Aufwachsen in privater und öffentlicher Verantwortung

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Man mag es kaum glauben, aber es gibt sie. Es gibt die „zweckfreie, private, verarmte, gesunde, betreute, kompetente, multikulturelle und gute Kindheit“ (DJI-Bulletin 85 – 1/2009:1). Nach einem interessanten Überblick über jedes dieser Attribute kommt Christian Alt zu folgendem Fazit: „Eigene Aktivität, eine gehörige Portion Selbstwirksamkeit sowie die Familie und Gleichaltrigen-Gruppen sind die tragenden Säulen für das Glück der Kinder“ (2013: 35). Glück und Glücksgefühle als Indikatoren für ein gelingendes Aufwachsen vor allem in privater Verantwortung lässt sich assoziieren mit Glücksspirale, Glücks-Pillen, „jede ist ihres Glückes Schmied“ und somit mit der hegemonialen Leitorientierung, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei. Fordern und Fördern ist die Begleitmusik dazu, genauso wie: Keine Leistung ohne Gegenleistung. Mit dieser individualistischen Ideologie grüßt von Ferne Herr Hobbes („Einer ist des Anderen Wolf“), verbindet sich auf der einen Seite ein Gefährdungsdiskurs („Kinder werden immer…“) und auf der anderen Seite die ökonomische Basis: Kinder sind „unser“ Rohstoff, unser „Human-Kapital“, in das „wir“ investieren müssen.

Übereinstimmung besteht darin, dass sich in Bezug auf das Aufwachsen der nachfolgenden Generationen eine Verschiebung von öffentlicher und privater Verantwortung vollzogen hat und noch vollzieht. Sie ist damit eine Tendenz in der grundlegenden Verschiebung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit überhaupt. War zu Beginn der Moderne die (bürgerliche Kern-)Familie als Hort der Privatheit zugleich Ort von Erziehung und auch von Bildung, so lässt sich eine zunehmende Verlagerung zunächst von Bildung, dann auch von Erziehung in den Bereich der Öffentlichkeit beobachten. Verantwortung übernahmen zunehmend öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Hochschulen, aber auch Lehrverhältnisse in Handwerk und Industrie. Aufwachsen ließ sich also als zunehmende Teilhabe an öffentlichen Räumen interpretieren, mit dem Ziel der Subjektwerdung. Dieses viel strapazierte Bild traf – empirisch allzumal gebrochen – allerdings im Wesentlichen und zuerst für die bürgerliche Öffentlichkeit und damit für die bürgerlichen Schichten zu. Jürgen Habermas hat diesen Prozess der Subjektwertung des Bürgers im Kontext einer „deliberativen Demokratie“ intensiv bearbeitet und als emanzipative Perspektive begründet (2001). Im Horizont einer öffentlichen und herrschaftsfreien Konsensbildung – so hofft er – werden sich gesellschaftliche Konflikte und Auseinandersetzungen in prinzipiell gleichberechtigten Dialogen regeln, ja sogar lösen lassen.

Aus der Perspektive des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Erfahrung haben Oskar Negt und Alexander Kluge diesen Ansatz kritisiert, erweitert und  ausdifferenziert. Aus dieser Sicht gibt es „Öffentlichkeit“ nur im Plural als Öffentlichkeiten, in denen unterschiedliche Erfahrungen der „subalternen Klassen“ verarbeitet werden und (sub-)kulturellen Ausdruck finden (1992). Handlungssubjekte sind dabei auch Individuen, in der Regel aber Handlungszusammenhänge von Kooperierenden, die zu einer bestimmten Zeit an einem konkreten Ort „gemeinsam Aufgaben bewältigen“ (Mannschatz 2010).

In der Gegenwart nun verortet der 14. Kinder- und Jugendbericht das „Spannungsverhältnis von öffentlicher und privater Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen als einen zentralen konzeptionellen roten Faden“ (KJB 2013: 63). Die Kommission, die diesen Bericht erarbeitet hat, will angesichts der Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit dieses Verhältnis als einen komplexen Wohlfahrtspluralismus gestaltet sehen, der neben den beiden Bereichen privater und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zwei weitere Sphären der „privaten Verantwortung im öffentlichen Raum“ ausmacht: den Markt, mit den zentralen Werten Freiheit und Wohlstand, sowie den Dritten Sektor/die Zivilgesellschaft mit den zentralen Werten Solidarität und freiwilliges Engagement (KJB 2013: 71). Mit dieser Erweiterung möchte die Kommission den Übergang vom versorgenden zum investiven bzw. aktivierenden Sozialstaat verdeutlichen. Hieraus ergibt sich die Frage nach der Gestaltung eines optimalen Mixes „aus privater und öffentlicher Verantwortung im Sinne der Realisierung  spezifischer Zielsetzungen und Qualitätsstandards“ (KJB  2013:  74). „Dieser Gestaltungsaufgabe liegen unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen folgende Ziele zugrunde:

  • die Herstellung gleicher Lebenschancen und der Abbau herkunftsbedingter Ungleichheit durch die Förderung junger Menschen ,von Anfang an‘,
  • die Befähigung junger Menschen zur gesellschaftlichen Teilhabe durch die Förderung ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten sowie
  • die Gewährleistung bzw. Schaffung struktureller Rahmenbedingungen, die es den Eltern erlauben, ihre Kinder optimal zu fördern und die den Kindern und Jugendlichen Chancen auf Teilhabe an der Gesellschaft und an entsprechenden Angeboten ihrer Förderung eröffnen (Schaffung positiver Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien).“ (KJB 2013: 76/77)

So hilfreich die Ausdifferenzierung in vier Sphären bzw. Sektoren von Privatheit und Öffentlichkeit auf den ersten Blick erscheint, so problematisch ist ihre horizontale „Gleichverteilung“. Wenn Neoliberalismus bedeutet, dass tendenziell alle gesellschaftliche Bereiche warenförmig nach den Regularien von Märkten bzw. Quasimärkten formiert werden (vgl. Resch/Steinert 2009), dann darf die vertikale Dimension als das herrschaftliche Verhältnis von Macht und Gewalt in den gesellschaftlichen Beziehungen nicht unter den Tisch fallen. Verschwindet die Gewalt in der bürgerlichen Öffentlichkeit in den „Kasematten“ des Staates, die sie nur verlässt, wenn die Macht der bürgerlichen Öffentlichkeit infrage gestellt oder angegriffen wird, und ist die wichtigste hegemoniale Macht die, die erst gar nicht infrage gestellt wird, so ist ihre De-Thematisierung, wie sie in dem (gleichberechtigten) Nebeneinander der unterschiedlichen Sektoren von Öffentlichkeit und Privatheit im KJB aufscheint, Bestandteil ihrer Nichthinterfragbarkeit. Demgegenüber ist mit der Idee der „proletarischen Öffentlichkeit“ ein Konzept von Macht verbunden, das eher dem von Hannah Arendt entspricht: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammen zu schließen und im Einverständnis mit ihnen zu handeln“ (1990: 40). Gewalt – so Hannah Arendt weiter – ist somit das Gegenteil von Macht, sie entsteht aus Machtlosigkeit. Gewalt macht Menschen zu Objekten und Zwecken und zerstört im schlimmsten Falle, Macht hingegen als eine kooperative und gestaltende Fähigkeit von Menschen, die sich über ihr Tun verständigen und so Handlungssubjekte werden, wird immer gewaltlos (aber nicht konfliktfrei) sein.

Negt und Kluge nannten diese Öffentlichkeit die „proletarische“. Giacomo Marramao hat die damit verbundene Idee vorsichtiger und offener „Diaspora-Öffentlichkeiten“ genannt, wobei der Plural andeuten soll, dass es in diesen Öffentlichkeiten um Begegnung und Auseinandersetzung von „Narrativen“ um die Gestaltung einer globalisierten Gesellschaft geht (2004). Damit verbindet er einen kulturellen, aber keinen ethischen Relativismus: Jede Kultur ist gleichwertig, aber auch kritisierbar – und zwar vor der nicht relativierbaren Basis einer mit universeller Gleichheit verbundenen Freiheit (vgl. Bauman 1992). Diaspora-Öffentlichkeiten homogenisieren global, aber nicht universalistisch, sie komprimieren, aber vereinen nicht, sie sind nicht messbar, aber vergleichbar – und: Diaspora-Öffentlichkeiten und die mit ihnen verwobenen Privatheiten sind nur „multikulturell“ denkbar und drücken zugleich eine grundlegende Differenzerfahrung aus: aus dieser Perspektive sind Vereinheitlichung und Differenz zwei Seiten einer gleichen globalen Medaille.

Was dieser Ansatz für das Aufwachsen von Kindern bedeutet, haben Korczak, Bernfeld, Freire u. a. deutlich gemacht. Sie insistieren darauf, dass die Anerkennung von Kindern als Subjekte die Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung ist: Nur eine bedingungslose Anerkennung auch des gerade geborenen Babys als Subjekt kann eine respektvolle, unterstützende und sorgende Verantwortung möglich machen. Kinder als Subjekte, Erwachsene  als „Situations-Verantwortliche“ und auch für Experimente offene Räume sind die drei Komponenten, die Erziehung und Bildung als „Orte verlässlicher Begegnung“ als Schnittpunkt von Öffentlichkeiten und Privatheiten  erfahren lassen (vgl. Kunstreich 2012). Kurz und knapp fasst Malaguzzi, der Begründer der Reggio-Pädagogik, diesen Sachverhalt zusammen: „Die Kinder haben drei Erzieher: die anderen Kinder, die Erwachsenen, und den Raum“ – und zwar in dieser Reihenfolge, auch wenn jeder dieser „Erzieher“ natürlich seine eigene, besondere Bedeutung hat.

„Kinder-Öffentlichkeiten“ sind der erste soziale Ort, in dem Kinder sich in wechselseitiger Verantwortung selbst erfahren, wo sie Anerkennung, aber auch Ablehnung erleben, wo das Zusammensein „mit allen Sinnen“ er- und gelebt wird, wo – wenn die Kinder älter werden – Freundschaften geschlossen und spannende Gleichaltrige (aber auch Ältere) zu normativen und ästhetischen Vorbildern werden, denen man nacheifert, in die man verliebt ist – und wo ein ungeheures Potenzial an mimetischen Vermögen freisetzt wird. Kinder-Öffentlichkeiten in diesem Sinne verfügen über freie Zeiten und anzueignende Orte, die – auch wenn sie physikalisch immer dieselben sind – jedes Mal neu erobert und gestaltet werden können oder müssen. Die Clique, die besten Freunde, heute ganz sicherlich auch die Facebook-Gemeinde, sind eine eigene Welt, die insbesondere den Heranwachsenden aus subalternen Klassen eine Erfahrung von Macht und das Gefühl von Freiheit (und manchmal auch Omnipotenz) verleiht.

Für die derzeitige hegemoniale Diskussionslage aber muss man wohl festhalten: In allen Erörterungen und Untersuchungen über den Zusammenhang von Öffentlichkeit und Aufwachsen dominieren die Erwachsenen bzw. deren Fragestellungen. Nicht zuletzt Philippe Ariès (1978) hat deutlich gemacht, dass mit dieser Dominanz zugleich auch eine „Kolonialisierung“ von Kindheit verbunden ist, die Kinder eher einschränkt als dass sie sie fördert – „Kinder haben 100 Sprachen, wir rauben ihnen 99“: So brachte das Malaguzzi auf den Punkt und gab zugleich ein Beispiel dafür, dass „privare“ im Deutschen „rauben“ bedeutet. Natürlich haben Erwachsene die größte Verantwortung für das Aufwachsen, werden die Betreuungszeiten, in denen nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiterinnen auf Kinder und Jugendliche einwirken, mehr, früher, länger und intensiver als selbst noch vor 20 Jahren. Die Frage ist aber hier, wie Erwachsene mit dieser Verantwortung umgehen, ob sie für die Heranwachsenden etwas tun, oder mit ihnen. Die Vergeblichkeit des „für“ wird insbesondere immer dann deutlich, wenn es um die übliche und hegemonial immer wieder geforderte „Vermittlung von Werten und Normen“ geht, wenn also („bürgerliche“) Moral gepredigt wird. Dabei lernen die so Adressierten bestenfalls predigen, aber keine ethischen Handlungsmaximen. Diese eignen sich Heranwachsende und Erwachsene nur gemeinsam an, in einer  Praxis, die Eberhard Mannschatz in Anschluss an Makarenko als „gemeinsame Aufgabenbewältigung“ beschrieben und konzeptionell vertieft hat (2010). Gemeinsame Aufgabenbewältigung ist zugleich auch immer Situationsbewältigung aller an ihr Beteiligten. Das Schaffen und Herstellen von derart produktiven Situationen ist die Aufgabe von Erwachsenen, die über die dafür nötigen Mittel und Kenntnisse verfügen. In diesen Situationen entwickeln alle Beteiligten Fähigkeiten (capabilities), die neben ihrer praktischen Bedeutsamkeit zugleich Partizipation im Sinne der Realisierung von Kinderrechten beinhalten. Paulo Freire hatte dieses Schaffen von Situationen auch als gemeinsame Grenzüberschreitungen charakterisiert (1973: 85). Denn aus der Perspektive von Handelnden ist jeder physikalische Raum zugleich auch ein sozialer, den es anzueignen gilt. Michael May, Benedikt Sturzenhecker, Ulrich Deinet und andere haben dazu viele Beispiele und konzeptionelle Anregungen gegeben. Jeder Raum besitzt eine kommunikative Botschaft: „Besetze und gestalte mich“ oder: „Bleib fern“ oder sogar: „Hier darfst du nicht rein oder nicht raus“. Für Heranwachsende sind nur die Räume interessant, die ihnen etwas ermöglichen, die in diesem Sinne also unfertig sind. Wobei das, was fertigzustellen ist, aber nicht festgelegt sein darf, sondern in der Kreativität und den kooperativen Verabredungen der Kinder und Jugendlichen selbst liegt. Insbesondere Heranwachsende aus subalternen Milieus erleben sich aus vielen Räumen gewaltsam ausgesperrt, erleben, dass ihre Gestaltung der Räume als unzulässig, gewalttätig oder störend etikettiert wird – und erleben hier aber auch ihre „kollektive Subjektivität“, die als besonders gefährdete Verschränkung von Öffentlichkeiten und Privatheiten immer wieder hegemoniale Zurichtungen angreift, aber auch bestätigt, wie immer noch richtungsweisend Willis (1979) demonstriert hat (vgl. May 2004).

Das anfangs erwähnte Bild des glücklichen Aufwachsens der „vielen Einzelnen“ lässt sich vor diesem Hintergrund als der zeittypische, ideologische Erwartungshorizont interpretieren, der hervorhebt, was sicherlich auch von vielen Jugendlichen geteilt wird, der aber auch die Möglichkeit des Neuen, des Grenzüberschreitenden und der Alternativen enthält – zusammen in der Gesellschaft mit Anderen.

 

Literatur

  • Alt, C. (2009): Kinder wollen glücklich sein. In: DJI Bulletin 85. Arendt, H. (1990): Macht und Gewalt. München.
  • Ariès, P. (1978): Geschichte der Kindheit. München. Bauman, Z. (1992): Dialektik der Ordnung. Hamburg.
  • DJI Bulletin 85 (2009): Wissen über Kinder – Bilanz empirischer Studien. München. Freire, P. (1973): Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek.
  • Habermas, J. (2001): Zeit der Übergänge. Frankfurt a. M.
  • KJB (2013): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland – 14. Kinder- und Jugendbericht. Berlin.
  • Kunstreich, T. (2012): Sozialer Raum als „Ort verlässlicher Begegnung“. In: Wider- sprüche, Heft 125, S. 87–92.
  • Mannschatz, E. (2010): Was zum Teufel ist eigentlich Erziehung? Berlin.
  • Marramao, G. (2004): Öffentlichkeit und Erfahrung in der globalen Zeit. In: Freitag, T./Havel, M. (Hg.): Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag. Frankfurt a. M., S. 107–124.
  • May, M. (2004): Selbstregulierung. Eine neue Sicht auf die Sozialisation. Gießen. Negt, O./Kluge, A. (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Frankfurt a. M.
  • Resch, C./Steinert, H. (2009): Kapitalismus. Münster. Willis, P. (1979): Spaß am Widerstand. Frankfurt a. M.

 

Quelle: Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014): Kritischen Glossar Hilfen zur Erziehung. Frankfurt am Main: IGfH Eigenverlag.