Jugendhilfe Ost
Ist es zulässig und sinnvoll, ein Themenheft zu diesem Thema zu machen? Müssten wir – annähernd zwölf Jahre nach „Beitritt“ der DDR – nicht auch in der Jugendhilfe allenfalls auf regionale Unterschiede achten, wie sie es eben auch zwischen Niederbayern und Hamburg gibt? Diese Lesart wird übrigens auch im Elften Jugendbericht nahe gelegt. Und richtig an einer solchen regionalspezifischen Blickrichtung ist, dass es zwischenzeitlich einzelne boom towns im Osten gibt, die besser dastehen als manche westdeutsche Regionen. Dennoch: Die strukturellen Rahmenbedingungen, unter denen Jugendhilfe zu erfolgen hat, unterscheiden sich u.E. auch heute noch ebenso erheblich zwischen den alten und neuen Ländern wie die Qualifikationsstrukturen der Fachkräfte. Es schien uns daher angebracht, den Blick bilanzierend auf die neuen Bundesländer zu lenken: Was wurde in den zwölf Jahren aufgebaut? Unter welchen Rahmenbedingungen arbeiten Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen in den neuen Bundesländern?
Bei der Konzeption dieses Themas wurden die damit verbunden Schwierigkeiten rasch deutlich. Fragen nach dem Umgang mit Rechtsextremismus, nach dem Geburtenrückgang und dem Wegzug aus den Städten sowie nach dem Stand der Professionalisierung drängten sich in der Vordergrund. Die Frage nach der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern stellte sich zunächst wie so oft ausschließlich unter dem Blickwinkel einer „nachholenden Modernisierung“, d.h. sie wurde an den Standards westdeutscher Kinder- und Jugendhilfe gemessen. Ein solcher Blick von außen tendiert dazu, eigene Erfahrungen als Maßstab zu nehmen und die Eigenheiten der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern aus dem Blick zu verlieren. Um dem entgegenzuwirken haben in diesem Heft KollegInnen aus den neuen Bundesländern (allesamt „gelernte DDR-BürgerInnen“) das Wort, um die Kinder- und Jugendhilfe aus ihrer Sichtweise und aufgrund ihrer persönlichen biografischen Erfahrungen zu schildern. Wir haben Autoren und Autorinnen angefragt, welche die Jugendhilfe aus der DDR kannten und sich seit der Zeit der Wende an ihrem Neuaufbau engagierten. Die Erfahrungen aus dieser Zeit des Umbruches haben die Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern maßgeblich geprägt, durch die damals entstandenen Ideen und Konzepte und durch die Menschen, die sich engagierten und vielfach heute in wichtigen Positionen Verantwortung übernehmen.
Doris Scheele gibt in ihrem einleitenden Beitrag am Beispiel des Landes Brandenburg einen Überblick über die dortige Entwicklung der Jugendhilfe mit besonderer Berücksichtigung der Erziehungshilfen. Als besondere Herausforderung wird von ihr die Entwicklung einer neuen Fachlichkeit benannt, die statt auf obrigkeitlichen Eingriff auf Partnerschaftlichkeit, Beteiligung und Ernstnehmen setzt. Diese fachliche und mentalitäre Herausforderung wird auch in den anderen Berichten thematisiert und, so können wir westlich Sozialisierte hinzufügen, stellt auch im Westen nach wie vor eine Herausforderung dar.
Ergänzt wird der Überblick durch einen „Statistikblock“, der über die quantitative Inanspruchnahme der Hilfen zur Erziehung in den neuen Bundesländern informiert; diesen hat freundlicherweise Matthias Schilling von der Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik zusammengestellt.
In den folgenden drei Artikeln – zwei Gesprächen, die Chantal Munsch mit Ines Becker, Ines Pokern, Angela Schlott und Andreas Spohn führte, und einem Beitrag von Bernhard Maier – wird mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen die Entwicklung der Jugendhilfe aus subjektiver Sicht resümiert. Deutlich wird in allen Berichten, dass die Konzepte der Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern entstanden vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Jugendhilfe der DDR und in Auseinandersetzung mit den Gesetzen, Konzepten und praktischen Beispielen in den alten Bundesländern. Diese Konzepte mussten nicht nur in der Zeit der Wende, sie müssen auch heute noch angewendet werden auf die eigene Situation in den neuen Bundesländern. Sie entstanden zum einen in einer Situation, in der neue Einrichtungen nach den vorhandenen Bedarfen und nach eigenen Ansprüchen aufgebaut werden konnten, da bestimmte Hilfeformen wie z.B. ambulante Erziehungshilfen in der DDR nicht vorhanden waren. Sie entstanden zum anderen in der mühsamen Umstrukturierung vorhandener Angebote, insbesondere großer Heime, deren Maßstäbe nach der Wende plötzlich nicht mehr galten.
Sie müssen Aufwachsenden und Eltern Halt bieten in einer Zeit, die nicht nur von Massenarbeitslosigkeit und damit verbundenen Existenzängsten geprägt, sondern auch mit der Unsicherheit verbunden ist, wie man Kinder und Jugendliche heute auf ein Leben vorbereiten soll, dessen Prinzipien man selber z.T. noch nicht richtig verstanden hat. Dabei handelt die Kinder- und Jugendhilfe in den neuen Bundesländern jedoch nicht nur in einer durch Anpassungsschwierigkeiten, sondern auch in einer durch fünfzig Jahre Sozialismus gekennzeichneten Gesellschaft, in der eigene Ressourcen, wie z.B. ein starker familiärer Zusammenhalt, eine Tradition guter fachlicher Kooperation über Disziplingrenzen hinweg und eine funktionierende Infrastruktur an Kindertageseinrichtungen erhalten werden konnten.
Chantal Munsch, Wolfgang Trede
Aus dem Inhalt
Friedhelm Peters:
"Fachlich regulierter Wettbewerb" als Zukunftszenarium? Zum Elften Jugendbericht
Doris Scheele:
Die Entwichlung der Jugendhilfe/Hilfen zur Erziehung in Brandenburg - Impressionen und Bilanzen
Chantal Munsch im Gespräch mit Ines Pokern, Ines Becker und Angela Schlott:
Der Aufbau ambulanter, flexibler Erziehungshilfen und von Mädchenarbeit im Dresdener Stadtteil Plauen
Matthias Schilling:
Zur statistischen Entwicklung der Hilfen zur Erziehung in den neuen Bundesländern
Chantal Munsch:
Ein neues Gesetz – eine neue Haltung Über den Wandel der Heimerziehung und der Mitbestimmung der Klienten - Ein Interview mit Andreas Spohn
Bernhard Maier:
Zwischen den (Erziehungshilfe-)Welten
Friedhelm Peters:
Die „Children`s Welfare Association of Victoria Inc.“, Melbourne
Elisabeth Rickal, Barbara Aßmann:
Stellungnahme der Träger der Kinderschutzdienste in Rheinland-Pfalz zum Artikel von Katharina Klees „Die kindzentrierte Hilfeplanung der Kinderschutzdienste“ in Forum Erziehungshilfen 1/2002
Katharina Klees:
Antwort auf die Replik der Träger der Kinderschutzdienste
Hans Thiersch:
Ressourcen und Probleme in der Lebenswelt B Fragen zu flexiblen und integrierten Hilfen
Peter Gizzi:
„Das können Sie doch mir und meiner Familie nicht zumuten“ – Probleme von Erziehungswohngruppen und wie sie gelöst werden können