Nachhaltigkeit
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
Link zum Buch
In einem „Lexikon der Nachhaltigkeit“* wird Nachhaltigkeit so definiert: „Nachhaltige Entwicklung heißt, Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Zukunftsfähig wirtschaften bedeutet also: Wir müssen unseren Kindern und Enkelkindern ein intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches Gefüge hinterlassen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.“
Die Bundesregierung verfolgt ein „Leuchtturmprojekt 2013“ mit dem Titel „Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland“**. In diesem Zusammenhang bewirbt sie auch den „Rat für nachhaltige Entwicklung“. Dieser rief im Juni 2013 zur „Deutschen Aktionswoche Nachhaltigkeit“*** auf. Dort wird Nachhaltigkeit so definiert: „Nachhaltigkeit bedeutet, dass die heutigen Generationen nicht auf Kosten der nächsten leben sollen. Und Nachhaltigkeit beginnt maßgeblich mit dem eigenen Handeln. Bei der „Deutschen Aktionswoche Nachhaltigkeit“ können alle mitmachen – Kinder und Erwachsene, Stiftungen, Kirchen, Kindergärten, Schulen, Unternehmen, Städte, soziale Einrichtungen, Umwelt- und Entwicklungsverbände, Behörden, Ministerien, Theater und Sportvereine. Vom vegetarischen Kinderkochtag in der Schulkantine über die Handysammelaktion in der Firma bis zur Kleidertauschfete – es gibt 1000 Möglichkeiten, im Alltag nachhaltig zu leben und zu handeln.“
Auch im Koalitionsvertrag**** wird Nachhaltigkeit beschworen. Hierzu heißt es: „Für uns ist die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung grundlegendes Ziel und Maßstab des Regierungshandelns. Dies gilt insbesondere für eine Post- 2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Wir werden uns für eine Stärkung der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie einsetzen. Wir verstärken die nationalen Nachhaltigkeitsziele und setzen sie um, wie etwa im öffentlichen Beschaffungswesen.
Wir wollen ‚Bildung zur Nachhaltigen Entwicklung‘ in allen Bildungsbereichen stärker verankern. Die Ergebnisse der Enquetekommission ‚Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität‘ des Deutschen Bundestages werden einbezogen. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung wird erneut eingesetzt und in seiner Funktion gestärkt. Die ressortübergreifende Koordinierung wird ausgebaut. Im Subventionsbericht der Bundesregierung wird stärker überprüft, ob die Maßnahmen nachhaltig sind.“
Das Stichwort „Nachhaltigkeit“ ist also prominent besetzt – zugleich aber auch so schillernd aufgebläht, dass es schwerfällt, über die Konnotation des „Guten“, jedenfalls auch „politisch Korrekten“ und einen ökologischen Bezugspunkt hinaus einen präzisen Inhalt ausfindig zu machen. Dies spitzt sich zu beim – zunehmenden – Gebrauch dieses Begriffes in der Kinder- und Jugendhilfe. Denn zumeist wird der Begriff dabei – ohne ökologischen Bezug – trivial und einfach synonym zu „dauerhaft“ gebraucht und auf alles und jedes appliziert.
Einer besonderen Beliebtheit erfreut sich der Begriff derzeit im Kontext von „Wirkungsorientierung“ in der Kinder- und Jugendhilfe. So heißt es z. B. im Abschlussbericht des Projekts „Wirkungsorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe“: „Der wissenschaftliche Fachdiskurs zum Thema Wirkungen der Erziehungshilfen ist zunächst kein neues Phänomen. So verweist Kuhlmann … darauf, dass schon vor 200 Jahren die Waisenhäuser in die Kritik gerieten wegen der hohen Sterblichkeitsrate und Diskussionen über die Wirksamkeit dieser Maßnahme aufflammten. Auch die Frage nach den langfristigen Wirkungen – der Nachhaltigkeit der Hilfen – war schon bei Wichern und später bei anderen Sozialpädagogen um die Wende zum 20. Jahrhundert Anlass zur Forschung.“ (ISA 2010: 19) Hier wird Nachhaltigkeit also als langfristige Wirkung von Hilfen bestimmt.
Die Dimension der „Nachhaltigkeit“ wurde dabei auch deshalb ins Forschungskonzept aufgenommen, um dem „Erschleichen von ungerechtfertigten Bonuszahlungen“ in „wirkungsorientierten Entgeltsystemen“ entgegenzuwirken. Unter dem Stichwort „Evaluation der Nachhaltigkeit“ liest man: „Im Rahmen der Programmdiskussionen an einzelnen Standorten kristallisierte sich relativ früh heraus, dass nicht nur ,kurzfristige Wirkungen‘, sondern auch die Nachhaltigkeit der Veränderungen betrachtet werden sollten, die sich während des Hilfeverlaufs im Hinblick auf Lebenssituation, Fähigkeiten und Möglichkeiten der jungen Menschen ereignet haben. Insbesondere im Zusammenhang mit der Ausschüttung von Bonuszahlungen nach Hilfeabschluss … soll mit der Überprüfung der Nachhaltigkeit eine zu frühe Beendigung der Hilfen verhindert werden. Dem liegt die Befürchtung zugrunde, dass punktuelle Erfolgsphasen in der Fallbearbeitung dazu genutzt werden könnten, Fälle ,erfolgreich‘ abzuschließen, obwohl der weitere Hilfebedarf augenscheinlich ist und höchstwahrscheinlich nach einer kurzen Phase auch in eine neue Hilfe bei einem anderen Leistungserbringer münden kann.“ (ebd.: 58 f.)
Damit wird in einer sehr verkürzenden Form ein Thema angerissen, das allerdings für die Hilfen zur Erziehung – nicht in Bezug auf sog. „wirkungsorientierte Entgelte“, sondern in Bezug auf die Frage, ob sie nicht im gegenwärtigen System ihre Hilfeleistungen an junge Menschen zu oft mit Erreichen der Volljährigkeitsgrenze zu früh einstellt – das Thema einer längerfristigen Betrachtung und Analyse von Hilfeverläufen von großer und zunehmender Bedeutung ist. Die unter dem Thema Care Leaver sich verbreiternde notwendige Debatte über den zu frühen Hilfeabbruch für junge Menschen, die in Heimerziehung oder Pflegefamilien aufgewachsen sind, kann allerdings ohne sachlichen Verlust und mit mehr begrifflicher Klarheit auch ohne Bezug auf das Wort „Nachhaltigkeit“ geführt werden.
Auch die Leiterin des Stadtjugendamtes München, Maria Kurz-Adam, definiert in einem Papier „Nachhaltige Kinder- und Jugendhilfe: Fachliche und Strategische Aufgaben des Jugendamtes der Zukunft“***** Nachhaltigkeit als „Nachhaltigkeit der Wirkungen“: „Kinder- und Jugendhilfe ist eine wesentliche soziale Klammer zwischen den Lebensorten, an denen sich Kinder und Jugendliche in der ,Risikogesellschaft‘ bewegen. Ihre Aufgabe ist es, auch und gerade in der Krise Nachhaltigkeit ihrer Handlungsformen zu entwickeln, weil sie damit Perspektiven für die Zukunft von Kindern, Jugendlichen und Familien eröffnet. Diese Nachhaltigkeit zu sichern, ist heute unter dem Druck der Krise die Schlüsselaufgabe der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade unter dem zunehmenden öffentlichen Legitimationsdruck, der sowohl die Frage nach dem richtigen Handeln als auch die Frage nach der Effektivität kostenintensiver Maßnahmen stellt, muss die Kinder- und Jugendhilfe verdeutlichen, dass sie nachhaltig wirksam ist.“ (Kurz-Adam, o. J.: 6)
Bei all dieser Rhetorik der Nachhaltigkeit wird jedoch ausgeblendet, dass sich stabile „Wirkungen“ komplexer sozialer Interventionen und Infrastrukturen zwar leicht fordern, aber umso schwerer belegen lassen. Die Nachhaltigkeitsrhetorik bewegt sich dabei leicht über die völlig unterschiedlichen Gegenstände ihrer Postulate hinweg. Ihr ist es gleich, ob von der nachhaltigen Wirkung einer Intervention im Einzelfall, eines bestimmten Hilfetypus, der Hilfen zur Erziehung insgesamt oder gar der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt gesprochen wird. Ebenso leicht übergeht sie die völlig unterschiedlichen Voraussetzungen, erforderlichen Ressourcen und forschungslogischen Implikationen für „Wirkungsnachweise“ dieser verschiedenen Gegenstände.
Es gibt mithin gute Gründe für die Profession, dem modischen Nachhaltigkeitsgerede entgegenzutreten und den Begriff nur dann zu verwenden, wenn man sich über seine sachliche Aussagekraft vergewissert hat. Das ist immer nur dann möglich, wenn man ihn im jeweiligen Kontext präzisiert hat und seine ökologische, soziale und ökonomische Komponente definiert. Das leistet man nicht, wenn man Nachhaltigkeit nur mit langfristiger Wirkung identifiziert.
________________
* www.nachhaltigkeit.info; ein Projekt der „Aachener Stiftung Kathy Beys“ (s. http://www.aachener-stiftung.de/)
** http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Nachhaltigkeitsstrategie/_node.html
*** http://www.nachhaltigkeitsrat.de/presseinformationen/pressemitteilungen/dan-2013-12-12-2012/
**** (http://www.bundesregierung.de/Content/DE/-Anlagen/2013/2013–12-17-koalitionsvertrag. pdf?– blob=publicationfile&v=2)
***** http://www.muenchen.de/rathaus/dms/Home/Stadtverwaltung/Sozialreferat/jugendamt/Fachthe- men/PDF/grundsatzpapier2011/grundsatzpapier_Dr._Kurz_Adam_2011.pdf.
Literatur
ISA (Hg.) (2010): Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Abschlussbericht der Evaluation des Bundesmodellprogramms „Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarungen nach §§ 78a ff. SGB VIII. Band 10. Münster.