Koedukation
Es war in den 80er Jahren eine bittere Erkenntnis für die fortschrittliche Pädagogik, dass ein bis dahin kaum bestrittenes Element der Bildungsreform, die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, eine unschöne Kehrseite aufwies: Zwar waren Mädchen hinsichtlich der formalen Abschlüsse mit den Jungen gleichgezogen (hatten diese sogar überholt), unterhalb dieser Ebene existierten aber Benachteiligungen der Mädchen im unterrichtlichen Alltag, die manche engagierte Eltern (wieder) über das „vielleicht doch nicht so schlecht gewesene katholische Mädchengymnasium“ sinnieren ließen. Hannelore Faulstich-Wieland zeichnet in Ihrem Beitrag diese Ergebnisse der schulbezogenen Koedukationsforschung nach.
Ein Schwerpunktheft zum Thema „Koedukation“ sollte es also werden. Angesichts der lebhaften Diskussion um dieses Thema in der Schule und angesichts des Fundus an Erfahrung in geschlechtsbezogener Pädagogik auch in den Erziehungshilfen schienen die Weichen gestellt, um nach deren (möglichen) Auswirkungen auf die Praxis in gemischtgeschlechtlichen Angeboten der stationären Erziehungshilfe zu fragen. Wie kann heute das Miteinander der Geschlechter im Alltag von Wohngruppen, Heimen etc. gestaltet werden? Finden sich Ansätze einer bewussten, gewollten Koedukation, wie sie derzeit in den Schulen viel diskutiert und praktisch erprobt werden? – diese Fragen leiteten die Recherche.
In der Praxis ließ sich dieses Konzept jedoch nicht ganz umsetzen. Angebote und Einrichtungen erzieherischer Hilfen, die im Konzept auf geschlechtsspezifische Lebenslagen Bezug nehmen und beschreibbare (positive!) Erfahrungen mit koedukativer Erziehung von Mädchen und Jungen haben? Fehlanzeige. In den Einrichtungen wurde die Anfrage nach geschlechtsbewussten Ansätzen häufig mit einem Verweis auf spezielle Mädchen, seltener Jungengruppen oder auf einzelne Fachkräfte, die sich mit dem Thema auseinander gesetzt hätten, beantwortet. Bei einigen Gesprächspartnerlnnen weckte die Anfrage „historische“ Erinnerungen an das eigene Engagement, aber auch die Widerstände, mit denen sie vor vielen Jahren in den erzieherischen Hilfen für die Einführung der Koedukation gestritten hatten.
Insgesamt sind wir mit dem Thema auf viel Interesse gestoßen, haben jedoch eher Fragen aufgeworfen als beantwortet bekommen. Wie Monika Weber, die diesen Schwerpunkt betreut hat, in ihrem Einführungsbeitrag schreibt: „Ein Bild der erzieherischen Hilfen entsteht, in dem das Nachdenken über Geschlecht weitgehend auf einzelne Fachkräfte und die mädchenspezifischen Angebote beschränkt bleibt bzw. auch an diese delegiert wird. Damit besteht fort, was feministische Forscherinnen immer wieder kritisiert haben: Die Lebenslagen und weiten von Jungen und Männern gelten als das Allgemeine, die der Mädchen hingegen als das Besondere. ( ... ) Dass eine solche Perspektive weder den Mädchen noch den Jungen gerecht wird ( ... ), gehört jedoch mittlerweile zum fachlichen Allgemeingut“.
Für uns Anlass genug, das Thema beizubehalten, auch wenn die Beiträge keine Lösungen, sondern eher Versatzstücke und Anregungen für die gemischtgeschlechtliche Erziehung in stationären Erziehungshilfen bieten können.
Neben den bereits erwähnten Artikeln entwickelt Cornelia Helfferich einen interaktionistischen Zugang zur Koedukationsdebatte, weil sich weibliche und männliche Geschlechtsidentität in konkreten Alltagsinteraktionen reproduziert und verändert.
Gabriele Heinemann berichtet über die teilweise Einbeziehung von Jungen in die Angebote eines Berliner Mädchentreffs und Wilfried Berauer reflektiert, wie eine bewusste Jungenarbeit in den Erziehungshilfen aussehen könnte.
Wolfgang Trede