Arbeitsbedingungen

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter*innen der Kinder- und Jugendhilfe werden wesentlich durch die finanziellen Möglichkeiten und Grenzen (oder: den finanziellen Gestaltungsraum) beeinflusst, die zur Verfügung stehen. Sie sind u. a. dafür ausschlaggebend, welche Hilfen in welchem Umfang den Betroffenen zuteilwerden, welche Ausstattung bspw. ein Arbeitsplatz hat sowie welche Höhe die Vergütung der beruflichen Tätigkeit umfasst. Mit Inan- spruchnahme der subjektiven Leistungen bspw. auf Hilfen zur Erziehung und mit der Präzisierung des gesetzlichen Schutzauftrages der Jugendhilfe und der damit verbundenen erhöhten Sensibilität für dieses Thema in der Öffentlichkeit sind in den letzten zehn Jahren Umfang und Kosten der Hilfen zur Erziehung stetig gestiegen. Diese Entwicklung erzeugte – auf dem Hintergrund leerer öffentlicher Kassen – gleichzeitig einen enormen Spardruck auf den Bereich der Hilfen zur Erziehung mit gravierenden Folgen für den Rahmen und die Arbeitsbedingungen in diesem Tätigkeitsfeld.

Die Mitarbeiter*innen (bei öffentlichen und freien Trägern) erleben bei ihrer täglichen Arbeit ein Spannungsfeld zwischen pädagogischem Anspruch, Schutzauftrag, institutionellen Zwängen und mangelnden Ressourcen. Dieses soll, ergänzt um die Perspektiven von Belastungen, Effekten, aber auch Eckpunkten für ein vernünftigeres System, im Folgenden skizziert werden.

 

Arbeitsbedingungen in den Jugendämtern

In einem Diskussionspapier der Bundesarbeitsgemeinschaft der Allgemeinen Sozialen Dienste vom August 2013 (BAG ASD /KSD) wird die Situation für die Mitarbeiter*innen in den Jugendämtern als prekär beschrieben. Es wird festgestellt, dass die berufliche Identität der Fachkräfte angesichts der großen Belastungen und des hohen Handlungsrisikos unter dem Vorzeichen des Kinderschutzes bedroht sei.

Ähnliches konstatierte Marie-Luise Conen schon 2011 in ihrem Buch „Ungehorsam – eine Überlebensstrategie“ und dann in ihrem Artikel „Was ist los in den Jugendämtern?“ (Conen 2012). Die Praktiker in den Jugendämtern stehen unter enormem Finanzdruck, müssen bei Kostenüberschreitungen regelmäßig ihre Hilfeentscheidungen rechtfertigen und sehen sich mitunter gezwungen, ihre eigenen fachlichen Standards zu verlassen. „Die Fallbelastung und damit die Arbeitsverdichtung sind gewaltig, nicht selten sind 120–150 Klienten zu betreuen, wovon 40–50 dem Kreis der ‚Multiproblemfamilien‘ zuzurechnen sind.“ (Conen 2011: 89) Schließlich nehmen bürokratische Regelungen und aufwendige Dokumentationssysteme beständig zu und schränken die eigenverantwortlichen Gestaltungsmöglichkeiten und damit auch die Arbeitszufriedenheit ein.

Immer häufiger melden sich auch Jugendämter in Brandbriefen selbst zu Wort und beklagen die nicht tragbare Personalsituation. So schreibt die Jugendamtsleitung von Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin in einem offenen Brief vom 24.09.2013 an ihren Bezirksbürgermeister, dass mehr als ein Viertel der Mitarbeiter*innen älter als 60 Jahre seien. Gleichzeitig wären mehr als 10 % der vorhandenen Stellen über einen langen Zeitraum unbesetzt und die weitere Abwanderung von Mitarbeiter*innen, die unzureichende Zahl von geeigneten Bewerber*innen und das langfristige Einstellungsverfahren würden die Engpässe noch absehbar verschärfen und so die Leistungsfähigkeit des Amtes insgesamt infragestellen.

 

Arbeitsbedingungen und -belastungen bei Freien Trägern

Auf den Spardruck, der auf den Hilfen zur Erziehung lastet, wurde oben bereits hingewiesen. An den zugespitzten Bedingungen in Berlin – und insbesondere im Angebotsbereich der ambulanten Hilfen – lassen sich die Auswirkungen augenfällig beschreiben. Regelmäßig fallen die Fortschreibungen der Kostensätze weit geringer aus als die Preissteigerungsraten und Tariferhöhungen. So blieben die Mittel für Sachkosten innerhalb des Fachleistungsstundensatzes von 2002 bis 2013 unverändert, während der Anstieg der Verbraucherpreise in dieser Zeit 19,35 % betrug. Es gab im öffentlichen Dienst in Berlin seit 2002 tarifliche Steigerungen in Höhe von insgesamt 17,7 %, während der Satz der Fachleistungsstunde im gleichen Zeitraum lediglich um 6,9 % angehoben wurde. In der Konsequenz können die Träger ihren Mitarbeiter*innen die vergleichbaren Lohnerhöhungen wie im öffentlichen Beschäftigungsbereich nicht mehr bezahlen. Zusätzlich ist das wirtschaftliche Risiko sehr einseitig verteilt. Eine Auslastungsquote von 95 % und eine sehr schwankende Beauftragung durch die Jugendämter erfordern ein hohes Maß an Flexibilität.

In der Folge gibt es im Angebotsbereich der ambulanten Hilfen in Berlin fast nur noch Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse, die sich bei stärkerer Anfrage entsprechend aufstocken lassen. Einige Träger sind sogar dazu übergegangen, kapazitätsorientierte Arbeitsverträge zu schließen, die sich synchron zum Auftragsvolumen bewegen. Die Konsequenzen für die Mitarbeiter*innen sind bitter. Neben den hohen Anforderungen an die pädagogische Arbeit mit stark problembelasteten Kindern und Familien müssen sie sich auch noch beständig um die Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes sorgen. Für ein ausreichendes Monatseinkommen sind sie auf Nebentätigkeiten angewiesen bzw. finden sich im Extremfall gemeinsam mit den Betreuten auf der gleichen Wartebank des Jobcenters wieder, um ergänzende Unterstützung zu beantragen.

 

Schließlich wurde das durchschnittliche und fachlich für notwendig erachtete Stundenbudget für ambulante Hilfen in den letzten zehn Jahren auf die Hälfte verringert. Waren 2003 in der Leistungsbeschreibung noch neun Stunden für die fallbezogene Zeit einer Familienhilfe in der Woche veranschlagt, sind es 2013 nur noch 4–4,5 Stunden. Abgesehen von der fachlichen Bewertung dieser Entwicklung für die Betreuten ergibt sich daraus für die Mitarbeitenden eine hohe Arbeitsverdichtung. Statt drei bis vier müssten jetzt sieben bis acht Familien „bearbeitet“ werden, um eine Vollzeitstelle auszufüllen. Wegezeiten sind dabei nicht eingerechnet, da sie im Fachleistungsstundensatz ohnehin nicht finanziert werden.

 

Folgeerscheinungen

Die Rahmenbedingungen eines Arbeitsbereiches werden immer auch nach der politischen Priorität und dem gesellschaftlichen Stellenwert bestimmt, der ihm beigemessen wird. Gerade die finanzielle Lage der Jugendhilfe entspringt kei- ner finanztechnischen Zwangsläufigkeit, sondern ist das Ergebnis politischer Prioritäten und Rahmensetzungen. Dafür muss letztlich die Frage beantwortet werden: Wie viel Jugendhilfe wollen wir uns in Deutschland leisten? Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhang das Bundesland Berlin ein, das bei einem Schuldenstand von rund 40 Milliarden Euro Ende 2001 der Jugendhilfe eine radikale Kürzung innerhalb von fünf Jahren um 35 % (von 451 Millionen im Jahr 2002 auf 290 Millionen Euro im Jahr 2007) verordnete. Berlins Schuldenstand liegt inzwischen (Ende 2012) bei rund 60 Milliarden Euro, die Jugendhilfe leidet immer noch unter den rigiden Sparvorgaben und einem unsinnigen System der Mittelzuweisung nach mittleren Stückkosten (Median) des vorvergangenen Jahres.

Gleichzeitig leistet sich das Land einen Flughafen, der ein Vielfaches der geplanten Kosten schon verschlungen hat, nicht fertig wird und alleine für die Unterhaltung des ungenutzten Areals monatlich 20 Millionen Euro verbraucht (Spiegel online 27.05.2013).

Die Hilfen zur Erziehung standen als „Reparaturbetrieb“ familiärer Auffälligkeiten noch nie in besonders hohem Ansehen. Über den in den letzten zehn Jahren aufgebauten Kostendruck bei gleichzeitig empfindlicher Gewährleistungsverpflichtung wird jetzt zusätzlich noch der Eindruck erweckt, dass dort unter dem Diktat des individuellen Rechtsanspruchs Steuergeld in hohem Maße verausgabt wird, während gleichzeitig die Sinnhaftigkeit und die Effektivität infrage stehen (siehe auch Artikel im Tagesspiegel „Familienhilfe“ vom 20.08.2011).

Von vielen Mitarbeiter*innen der öffentlichen wie auch der freien Jugendhilfe wird die Tendenz dieser sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch in den Medien geführten Debatte stark demotivierend erlebt. Für die meisten war Triebfeder für ihre Berufswahl – anders als in anderen Branchen – nicht die (ohnehin vergleichsweise magere) Bezahlung, sondern der Wunsch nach einer erfüllten Tätigkeit im Dienst des Gemeinwesens. Wird die Sinnhaftigkeit dieser Tätigkeit aber im öffentlichen Diskurs massiv in Zweifel gezogen, beginnt das Fundament der beruflichen Identität zu wackeln. Verstärkt werden die Zweifel bei den Mitarbeiter*innen der freien Träger noch durch die unzureichende und unsichere finanzielle Absicherung. Zunahme von Druck bei gleichzeitiger Abnahme von (gesellschaftlicher und finanzieller) Wertschätzung führen vielfach zum Gefühl der Überlastung und in die Krankheit.

Wo keine befriedigenden, wertschätzenden und existenzsichernden Arbeitsbedingungen geboten werden können, schwinden auch die Bindungskräfte für die Mitarbeitenden. Junge und flexible Kolleg*innen halten nach anderen, attraktiveren beruflichen Möglichkeiten Ausschau, viele Ältere gehen in eine Art „Duchhaltemodus“ und sehnen sich nach dem Ruhestand. Für den beruflichen Nachwuchs sind dies fatale Signale. Wer möchte schon in einem Tätigkeitsbereich arbeiten, der schlecht bezahlt, hoch anspruchsvoll und in der gesellschaftlichen Rangordnung in den unteren Regionen angesiedelt ist. Anders als vor zehn Jahren, sieht inzwischen auch die Bewerber*innenlage für freie Stellen sehr dürftig aus. Ähnlich wie im Kitabereich, der durch seinen Stellenzuwachs ernsthafte Personalprobleme hat, droht auch bei den Hilfen zur Erziehung ein zunehmender Fachkräftemangel, der unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht lösbar ist.

 

Wege aus dem Dilemma

Offenbar bieten die gegenwärtige Organisationsform und der Rahmen der Hilfen zur Erziehung keine Lösungsmöglichkeiten für die bestehenden Problemlagen – weder bei der Kostenentwicklung noch bei den Arbeitsbedingungen. Die Versuche, durch verstärktes Controlling, Steuerung und Wirkungsmessung die Kosten einzufangen, waren bisher erfolglos. Offenbar ist es eine Illusion zu glauben, das Maß der Effektivität und der Kostenreduzierung ließe sich durch eine wachsende Verpflichtung zur Dokumentation und Steuerung erhöhen.

Alle Wirkungsuntersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass der Erfolg von pädagogischer Arbeit auf dem gelungenen Arbeitsbündnis und der vertrauensvollen Beziehung zwischen den Akteuren basiert. Wenn sich der Betreute als Fall behandelt sieht, der möglichst zeit- und kostensparend gemanagt werden soll, verweigert er sich vielfach der Zusammenarbeit und taucht einige Zeit später oftmals mit komplexeren (und kostenintensiver zu „bearbeitenden“) Problemlagen wieder auf.

 

Um aus der Negativspirale von Kostensteigerungen, bedrückenden Arbeitsbedingungen und Problemverschiebungen herauszukommen, helfen betriebswirtschaftliche Rezepte und Terminologien aus dem Marktgeschehen offenbar wenig. Es bedarf eines grundlegenden Systemwechsels, ohne dabei das hohe Gut des Rechtsanspruchs nach individueller Hilfe infrage zu stellen. Zentrales Wirkungsprinzip einer neuen Strategie kann nicht ein immer umfassenderes Controlling, sondern muss die Qualität der Kommunikation auf den unterschiedlichen Ebenen des Hilfeprozesses sein: zwischen Pädagog*innen und Adressat*innen der Hilfe, mit dem Umfeld des Hilfesuchenden, zwischen Auftraggeber*in und Auftragnehmer*in der Hilfeleistung. Nicht ein möglichst enges Korsett bringt produktive und kreative Lösungen hervor, sondern ein klarer Rahmen, innerhalb dessen flexibel nach dem individuellen Bedarf Ziele ausgehandelt, angesteuert und ihre Umsetzung in vernünftigen Zeitabständen überprüft werden können. Hilfekonferenz und Hilfeplanung sind dafür die gesetzlich beschriebenen und geeigneten Instrumente. Ein auskömmliches Budget, gesicherte Arbeitsverhältnisse und eine verlässliche Kooperationsbasis sind die Voraussetzungen für ein vertrauensvolles Zusammenwirken der Fachkräfte der öffentlichen und freien Jugendhilfe, das erst ein motiviertes und effektives Arbeiten zusammen ermöglicht.

Auf einem erfolgreichen Weg scheint beispielsweise die Landeshauptstadt Hannover zu sein (Darstellung auf der Fachtagung des Deutschen Vereins „Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung“ im Oktober 2013). Im Sinne von regionalen Versorgungsaufträgen werden seit mehr als zehn Jahren mit freien Trägern Verträge über ein festgelegtes jährliches Budget und den Einsatz von „Planstellen“ zur Durchführung der ambulanten Erziehungshilfen in 13 Stadtbezirken abgeschlossen. Gleichzeitig wurde beim Jugendamt auf der Basis eines externen Organisationsgutachtens die Stellenausstattung auf ein tragfähiges Niveau angehoben. Das System bringt ein hohes Maß an Sicherheit für die Träger und ihre Beschäftigten sowie die Adressat*innen der Hilfe. Die Steuerung der Hilfeplanung bleibt beim Jugendamt. Über Standards, Qualität und Wirkung der Hilfen findet zwischen der öffentlichen und der freien Jugendhilfe ein intensiver Dialog statt. Im Ergebnis wird berichtet, dass die Zufriedenheit sowohl bei den Mitarbeiter*innen des Jugendamtes als auch bei denen der freien Träger hoch ist, das Wunsch- und Wahlrecht der Hilfesuchenden durch die Trägervielfalt bestehen bleibt und die mit der Kämmerei jährlich ausgehandelten Budgets eingehalten werden können.

Voraussetzung für diese Entwicklung war allerdings, dass es gelungen ist, alle vor Ort tätigen Leistungserbringer in das Verfahren einzubeziehen. Dies ist sicherlich nicht an allen Orten der Bundesrepublik realistisch.

Um den Weg für die breite Erprobung eines solchen neuen Jugendhilfemodells zu bereiten, bedarf es entsprechender (mit dem EU-Recht abgestimmter) gesetzlicher Veränderungen. Gleichzeitig bedarf es aber auch auskömmlicher Budgetansätze, die dann unter Wahrung des individuellen Rechtsanspruchs in gemeinsamer Verantwortung bewirtschaftet werden. Die Jugendhilfe ist kein wirtschaftliches Marktgeschehen, das nach den Grundsätzen  von Angebot und Nachfrage organisiert werden kann. Stattdessen sollte die Richtung lauten: Vom Preiskampf zum Qualitätswettbewerb. Alle am Hilfeprozess Beteiligten – Hilfesuchende, Mitarbeiter*innen der freien und der öffentlichen – Träger werden davon profitieren.

 

Literatur

  • Conen, M. (2011): Ungehorsam – eine Überlebensstrategie. Professionelle Helfer zwi- schen Realität und Qualität. Heidelberg.
  • Conen, M. (2012): Was ist los in den Jugendämtern? In: Forum Erziehungshilfen, 18. Jg./Heft 5, S. 174–178.