut auf der unentgeltlichen Reproduktionsarbeit, die in der Regel von Frauen und Töchtern geleistet wird, auf. Sie baut ambulante Hilfen aus, die an ein Bild der sog. Normalfamilie anknüpfen, das der Realität von Familien, die Hilfen zur Erziehung erhalten, an vielen Punkten wenig entspricht. Sie schaut weniger auf eine Neuordnung familialer Verhältnisse als auf ein Training von mütterlichem Erziehungsverhalten und leistet damit einer Individualisierung von Problemlagen Vorschub. Der Zusammenhang von Häuslicher Gewalt und Gewalt im Geschlechterverhältnis, die Folgen von Flucht und Vertreibung und die damit einhergehende drohende Traumatisierung der Betroffenen, die fehlende Existenzsicherung und durchweg schlechtere Bezahlung von Frauen sind mit Erziehungsprogrammen nur schwer zu bekämpfen.

Alleinerziehende als Zielgruppe der Erzieherischen Hilfen sind zunächst Frauen, die auf dem Arbeitsmarkt und in der Betreuung ihrer Kinder vor deutlich größere Herausforderungen gestellt werden als Familien mit zwei Eltern. Hier geht es zunächst um strukturelle Verbesserungen in ihrer Lebenslage (Vernetzung im Sozialraum, Agentur für Arbeit, Frauenhaus usw.). Im Bereich der Erzieherischen Hilfen zeigt sich, dass knapp 40 % der neu begonnenen Hilfen für Kinder unter sechs Jahren Kinder aus Alleinerziehendenfamilien betrafen, obwohl nur 12 % aller Kinder bei Alleinerziehenden leben (Fendrich/Pothmann 2009: 166). Diese Zahlen deuten auf die überproportionale Belastung von Alleinerziehenden und die unzureichende soziale Infrastruktur hin. Sie zeigen darüber hinaus, dass die Ausrichtung am traditionellen Familienmodell zu kurz greift.

Bislang hat allerdings bei der Ausgestaltung der Jugendhilfe eine kritische Auseinandersetzung mit tradierten Geschlechtsrollen in Familien und Chancen zu ihrer Überwindung wenig Beachtung gefunden. Mit dem vielfältigen Ausbau der ambulanten und teilstationären Erzieherischen Hilfen, die ausschließlich am Einzelfall, an den leistungsberechtigten Eltern ausgerichtet sind, ist eine lebenslagenorientierte – auch geschlechtergerechte – strukturelle Verbesserung der Angebote für besonders belastete Klientel erschwert.

 

Fazit

Die bürgerliche Kleinfamilie entwickelt sich auch in prekären Lebensverhältnissen zur „bunten“ Familie. Diese Familien brauchen Hilfen, die am einzelnen Individuum ansetzen und Entwicklung befördern, indem sie vielfältige Erfahrungs- und Handlungsräume ermöglichen. Dazu können soziale Profis neue Geschlechtsrollenorientierungen anbieten und der Re-Privatisierung öffentlicher Aufgaben Einhalt gebieten, indem sie sich konsequent an der Verschränkung von Erzieherische Hilfen mit Regeleinrichtungen beteiligen. Schließlich können sie alternative Lebensformen konsequent in ihre Handlungsorientierungen aufnehmen. Kinder und Jugendliche können soziale Mütter und soziale Väter ebenso wie andere Bezugspersonen aus dem sozialen Umfeld als Vertrauenspersonen auswählen und in Hilfen einbinden. Für die Fachkräfte bedeutet dies Bildung und Bestärkung sozialer Kontakte im Umfeld von Mädchen und Jungen.

 

Literatur

  • Brückner, M. (2009): Die Sorge um die Familie – Care im Kontext Sozialer Arbeit und öffentlicher Wohlfahrt. In: Richter, M./Beckmann, C./Otto, H.-U./Schrödter, M. (Hg.): Neue Familialität als Herausforderung der Jugendhilfe. Neue Praxis, Sonderheft 9, S. 39–48.
  • Fendrich, S./Pothmann, J. (2009): Gefährdungslagen für Kleinkinder in der Familie und die Handlungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe im Spiegel der Statistik. Beckmann, C. u. a. (Hg.): Neue Familialität als Herausforderung der Jugendhilfe. Neue Praxis, Sonderheft 9, S. 160–171.
  • Hartwig, L./Kriener, M. (2005): Was hat „Gender“ mit Hilfeplanung zu tun? Perspektiven einer geschlechtergerechten Hilfeplanung. In: Sozialpädagogisches Institut im SOS Kinderdorf e.V. (Hg.): Hilfeplanung – reine Formsache? München, S. 178–200.
  • Hartwig, L./Kriener, M. (2011): Stichwort: Hilfen zur Erziehung. In: Ehlert, G./Funk, H./Stecklina, G. (Hg.): Wörterbuch Soziale Arbeit und Geschlecht. Weinheim und München, S. 199–202.
  • Hartwig, L. (2012): Familialisierung der Jugendhilfe betrifft Mädchen. In: Bütow, B./ Munsch, C. (Hg.): Soziale Arbeit und Geschlecht. Herausforderungen jenseits von Universalisierung und Essentialisierung. Münster, S. 261–277.
  • Richter, M./Beckmann, C./Otto, H.-U./Schrödter, M. (2009): Neue Familialität als Herausforderung der Jugendhilfe. In: Dies. (Hg.): Neue Familialität als Herausforderung der Jugendhilfe. Neue Praxis, Sonderheft 9, S. 1–15.

 

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