§ 35a und die Folgen
Den alten Streit um die Zuordnung behinderter Kinder und Jugendlicher hatte das Kinder- und Jugendhilfegesetz ursprünglich elegant gelöst.
Die Regelung in den §§ 10, 2 und 27, 4 KJHG (alte Fassung) war fachlich stimmig und sah die volle rechtliche Integration aller Kinder und Jugendlichen in die Zuständigkeit der Jugendhilfe vor, soweit sie nicht körperlich oder geistig wesentlich behindert waren. Seit der "ReparaturNovelle" 1993 existiert nun mit dem § 35a
KJHG wieder die Sondergruppe der "seelisch Behinderten", einer Kategorie, die sich einer auch nur halbwegs klaren Definition entzieht.
Auch wenn jetzt viele über diese "Kaputtsanierung" des KJHG schimpfen: Ganz unschuldig ist "die" Jugendhilfe daran nicht, wurde doch in vielen Verbänden und Zeitschriften seit 1990 immer wieder betont, daß man sich jetzt auf die seelisch behinderten Kinder und Jugendlichen einzustellen habe. Hier wurde eine Zielgruppe
geschaffen, die damals rechtlich kaum mehr existierte und als fachlich-diagnostische Kategorie höchst schwammig ist. Denn Schwierigkeiten von Kindem und Jugendlichen müssen viel differenzierter betrachtet, beschrieben und bearbeitet
werden, als dies die Kategorie "Seelische Behinderung" mitsamt ihren BSHG-Differenzierungen (Psychosen, Neurosen, Sucht, MCD, Anfallsleiden etc.) leisten kann.
Durch die Spezialregelung des § 35a KJHG entsteht nun trotz anderslautender Empfehlungen und Stellungnahmen ein zusätzlicher Druck, etwas "Spezielles" anzubieten. Insofern hat der § 35a KJHG dem Integrationsgedanken einen Bärendienst erwiesen.
Diese bezogen auf Integration kontraproduktive rechtliche Entwicklung ist eine Seite der 146 Medaille; diejenige, die vergleichsweise schnell "abgehakt" werden kann. Schwieriger wird es, wenn wir - gleichsam unterhalb des problematischen sozialrechtlichen Konstrukts - auf die Kinder schauen, die als irgendwie schwieriger, komischer oder verrückter als andere empfunden werden bzw. sich selbst so erleben. Bei allem Wunsch nach Integration und Aushalten-wollen stoßen hier Kolleginnen in Einrichtungen schnell an Grenzen, die sehr häufig - so zeigen es z. B. die Fallstudien von Wemer Freigang - zu Prozessen des Verlegens führen. Hier gibt es noch erheblichen Diskussions-, vor allem aber Phantasiebedarf:
Es müßte um einen intensiveren Dialog und neue Kooperationsformen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie um flexiblere, auf den Einzelfall bezogene Hilfestrukturen (die natürlich kostenmäßig abzusichern sind!) gehen. Integration ist dabei das Ziel und zugleich eine schwierige Gratwanderung zwischen Spezialistentum einerseits und dem Einzelfall nicht gerecht zu werden auf der anderen Seite.
Ullrich Gintzel und Reinhold Schone behandeln in ihrem Beitrag die Thematik in ihrer Breite. Sie zeichnen für die Zukunft zwei Szenarien: § 35a KJHG könnte als Probelauf für eine Integration auch der körperlich und geistig behinderten jungen Menschen dienen (in einem § 35 b und c KJHG) oder er könnte durch eine am § 27 KJHG orientierte jugendamtliche Praxis überflüssig werden.
Norbert Struck verfolgt die Entwicklung, die zur Entstehung des § 35a KJHG geführt haben. Fachlich nur schwer nachvollziehbar wurde in den Jahren zwischen 1990 und 1993 ein "Klärungsbedarf' bezüglich der Eingliederungshilfen produziert, der im Ergebnis vom Fortschritt einer integrativen Formulierung zum Rückschritt einer
Spezialregelung führte.
Michael Feyerabend schildert in seinen Erfahrungen aus der Wohngruppenarbeit, wie dort praktisch mit dem § 35a KJHG umgegangen wird, und zeigt anband eines Einzelfalls, wie "aushaltende" Hilfen im Grenzbereich zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie aussehen können.
Thomas Gimth berichtet über die Arbeit einer Spezialeinrichtung für "seelisch behinderte Jugendliche" und benennt notwendige Rahmenbedingungen für deren Betreuung.
Franz-Jiirgen Blumenberg und Martin Apitzsch erläutern die Position der Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe (
AFET
), notwendige und geeignete Hilfen nach den §§ 27-35 anzubieten, um Abgrenzungsdiskussionen und Ausgrenzungsmechanismen zu vermeiden.