Kinderschutz in Gefahr
Kinderschutz in Gefahr – Der Inobhutnahme fehlen massiv die Plätze und Mitarbeiter*innen
Nach ersten Hinweisen aus der Metropolregion Rhein-Main, dass die Inobhutnahme massiv unter Druck stehe und nicht ausreichende Plätze mehr zur Verfügung stünden, hat die IGfH die Fachgruppe Inobhutnahme (mit aktuell 30 Mitgliedern öffentlicher und freier Träger aus der gesamten Bundesrepublik) um eine Einschätzung gebeten. Die Rückmeldungen aus dem August 2022 zeigen, dass sich die Situation der Inobhutnahme in Deutschland bundesweit verschärft hat und der Kinderschutz in einigen Kommunen kurz vor dem Kollaps steht. Doch was ist passiert?
Anfang 2022 – Kurz vor dem Rückbau von Plätzen
Nach der großen Anzahl von schutzsuchenden unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten ( umF ) im Jahr 2015 gab es bundesweit einen Ausbau von Inobhutnahme-Plätzen. Die Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigt, dass die Zahlen vor der Coronapandemie auch ohne umF auf einem hohen Niveau geblieben sind. Während der Pandemie mit den Schließungen von Regeleinrichtungen (KiTa, Schule) ist die Zahl der Inobhutnahmen gesunken und die Praxis berichtete von vielen freien Plätzen. Ein erwarteter Anstieg der Inobhutnahmen nach der pandemischen Lage blieb aus. Die Praxis berichtet, dass Ende 2021 und Anfang 2022 daher viele Plätze „unbelegt“ waren und die Träger den Abbau von Plätzen zum Teil beschlossen hatten. Die Auswertung der Kinder- und Jugendhilfestatistik in KomDat 2/2022 bezieht sich auf 2021 und bildet damit diese Entwicklung ab. Ab Frühjahr 2022 – so die Berichte aus der Praxis – verändert sich die Situation in der Inobhutnahme deutlich
Aktuelle Situation: Keine Plätze, fehlende Anschlusshilfen und kein Personal
Die Mitglieder der Fachgruppe Inobhutnahme und weitere Kolleg*innen berichten im August 2022, dass die vorhandenen Plätze seit Wochen alle belegt seien und Kinder und Jugendliche kaum bis gar nicht mehr aufgenommen werden können. Der Anstieg der Anfragen ist besonders im Bereich der jüngeren Kinder deutlich gewachsen. Einrichtungen werden gegenwärtig bundesweit von Jugendämtern angefragt, da diese in ihrer Region keine freien Plätze zur Verfügung haben. Es wird punktuell berichtet, dass die Einschätzung der Jugendämter über nichtabwendbare Kindeswohlgefährdungen sich der schwierigen Situation angepasst habe: Es werde nun abgewogen, bei welchem Kind die Kindeswohlgefährdung „größer oder dringlicher“ sei und in Obhut genommen werden müsse.
Die Gründe seien sehr vielfältig: Es fehle in der Inobhutnahme an Fachkräften, sodass ganze Gruppen geschlossen werden mussten. Weiterhin gebe es keine Anschlusshilfen für die jungen Menschen, da auch hier der Fachkräftemangel zu einem Rückbau der Angebote geführt habe. Die Verweildauern in der Inobhutnahme steigen daher stark, vor allem bei jungen Menschen, die als schwierig „etikettiert“ werden. Dies führe, so ein Kollege, dazu, dass die Situation in den Inobhutnahmestellen zunehmend „explosiver“ werde. Daneben wird berichtet, dass die Arbeitsbedingungen in der stationären Hilfe wie der Inobhutnahme und Wohngruppen für viele Fachkräfte sehr unattraktiv seien und sie durch die Ausbildungsstellen ungenügend darauf vorbereitet bzw. ausgebildet würden (vgl. hierzu auch ForE 3/2022).
Es besteht, so zeigen die vielfältigen Berichte, ein dringender Handlungsbedarf, die Inobhutnahme zu unterstützen. Es sind geeignete Mitarbeiter*innen und ausreichend Plätze notwendig, um dem staatlichen Auftrag der Abwendung von Kindeswohlgefährdung dauerhaft nachzukommen. Es muss dringend vermieden werden, dass Kindeswohlgefährdungen gegeneinander abgewogen werden müssen, da die notwendigen Plätze nicht vorhanden sind. Weiterhin braucht es eine valide Analyse der Situation, wie es zu dieser Belastung und zum Teil Überforderung des Inobhutnahmesystems in so kurzer Zeit kommen konnte.
Matthias Röder, Leiter des Jugendamtes Darmstadt-Dieburg, ma.roeder@ladadi.de
Stefan Wedermann, Fachreferent Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen, stefan.wedermann@igfh.de