Interkulturelle Öffnung der Jugendhilfe
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Allen politischen Restriktionsbemühungen zum Trotz gehen alle Prognosen in die Richtung, dass es auch weiterhin eine stetige Zuwanderung geben wird. Zirka 9% der Gesamtbevölkerung in Deutschland sind Ausländer, das sind 7,4 Mio Menschen, von denen mehr als die Hälfte seit mehr als 10 Jahren in Deutschland leben. 4 Mio. Aussiedler erweitern die multikulturelle Grundfiguration der deutschen Gesellschaft. Der SPIEGEL (35/1999) berichtet von Berechnungen des Statistischen Landesamtes NRW, nach denen sich die Zahl der Ausländer in der Altersgruppe von 20 bis 40 Jahren in den Ballungszentren bereits in den nächsten 10 Jahren auf bis zu 50% erhöhen wird. In Duisburg beispielsweise von heute 18 auf 46 %, in Köln von heute 20% auf dann 43%. Bei den 6- bis 15-Jährigen beträgt der Anteil der ausländischen Kinder in Deutschland heute 12,1 %, bei den 15- bis 20-Jährigen 13,5 %. Die jungen Menschen sind innerhalb der ausländischen Population in Deutschland überproportional stark vertreten: sie stellen fast ein Fünftel der Ausländer in Deutschland, während die jungen Deutschen nur noch 15% der Deutschen ausmachen.
Diesen Realitäten steht auch die Kinder- und Jugendhilfe ähnlich wie andere gesellschaftliche Teilsysteme bisher nur unzureichend gerüstet gegenüber. Und zwar sowohl im Hinblick auf die Bildungs- und Unterstützungsbedarfe von jungen Migrantlnnen wie auch im Hinblick auf Konzepte und Praktiken interkultureller und antirassistischer Erziehung generell. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht hat deutlich herausgestrichen: "In der Fremdenfeindlichkeit, die sich insbesondere als Türkenfeindlichkeit äußert, und den (verständlichen) Reaktionen der Zugewanderten liegt zur Zeit die größte Gefahr für die moderne Gesellschaft. Erziehung und Bildung muss in ganz anderer Intensität als bisher für ein Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft vorbereiten ( ... ) Es reicht nicht, die Überlegungen auf 258 die offen zutage tretende Fremdenfeindlichkeit im Jugendalter zu beschränken."
Die Herausforderungen, die sich hieraus für die Kinder- und Jugendhilfe ergeben, haben wir zum Schwerpunktthema dieses Heftes gemacht.
Ursula Boos-Nünning, Mitglied der Berichtskommission für den 10. Kinder- und Jugendbericht, beschreibt in einem ersten Teil einige Aspekte der Lebenssituation der Kinder mit Migrationshintergrund: die Rechte der Zugewanderten, deren materielle Lage, das Verhältnis von deutschen Kindern und Kindern ausländischer Herkunft und Beispiele für die Repräsentanz in Institutionen. In einem zweiten Teil wird die - leider bisher unzureichende - Antwort der Pädagogik dargestellt. Der Beitrag endet mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der interkulturellen Qualifizierung des Fachpersonals. Diesen Faden greift Rita Bünemann de Falcón auf und stellt drei Bausteine eines Lehrgangs zum Aufbau interkultureller Kompetenz vor. Die Bausteine, die aus Theoriearbeit und Praxiserfahrungen insbesondere auch im Rahmen von Supervisionen entwickelt wurden, beziehen sich auf die notwendigen persönlichen Qualifikationen, die Teamebene und die Ebene der Strukturen und Organisationen. Astrid Butz und Marion Lusar reflektieren die Erfahrungen des Vereins Feministische Mädchenarbeit e. V., der das Beratungs- und. Betreuungsangebot des Mädchenhauses Frankfurt/M. aufgebaut hat, das zu ca. 50% von Mädchen nicht-deutscher Nationalität in Anspruch genommen wird. Sie schildern Anforderungen an Kompetenzen und Strukturbedingungen für eine interkulturelle feministische Arbeit ebenso wie Problempunkte und Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieser Anforderungen. Außerdem informieren wir über das neue Staatsangehörigkeitsrecht und die beabsichtigte Neuregelung der Sprachförderung für Migrantlnnen.
Wir hoffen, mit diesem Heft die vom 10. Kinder- und Jugendbericht zurecht angemahnte überfällige Diskussion über interkulturelle Erziehung im Einwanderungsland Deutschland voranzubringen.
Norbert Struck