Intensivpädagogik
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Im SGB VIII wurde 1990 unter den Hilfen zur Erziehung in § 35 die Hilfeform der „intensiven Sozialpädagogischen Einzelbetreuung“ etabliert. Gemeint war damit eine Form der Begleitung Minderjähriger, die zeit- und kostenintensiver ist als herkömmliche ambulante Erziehungshilfen und die nicht in (Heim-) Gruppen durchgeführt wird oder werden muss. Aus dieser Hilfeform ergab sich eine positive Konnotation des Attributs „intensiv“ im Zusammenhang mit den Hilfen zur Erziehung, die ich im Folgenden etwas kritischer beleuchten werde.
Intensiv meint laut Duden (Duden.de) u. a. gründlich, auf etwas konzentriert, stark, kräftig, durchdringend, eingehend. Verknüpft man das Attribut intensiv mit seiner Verwendung in der Landwirtschaft, so meint dies eine auf besonders hohe Erträge abzielende und dabei wegen des großen Einsatzes an Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln riskantere Anbauweise als die extensiven Varianten des Landbaus, also das Streben nach möglichst großem Ertrag bei gleichzeitiger Gefahr großer Nebenwirkungen.
Verknüpft man das Attribut „intensiv“ mit dem, wie es in der Medizin genutzt wird, also mit dem Bild von Intensivstation und Intensivmedizin in Krankenhäusern, dann denken wir an Abteilungen, in denen sich PatientInnen in einer besonders kritischen und lebensbedrohlichen Situation befinden und einer ständigen medizinischen Überwachung bedürfen.
Führt man solche Analogien fort, dann befinden sich in einer intensivpädago gischen Einrichtung der Jugendhilfe genau solche Kinder und Jugendliche, die einen besonderen Bedarf nach Erziehung haben, der jederzeit erfüllt werden sollte und die einer ständigen Überwachung bedürfen.
In der aktuellen Praxis existiert keine einheitliche Definition von Intensivpädagogik. Immer mehr Einrichtungen werben mit diesem Begriff, auch wenn er nur eine besondere Leistungsfähigkeit suggeriert, ohne sie zu beschreiben. Ich orientiere mich im Folgenden an mir bekannten konkreten Konzepten intensivpädagogischer Einrichtungen oder Gruppen, die sich in einigen Merkmalen gleichen. Diese Einrichtungen gewähren möglichst ununterbrochene Erziehung und eine besonders gezielte, auf besondere pädagogische Wirkung orientierte Behandlung. Es gehört somit gerade zur Begrifflichkeit „intensivpädagogisch“, dass es möglichst wenige Pädagogik-freie Räume geben darf, also Räume und Zeiten, in denen nicht oder zumindest nicht richtig erzogen wird, in denen das Falsche oder nichts gelernt wird. Intensivpädagogische Maßnahmen sind somit gekennzeichnet durch geringe Freiräume für die AdressatInnen dieser Maßnahme, und damit – als Legitimation dieser Eingrenzung – für geringe Möglichkeiten, in denen sie sich falsch verhalten und pädagogisch nicht korrigiert werden können. Sie unterscheiden sich dadurch von „normalen“ Einrichtungen, die nur extensiv erziehen, Kindern und Jugendlichen also Freiräume überlassen, in denen sie nicht gezielt pädagogisch beeinflusst werden.
Grundannahme der meisten intensivpädagogischen Ansätze ist die Vorstellung, dass das Verhalten von Kindern und Jugendlichen das Resultat von expliziter Pädagogik ist und nicht – wenigstens auch – Resultat ihrer individuellen Lebenserfahrung, der Lebensumstände in Familie und Lebenswelt. Die Frage nach dem Sinn der als problematisch erkannten Verhaltensweisen erübrigt sich damit, Fallverstehen wird obsolet, man glaubt, Kinder und Jugendliche beeinflussen zu können ohne Kenntnis und Berücksichtigung oder gar Veränderung ihrer Lebensverhältnisse, sondern davon abgetrennt durch die ständige Bewertung und Korrektur ihres Verhaltens. Dass diese Lebenssituation extrem künstlich und weit vom späteren Alltag der Jugendlichen entfernt ist, spielt nach der Grundannahme keine besondere Rolle, da das Verhalten als Ausdruck (zuvor erworbener und in der Einrichtung zu verändernder) Persönlichkeitsmerkmale gesehen wird, die unabhängig von sich verändernden Lebensumständen relativ stabil sind.
In intensivpädagogischen Einrichtungen wird daher Freiraum als nicht produktiv, sondern geradezu als kontraproduktiv für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen verstanden. Gemäß der Logik der meisten dieser Einrichtungen gilt das Fehlen einer – omnipräsenten und konsequenten – Pädagogik als Quelle der Auffälligkeit der Kinder und Jugendlichen, folglich gilt spürbare Präsenz von Pädagogik als Garant für den Erfolg der Bemühungen. Pädagogik wird dabei als direkte Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche betrachtet, nicht als Gestaltung von Lernfeldern oder als Arrangement von Bedingungen, in denen die Heranwachsenden selbst gesteuert Erfahrungen verarbeiten und daraus lernen können. Es ist ja gerade das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der Kinder und Jugendlichen, selbst das Richtige und Wichtige aus ihren Lebenserfahrungen zu lernen, das dazu führt, dass Intensivpädagogik stets explizit pädagogisch sein will, d. h. immer klar vermittelt, was aus einer Situation gelernt werden kann und soll.
Mit diesem Verständnis von Pädagogik ist eine Beschreibung der PädagogInnen verbunden, die eher dem traditionellen Rollenverständnis der PädagogIn als übergeordneter, unumstößlicher Autorität entspricht. PädagogInnen belehren, geben Anweisungen, kontrollieren deren Einhaltung. Es gehört weniger zu diesem Verständnis, dass PädagogInnen Verständnis zeigen, Dinge erklären, mit den Heranwachsenden Vereinbarungen treffen und Regeln aushandeln. Solche Verhaltensweisen gelten in intensivpädagogischen Einrichtungen tendenziell als Ausdruck von Unklarheit, Undeutlichkeit und Schwäche.
Machtausübung stellt sich somit als unverzichtbares Mittel der Pädagogik dar, Machtverzicht wäre gleichbedeutend mit Nicht-Erziehung und würde damit dem Zweck der Einrichtung widersprechen. Wesentliches Element solcher Machtausübung ist die Ächtung von Beteiligungs- und Aushandlungsprozessen, die als pädagogisches Fehlverhalten gelten. Ziele und Mittel zu ihrer Erreichung stehen nicht zur Diskussion. Die meisten Einrichtungen, die unter dem Etikett intensivpädagogisch firmieren, sind – dies wurde aus der bisherigen Beschreibung bereits deutlich – verhaltenstherapeutisch ausgerichtet. Kinder und Jugendliche sollen durch Belohnung und Sanktionierung lernen, welche Verhaltensweisen gewünscht – also richtig – und welche nicht gewünscht – also falsch – sind.
Als richtig gilt dabei mit hoher Priorität die Einhaltung vorgegebener Regeln. Diese Regeln müssen von den Kindern und Jugendlichen zunächst einmal angeeignet werden, sonst könnte man deren Einhaltung nicht erwarten. Deshalb gehört es in einer Reihe solcher Einrichtungen zum Aufnahmeritual, den Regelkatalog der jeweiligen Einrichtung in der Aufnahmephase oder nach Regelverstößen mehrfach abzuschreiben. Mit diesem Ritual sollen die AdressatInnen zugleich die pädagogischen Hierarchien verinnerlichen und akzeptieren lernen, sich nicht nur den Regeln, sondern auch den Autoritäten, die sie verkörpern, zu unterwerfen.
Neben dem Lernen und der Akzeptanz von Regeln geht es um den Erwerb positiver Verhaltensweisen. Auch hierbei ist es nicht so, dass es das zentrale Lernziel darstellt, dass sich die gewünschten Verhaltensweisen bewähren, um Ziele zu erreichen, wie etwa die Anerkennung durch die anderen Gruppenmitglieder oder die leichtere oder effizientere Bewältigung des Alltagslebens, es geht auch hierbei vorrangig um den Erwerb der Anerkennung und Belohnung durch die MitarbeiterInnen der Einrichtung, der auf die Erwachsenen ausgerichtete pädagogische Bezug und das ständige Bewusstsein von Abhängigkeit bleiben im Vordergrund. Das Erlernen der gewünschten Verhaltensweisen bleibt – zunächst, aber eben auch möglicherweise auf Dauer – sehr auf das (Über-)Leben in der Einrichtung bezogen, nicht auf den möglichen Sinn der erlernten Kompetenzen in einer selbstständigen Zukunft. Mit dem Wegfall der formalisierten Reaktionen auf erwünschte Verhaltensweisen stellt sich die Frage, welchen Sinn diese in einem normalen Alltag ergeben.
Gemäß des verhaltenstherapeutischen Programmes verfügen die meisten intensivpädagogischen Einrichtungen über ein differenziertes Belohnungssystem. In diesem System werden Bedürfnisse und Freiräume an das Erreichen von bestimmten Verhaltenszielen geknüpft. Was das Leben erleichtert bzw. spezifische Privilegien müssen durch Wohlverhalten erworben werden. Zu diesem System gehört, dass Privilegien entzogen werden können und dass Jugendliche und Kinder von einer erreichten Stufe auf ein tieferes Niveau zurückgestuft werden können und sich die Stufe wieder aufs Neue verdienen müssen. Neben Degradierungsgefahr und Aufstiegschancen bedeuten diese – meist Stufensystem genannten – Binnenstrukturen eine geplante personale Instabilität. Die sozialen Beziehungen zwischen den jungen Menschen wie auch die zwischen Erwachsenen und Minderjährigen werden durch Bewährungsaufstieg oder Degradierung systematisch abgebrochen, im ungünstigen Fall stellt der Aufstieg eine Bestrafung für eine positive Verhaltensänderung durch einen Beziehungsabbruch dar.
Belohnungssysteme bauen in den meisten Einrichtungen darauf, den Lebensraum reizarm zu gestalten. Der Mangel an Anregungen, Beschäftigungen und Kontakten soll die Attraktivität der Belohnungen erhöhen, damit z. B. die Belohnung, an einem Abend eine Stunde Fernsehen zu sehen, als Anreiz ausreicht, sich an fünf Tagen durch Wohlverhalten die notwendigen Chips zu verdienen. Die Reizarmut des Alltags erhöht die Angewiesenheit auf die von den PädagogInnen gesetzten Attraktionen und erhöht den Einfluss der intensiven Pädagogik. Inwieweit die Künstlichkeit dieses Arrangements die Übertragung von möglicherweise dort Gelerntem auf spätere Lebensfelder der jungen Menschen ermöglicht, wird in den meisten Konzepten kaum thematisiert. In jedem Fall dienen sie der Stabilisierung der Machtverhältnisse in der Einrichtung und der asymmetrischen Beziehungen innerhalb der Einrichtungen.
Intensivpädagogische Einrichtungen stellen nicht nur eine Steigerung von anderen pädagogischen Einrichtungen dar, sie sind wesentlicher Baustein eines spezialisierten und hierarchischen Systems von Einrichtungen, das sich nicht darum kümmern muss, die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen dort zu verbessern, wo diese aufwachsen und leben (wollen), sondern das die Art der Intervention nach der – vermeintlichen – Schwierigkeit der AdressatInnen gliedert. In intensivpädagogischen Einrichtungen können demnach Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, die andere Einrichtungen erfolglos durchlaufen haben, die Gruppen, gar Systeme „sprengen“ und „mit herkömmlichen Mitteln nicht zu erziehen sind“. Thematisiert werden müssen dann nicht die Leistungsfähigkeit der vorausgehenden Einrichtungen und deren materielle und personelle Ausstattung, sondern die besonderen Schwierigkeiten dieser Kinder und Jugendlichen, die Erziehungsunfähigkeit ihrer Eltern, die psychischen Probleme der Kinder und Jugendlichen, deren Delinquenz, nicht aber ihre Bedürfnisse oder Lebensprobleme.