Professionelle Haltung
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Es ist nicht gerade in Mode, in der Sozialen Arbeit über Haltungen zu sprechen. Worin hierfür die Ursachen zu suchen sind, bleibt unklar. Bisweilen wird vermutet, dass es vor allem die Profession selbst ist, die wegen eines vermuteten Technologiedefizits ein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber anderen Professionen hat. Thiersch spricht in diesem Zusammenhang von „Verzwergung“. Auch wird insbesondere in den letzten Jahren davon ausgegangen, dass Soziale Arbeit verstärkt den Nachweis ihrer Effizienz erbringen möge, um so nicht nur den Beweis ihrer Nützlichkeit, sondern auch ihrer konkreten Wirkung im Sinne einer Ursachen-Wirkung-Verbindung zu erbringen, was allgemein Voraussetzung ist, überhaupt als Profession anerkannt zu sein. Dass dies mit einer aus der Sicht der sozialen Arbeit unzulässigen Komplexitätsreduzierung einhergeht und dass die Dimensionalität einer solchen Herangehensweise gerade im Bereich sozialarbeiterischen Handelns als geradezu trivial bezeichnet werden muss, stört dabei nicht. Fakt ist, dass der interne und externe Zweifel ob des Nachweises tatsächlicher Professionalität verhindert, so etwas wie eine Klarheit in der Haltung der handelnden Personen hervorzubringen.
Das war in Zeiten anders, da sozial-verantwortliches Handeln noch als mitmenschliches, sorgendes, helfendes Geschehen gesehen wurde. Haltung war in diesen Zusammenhängen eben an der mitmenschlichen Zuwendung zum anderen, zu dem, der in Not geraten ist, der auf Hilfe angewiesen ist, zu messen. Haltung hieß hier, sich wirklich zuzuwenden, sich aufzuopfern, sich verantwortlich einzubringen. Meist im Kontext zu religiösen Vorbildern und entsprechenden Verhaltensmustern. Mit der Entwicklung einer tatsächlich professionellen Selbstbeschreibung ab Beginn des vergangenen Jahrhunderts und der in dieser Hinsicht konsequenten Richtungsänderung seit dem KJHG ist das entstandene Vakuum, was das Selbstverständnis der Profession anbetrifft, nicht gefüllt worden.
Allerdings ist auf der anderen Seite eine deutliche Zunahme an professionellem Wissen, an Methodenwissen und professioneller Kompetenz im beruflichen Feld zu beobachten. Die am Geschehen beteiligten Fachleute verfügen über für die Profession typisches, nach anderen Professionen abgegrenztes Wissen.
Schwieriger ist es hingegen im Hinblick der Auftragsgestaltung der damit verbundenen Akzeptanz in der Gesellschaft. Zwar wurde akzeptiert, dass die Soziale Arbeit und damit auch die Jugendhilfe erheblich expandierte, dass die Anzahl von im Berufsfeld tätigen Personen und die Aufgabenfelder selbst deutlich zugenommen haben, dennoch bleibt die Aufgabenzuweisung offen und blass (?). Andererseits erscheint die Soziale Arbeit, was die Aufgabenzuweisung anbetrifft, nicht selten als überfrachtet, überfordert und hilflos, so dass der Eindruck entsteht, dass die Profession für alles zuständig ist und gleichzeitig für nichts. Gerade diese Umstände wirken auch nach innen hin irritierend. Die Fachkräfte können nicht erkennen, was ihre Profession bewirken soll und was sie bewirken kann. Es fehlt an Maßstäben, anhand deren man belegen könnte, was die Profession leistet. Das wiederum wirft die Frage auf, was die beteiligten Profis an Haltung entwickeln könnten und sollten. Oder anders formuliert, es ist unklar, was es an Haltung gegenüber wem, gegenüber was geben könnte.
Haltungen konkret
Grundsätzlich könnte vielleicht konstatiert werden, dass es Selbstbezüge gibt, die auch als Haltungen beschrieben werden können – z. B., was die Erzeugung, Entwicklung und Aneignung professionellen Wissens anbetrifft. Haltung kann auch heißen, das Geschehen und den Ort bewusst wahrzunehmen und im Sinne von z. B. Erziehung oder auch Förderung zu nutzen. Haltung könnte man ganz im Sinne von Winkler (Winkler 2006: 165 ff.) als ein Interesse an dem anderen und seiner Lage beschreiben. Interesse an dessen Leben, dessen Bildung, dessen sozialer Lage, dessen Förderung. Man könnte im Zusammenhang mit sozialer Arbeit vielleicht auch von einer solidarischen Haltung sprechen.
Dabei kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel, der mit dem politischen Begriff Demokratie zu tun hat. Sozialpädagogische Haltung bedeutet einen grundsätzlich demokratischen Habitus zu verfolgen (Dewey 2000: 113 ff.). Betreute Menschen sollen in ihrer Freiheit, in ihrer Selbstständigkeit unterstützt und nicht (wie das insbesondere Institutionen nicht selten tun) zur Abhängigkeit gezwungen werden, was in der Folge Unmündigkeit und Unselbstständigkeit erzeugt.
Die eigentliche Schwierigkeit im Hinblick auf professionelle Haltungen liegt im problematischen Verhältnis von aktueller Sozialarbeit und ihren historischen Bezügen. Bezieht sich die Sozialpädagogik auf Klassiker, so wird deutlich, dass sich die Wissenszusammenhänge von damals nicht mehr so einfach auf das Heute übertragen lassen (Kraft 2009: 266 ff.). Soziale Arbeit ist faktisch gezwungen, ihre methodischen Arbeitsansätze, ihre Strategien usw. immer wieder neu zu erfinden. Was nicht heißt, dass nicht auch Elemente aus vorangegangenen Zeiten Eingang in aktuelle Konzepte finden. Von daher ist es schwer, sich auf Klassiker zu beziehen.
Aber das stimmt wiederum nicht ganz. Denn es gibt durchaus universelle Positionen, die man wiederum als Haltungen bezeichnen kann. Beispielhaft sei hier auf Korczak verwiesen. Seine grundsätzlich demokratische Position gegenüber den ihm im Sinne von Heimbetreuung zugewiesenen Kindern kann als eine allgemeingültige Haltung bezeichnet werden, die nicht als Handlungsmuster, sondern eben als professionelle Haltung bezeichnet werden kann. Wie sich diese Haltung in Konzepten und Methoden niederschlug, ist in Korczaks Werken zu lesen. Zum Beispiel in den Paragraphen des „Strafgesetzbuches“ des Kindergerichts seiner Heime oder in der Gestaltung des Kinderheims an sich, was beispielhaft in der Selbstverwaltung deutlich wird (Korczak 2001: 70 f.).
Wofür professionelle sozialpädagogische Haltungen?
Sozialpädagogisches Handeln muss also grundsätzlich immer wieder neu entwickelt und „erfunden“ werden. Zwar wurden insbesondere in den Jahren seit der Einführung des SGB VIII eine ganze Reihe neuer methodischer Arbeitsansätze entwickelt, die im verallgemeinerten Sinne ihre Anwendung finden, dennoch ist der erzieherische Alltag und die Gestaltung von Hilfe in der sozialen Arbeit so kompliziert und vielschichtig, dass Kreativität und Offenheit die Grundvoraussetzung gelingenden, professionellen Handelns ist. Und weil pädagogisches Handeln in Feldern der Sozialen Arbeit nicht durch lineare Handlungsvorschriften beschrieben werden, steht es immer in Wechselwirkungen zu den grundlegenden Haltungen der handelnden Akteure und Institutionen, sind grundlegende Haltungen der professionellen Akteure von maßgeblicher Bedeutung. Haltungen, Überzeugungen und Deutungsmuster strukturieren die Wahrnehmungsprozesse und bieten Orientierung für professionelle Suchbewegungen. Allerdings benötigen Haltungen reflexive und selbstreflexive Elemente, durch die der Handelnde in die Lage kommt, die Besonderheiten im Einzelfall zu berücksichtigen und komplexe Eindrücke immer wieder neu zu interpretieren. Haltungen kennzeichnen die Grundphilosophie und allgemeine handlungsleitende Prinzipien, die die Basis der flexiblen Entscheidungen im Einzelfall bilden können und den Suchbewegungen der Professionellen eine Richtung geben sollen (vgl. Wolff 2012).
Nicht nur Individuen handeln im Rahmen ihrer Haltungen, Deutungsmuster und Überzeugungen, sondern auch Institutionen orientieren sich an Werten und Traditionen, denen sie sich verpflichten. In Haltungen werden sowohl grundsätzliche Philosophien (z. B. solidarische Zuwendung) als auch spezifische Selbstverständnisse deutlich (z. B. Partizipation von Kindern) (Krause/ Peters 2009: 53 ff.).
Haltungen sind Scheidepunkte
Gerade in den aktuellen Diskursen wird deutlich, welch enorme Bedeutungen professionelle Haltungen haben. Die Wirksamkeitsdebatte beispielsweise fordert dazu auf, pädagogisches oder sozialpädagogisches Handeln in seinen Wirkungen zu untersuchen, um festzustellen, ob bestimmte pädagogische Handlungen bestimmte Wirkungen erzielen. In der Folge wird nach der Verallgemeinerbarkeit von pädagogischen Strategien gefragt, die mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit zu Erfolgen führt. Die bislang in der Profession als gesichert geltende Position, dass pädagogisches Handeln auf eine so hochgradig komplexe Welt trifft, dass Handeln zwar erfolgreich sein kann und dass bestimmte Bedingungen und auch Verfahren die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, dass es Erfolge gibt, dass dies aber eben keine verallgemeinerbaren Handlungsmuster ermöglicht, welche man eben nur anzuwenden braucht. Hingegen suggeriert die Position der wirksamkeitsorientierten Pädagogik, dass es vor allem Handwerkszeug ist, was nur angewandt werden muss, damit sich Familien so und so entwickeln und sich das Verhalten eines Kindes zum besseren entwickelt. Fachkräfte, die dieser Position folgen, werden die Haltung entwickeln, dass die betroffenen Familien oder einzelnen Personen Objekte ihres Handelns sind, die es zu bearbeiten gilt. Eine fatale Entwicklung, die mit den komplizierten Zusammenhängen menschlichen sozialen Lebens nichts zu tun hat (Krause/Wolff 2005: 44 ff.).
Ein weiterer problematischer Prozess in der Entwicklung schwieriger Haltungen bei Fachkräften ist im Hinblick auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu beobachten, die als „besonders schwierig“ beschrieben werden. Gemeint ist insbesondere die „Geschlossene Unterbringung“. Kinder oder Jugendliche de facto unter Bedingungen innerer und äußerer Geschlossenheit zu betreuen, erzeugt – was Haltungen betrifft – eine doppelte Falle. Zum einen gehen die Fachkräfte davon aus, dass das Geschehen unter derlei Bedingungen normale Anlässe und Zusammenhänge hätte. (Wie z. B. auch Beziehungen zwischen sich und den betreuten Kindern.) Das ist aber nicht der Fall. Zum anderen zwingt Geschlossenheit in pädagogischen Zusammenhängen zu einer Objektposition zwischen Betreuten und Betreuern. Und drittens entsteht bei den Fachkräften ein Gefühl der trivialen Machbarkeit von Pädagogik. Was wiederum die Haltung hervorruft, dass Macht und Struktur sinnvolle Voraussetzungen für Erfolge sind.
Aber auch die Spezialisierungstendenz in der Jugendhilfe erweist sich, was die Entwicklung von bestimmten professionellen Haltungen anbetrifft, als problematisch. Die Tendenz, für jedes wie auch immer beschriebene Problem eine Spezialeinrichtung zu entwickeln und Kinder dort gezielt zu behandeln, entstammt dem Gesundheitswesen. Die dort möglicherweise durchaus nachvollziehbaren Kategorisierungen nach Symptomen und Krankheiten und den entsprechenden Abteilungen, Spezialisten und Medikamenten erscheint bis zu einem gewissen Grad logisch. In der sozialen Arbeit hingegen erweist sich diese Spezialisierungsidee als fragwürdig. Kindliche Entwicklungen verlaufen so komplex und widersprüchlich, dass eine Symptomzuordnung praktisch unmöglich ist. Schließlich kann niemand eindeutig erklären, was ein „Schulverweigerer“ ist und welche Ursachen und Wirkungen dazu geführt haben, weshalb ein Kind tage- oder wochenlang nicht zu Schule gehen will oder gehen kann. Die Idee, nun mit speziellen Projekten, Orten, Methoden zu antworten, suggeriert bei den Professionellen eine Haltung, die der eines ärztlichen Experten nahekommt. Er sieht das Kind als Patient und will es behandeln. Es kommt sozusagen zu einer Art technokratischem Verständnis von sozialer Arbeit. Man verzichtet auf Haltung, weil das Thema scheinbar „wegrationalisiert“ werden kann. Dass Erziehung oder auch Sozialpädagogik z. B. immer auch etwas mit Beziehungen zu tun hat, kann in diesem Bild von Haltung keinen Platz einnehmen.
Diese drei Beispiele belegen die Annahme, dass sich auch aktuell Scheidepunkte ergeben, an denen Professionelle sich sozusagen entscheiden müssen, entweder eine demokratische, auf Freiheit und Selbstbestimmung setzende Haltung zu entwickeln und damit die eigene pädagogische Praxis zu gestalten oder auf Macht und vorgegebene Struktur zu setzen. Oder auch, dass man nach gesicherten Mustern sucht und diese permanent anwendet, so dass die Folge ist, dass alle Kinder, die unter diesen Bedingungen nicht erfolgreich sind, aussortiert werden. Oder aber, dass sie davon ausgehen, dass jeder „Fall“ anders ist, andere Fragen stellt und andere Antworten braucht. Die pädagogische Fachkraft muss entscheiden, ob sie eine Haltung einnimmt, dass sich der Ort, an dem ein Kind betreut wird, ändern muss oder das Kind eben nicht passt und deshalb aussortiert werden muss.
Zusammenfassend könnte man sagen, dass sich gerade gegenwärtig und im Zuge der Kinderschutzdebatten wie auch der Diskurse über gezielte Wirkungen ein Kreuzweg auftut. Entweder soll Soziale Arbeit stärker eingreifen und kontrollieren oder aber die betroffenen Menschen solidarisch unterstützen. Wo die Reise hingeht, wird sich zeigen.
Haltung lernbar?
Fachkräfte kommen in die Praxis mit ihren eigenen Sichtweisen, Erfahrungen und Haltungen. Im besten Falle sind diese, so wie oben geschrieben, auf die Basis von Demokratie, solidarischer Zuwendung, Interesse am anderen, positivem Interesse an neuem Wissen gestellt. Und noch besser, wenn die Institution, in welcher die neue Fachkraft ihre berufliche Laufbahn beginnt, diese Haltungen unterstützt, in Form von Wertorientierungen, Regeln und Methoden selbst gestaltet.
Mit Blick auf Aus- und Weiterbildung im Bereich der sozialen Arbeit stellt sich somit auch die Frage nach der Vermittelbarkeit von Haltung.
Haltungen setzen sich zusammen aus dem persönlichen Menschenbild, der gültigen Ethik und Moral sowie den Erfahrungsaufschichtungen der bisherigen Biografie. Eine professionelle Haltung muss dabei anhängig sein von der individuellen und berufsbiografischen Entwicklung. Sie lässt sich entwickeln in den Grenzen von institutionell vereinbarten und gesellschaftlich verbindlichen Werten (z. B. Leitbildern und Gesetzen).
Die veränderten Ausbildungsbedingungen (Bachelor-Studiengänge) lassen den Studierenden nur wenig Zeit zum Ausprobieren, zum Entwickeln, zum Verwerfen, zum Streiten und Modifizieren von Haltungen und Überzeugungen. Sie lassen sich nicht in workpackages packen und aus Lehrbüchern übernehmen. Haltung muss in der Auseinandersetzung und im Diskurs erarbeitet werden. Dabei sollen nicht feststehende und unveränderbare Positionen übernommen, sondern vielmehr irritiert, angeregt, unterstützt, abgesichert oder auch verstärkt werden. Es wäre der sozialen Arbeit und ihrer weiteren Professionalisierung zu wünschen, dass dafür Zeit bleibt oder geschaffen wird.
Literatur
- Düring, D./Krause, H.-U. (Hg.) (2011): Pädagogische Kunst und professionelle Haltung. Frankfurt a. M.
- Korczak, J. (2001): Von Kindern und anderen Vorbildern. Gütersloh. Kraft, V. (2009): Pädagogisches Selbstbewusstsein. Paderborn.
- Krause, H.-U./Peters, F. (Hg.) (2009): Grundwissen Erzieherische Hilfen. 3. Auflage. Weinheim.
- Krause, H.-U./Wolff, R. (2005): Erziehung und Hilfeplanung: Über den untauglichen Versuch, Erziehungsprozesse gedankenlos zu rationalisieren. In: SPI: Hilfeplanung – reine Formsache? Dokumentation 4. München, S. 44–62.
- Oelkers, J. (2000): John Dewey – Demokratie und Erziehung. Weinheim.
- Winkler, M. (1997): Die Matrix des Lebens. In: Krumenacker, F. J. (Hg.): Liebe und Hass in der Pädagogik. Freiburg, S. 190–212.
- Winkler, M. (2006): Kritik an der Pädagogik. Stuttgart.
- Wolff, R. u. a. (2013): Aus Fehlern lernen – Qualitätsmanagement im Kinderschutz. Opladen.