Qualität
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Vorbemerkung
Kinder- und Jugendhilfe übernimmt öffentlich Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kindern (vgl. BMFSJ 2013): Sie ist für die frühe Förderung, Bildung und Betreuung von Kindern, Jugendlichen und jungen Heranwach- senden innerhalb und außerhalb von Familien zuständig. Sie berät und unterstützt Eltern, die Hilfe bei der Bildung und Erziehung ihrer Kinder benötigen. Darüber hinaus ist sie für den Schutz von Kindern verantwortlich, deren Wohl bedroht ist. Ihr gesellschaftlicher Auftrag bringt es mit sich, dass sie vielfältigen Zielen und Interessen entsprechen muss. Zugleich ist sie sozialpolitisch und rechtlich dazu angehalten, für die Qualität ihrer „Produkte“ bzw. Leistungen öffentlich Verantwortung zu übernehmen. Sie ist von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst, die zur Ausdehnung ihres Leistungsspektrums und zu erhöhten Ansprüchen in der Politik und in der Öffentlichkeit geführt haben. Durch die Aufwertung und den Ausbau der Kindertagesbetreuung, durch den Bedeutungszuwachs Früher Hilfen und die Verlagerung von offenen Freizeit- und Bildungsangeboten an den Lebensort Schule ist Kinder- und Jugendhilfe regelrecht zu einer Wachstumsbranche auf dem Arbeitsmarkt geworden (vgl. BMFSJ 2013: 38 u. 48). Damit verbunden sind Verschiebungen im Verhältnis von öffentlicher und privater Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern, Jugendlichen und jungen Heranwachsenden. Sie werden zu neuen Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe führen, insbesondere wenn es darum geht, ihre „Produkte“ bzw. Leistungen, die naturgemäß starken Qualitätsschwankungen unterliegen (vgl. Hirschman 1988: 46 ff.), auf einem für die Gesellschaft akzeptablen und kostengünstigen Niveau zu gestalten.
Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe: was ist das?
Qualität ist ein relationaler und kein absoluter Begriff; verschiedene Interessen und Normen bestimmen die Beschaffenheit von Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Merchel 2013: 39 ff.). Sie kann wie Beckmann und seine Mitautorinnen und -autoren im Anschluss an Harvey und Green ausführen, „bestimmt werden als die Relation zwischen a) Leistung und einem vorab definierten Standard (‚Exzellenz‘), b) Erbringungsprozess und Prozessspezifikation (‚Perfektion‘), c) Ergebnis und den Erwartungen des Adressaten oder Produzenten (‚Zweckmäßigkeit‘), d) Ergebnis und Ressourceneinsatz (‚adäquater Gegenwert‘) und e) Ergebnis und ausgelöstes Entwicklungspotenzial des Adressaten (‚Transformation‘)“ (Beckmann et al. 2004: 10 f.). Ob „Produkte“ bzw. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sich durch Qualität auszeichnen, hängt vom Standpunkt des Beobachters und seinem vorhandenen Qualitätswissen ab. Urteile über die Qualität der Kinder- und Jugendhilfe sind normative Konstruktionen. Sie sind orientiert an Bewertungsmaßstäben, die von sich verändernden soziokulturellen Vorstellungen über Bedingungen des Aufwachsens von Kindern, Jugendlichen und jungen Heranwachsenden abhängen. Das, was man unter Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe versteht, wie man sie definitorisch fasst und deutet, ist auslegungsbedürftig. Qualität ist nicht einfach gegeben. Sie muss mit unterschiedlichen Akteuren ausgehandelt und kann nicht einfach angeordnet oder gesteuert werden. Sie muss im Dialog entwickelt und mit Leben erfüllt werden. Jedenfalls kann sie nicht einfach mittels betriebswirtschaftlich konnotierter Qualitätsmanagementansätze festgestellt, reguliert und kontrolliert werden (Wolff 2010). Um zu bestimmen, was Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe ausmacht und wie teuer sie sein darf, bedarf es daher Modelle kooperativer Qualitätsentwicklung (Jugendamt der Stadt Dormagen in Zusammenarbeit mit Reinhart Wolff 2011; Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen 2001). In der Praxis sind jedoch oftmals Ansätze dominierend, die der Verfahrensstandardisierung und weniger der reflexiven Selbstklärung und organisationalem Lernen dienen – Verfahren, die tendenziell nicht auf das Lernen aus Fehlern und auf die Verbesserung der Praxis zielen, sondern darauf, professionelles Verhalten zu normieren und zu kontrollieren (Biesel 2011b).
Doch wie lässt sich erklären, dass Qualität trotz seines Diskurscharakters und seiner dialogischen Beschaffenheit (Merchel 2013: 44) in der Kinder- und Jugendhilfe nicht immer mehrseitig unter Einbezug verschiedener Interessenträger entwickelt und gesichert, sondern lieber von oben angeordnet oder durchgesetzt wird? Oder anders gefragt: Warum stagniert bzw. misslingt der Aufbruch zur Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder?
Stand und Perspektiven der Weiterentwicklung und Sicherstellung von Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe
Die Weiterentwicklung und Sicherstellung von Qualität ist für die Kinder- und Jugendhilfe eigentlich kein neues Thema. Schon immer gab es im Feld Auseinandersetzungen über ihre Professionalität oder darüber, wie man sie am sinnvollsten organisieren sollte (s. exempl.: Peters 2004: 155). Spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre ist die Kinder- und Jugendhilfe jedoch mit neuen Legitimationserfordernissen konfrontiert (vgl. Merchel 2013: 17–38). Durch den Umbau des Sozialstaats im flexiblen Kapitalismus (s. exempl.: Boltanski/Chiapello 2003; Lessenich 2009), durch die Ökonomisierung Sozialer Arbeit und das Aufkommen von Strategien des New Public Management in der öffentlichen Verwaltung wurde sie verstärkt dazu gedrängt, Qualität zu managen.
Zwar sind Strukturmaximen einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe (vgl. BMJFG 1990, S. 85 ff.) wie Prävention, Dezentralisierung/Regionalisierung, Alltagsorientierung, Integration, Normalisierung und Partizipation nach wie vor wichtige Referenzpunkte. Sie werden aber zunehmend von managerialen Ansätzen zur Steuerung und Kontrolle von „Produkten“ bzw. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe überformt (vgl. Messmer/Schnurr 2013; Otto/ Ziegler 2011). Weiter gefasst, kann das gesteigerte, allerdings inzwischen auch wieder abflauende, Interesse an Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe insofern auch als neo-soziales Modernisierungsprojekt aufgefasst werden. Es zielt darauf ab, Kinder- und Jugendhilfe jenseits des Wohlfahrtsstaates im flexiblen Kapitalismus zu organisieren. Dieses Projekt geht von folgenden Grundannahmen aus (vgl. Merchel 2013: 17–38):
- Kinder- und Jugendhilfe ist modernisierungsbedürftig; ohne Markt und Wettbewerb werden keine sozialen Innovationen hervorgebracht.
- Sie ist durch Strukturmängel und Fehler gekennzeichnet. Sie unterliegt einem Technologiedefizit. Ihr Handeln ist nur bedingt methodisierbar. Ihre Qualität und ihre Wirkungen sind zweifelhaft.
- Ihre Koordinierungs- und Steuerungsformen sind ineffizient und intransparent. Sie entsprechen nur in Ansätzen betriebswirtschaftlichen Rationalitätskriterien.
- Nur durch den Einsatz von wettbewerbs- und marktförmigen Steuerungsinstrumenten lassen sich die Effektivität, Effizienz und Qualität der Kinder- und Jugendhilfe verbessern.
Diesen Grundannahmen folgend, wurden in den letzten zwanzig Jahren auf Bundesebene erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Effektivität, Effizienz und Qualität der Kinder- und Jugendhilfe zu verbessern. Davon zeugen nicht zuletzt die „Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe“, die von 1995 bis 2001 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ( BMFSFJ ) herausgegeben wurden. Aber auch andere Initiativen des Bundes wie das Projekt „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ (Albus et al. 2010) oder das erst kürzlich abgeschlossene Projekt „Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz“ (Wolff et al. 2013b) verdeutlichen, dass das Managen von Qualität als eine adäquate Form sozialpolitischer Steuerung betrachtet wird. So überrascht auch nicht, dass die Auseinandersetzungen über Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe auch zu (Neu-)Regelungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) geführt haben. Sie betreffen Kindertageseinrichtungen (§ 22a SGB VIII), teilstationäre und stationäre Einrichtungen erzieherischer Hilfen (§ 78b SGB VIII) sowie Jugendämter (§ 79 und § 79a SGB VIII). Sie verweisen darauf, dass Qualität einrichtungsintern und -übergreifend weiterentwickelt und gesichert werden soll. Trotz der gesetzlichen Pflicht zur Entwicklung und Sicherung von Qualität kann in der Kinder- und Jugendhilfe allerdings eine gewisse Stagnation ausgemacht werden. Qualität ist längst nicht mehr in aller Munde. Sie ist kein Modethema mehr. Die Erwartungen, die im Feld mit der Hinwendung zur Qualität verbunden waren, wurden nicht oder nur teilweise erfüllt, oder aber es haben sich in der Praxis inzwischen alle daran gewöhnt, dass Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe gemanagt werden muss (vgl. Merchel 2013: 212 f.).
Erst im Zuge der medialen Erörterung gescheiterter Kinderschutzfälle (vgl. Fegert/Ziegenhain/Fangerau 2010) und der Aufdeckung sexueller Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen (Deutsches Jugendinstitut e.V. 2011) hat das Managen von Qualität eine Renaissance in der Kinder- und Jugendhilfe erfahren. Seit einigen Jahren werden wieder neue Debatten über die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Kinder- und Jugendhilfe geführt. Es wird darüber nachgedacht, wie man nicht nur einrichtungsintern und -übergreifend, sondern auch professionsübergreifend Qualität im kommunalen Kinderschutz dialogisch entwickeln und sichern kann (Wolff et al. 2013a). Damit verbunden sind Diskussionen über Strategien des Risiko- und Fehlermanagements (s. exempl.: Amt für Soziale Dienste Bremen/Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung e.V. 2010; Biesel 2011a; Biesel 2012) sowie über adäquate Formen der Ombudschaft und des Beschwerdemanagements in der Kinder- und Jugendhilfe (Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Deutschen Institut für Urbanistik 2013; Urban-Stahl 2011).
Kritiker der Qualitätsdebatte geben allerdings bis heute zu bedenken, dass Kinder- und Jugendhilfe durch die Einführung und Anwendung von Modellen des Qualitätsmanagements Gefahr läuft, betriebswirtschaftlich fremdbestimmt zu werden (vgl. Seithe 2010: 134 ff.; Speck 1999). Flösser und Oechler (2004) weisen nicht von ungefähr darauf hin, dass die verheißungsvolle Qualitätsdebatte einen pragmatischen Zug erfahren hat und dass weniger über Qualität als über geeignete Modelle des Qualitätsmanagements nachgedacht wird. Damit verbunden seien Chancen und Risiken, die auf der sozialpolitischen, organisatorischen, professionellen Ebene und auf der Ebene der Nutzerinnen und Nutzer personenenbezogener sozialer Dienstleistungen zu verorten seien. Insbesondere bestehe durch die Einführung und Anwendung von Qualitätsmanagementmodellen die Gefahr, „einer weitflächigen Deprofessionalisierung“ (a. a. O.: 181), sofern es nicht gelinge, „Standards, Verfahrens- oder sogar Handlungsanweisen“ (ebd.) zu entwickeln, die den Praxisbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe entsprächen. Zudem müsse darauf achtgegeben werden, dass Kinder, Jugendliche und ihre Familien bei der Entwicklung und Sicherung von Qualität einbezogen würden, damit ihre Urteile von den Fachkräften nicht, wie zu befürchten sei, „als unqualifizierte Meinungsäußerungen“ (a. a. O.: 182) gedeutet würden. Hierfür seien allerdings Modelle des Beschwerdemanagements notwendig (ebd.), die zwar nach einiger Verspätung inzwischen auch Eingang in die Kinder- und Jugendhilfe gefunden haben, aber immer noch nicht flächendeckend etabliert sind (siehe hierzu: Urban-Stahl 2011).
Fazit
Die Notwendigkeit, Qualität zu entwickeln und zu sichern, ist von der Kinder- und Jugendhilfe nicht selbst entdeckt und als Thema aufgegriffen worden. Das Managen von Qualität wurde per Gesetz angeordnet. Es ist erst wieder im Zuge der Debatten über einen wirksamen Kinderschutz ins Bewusstsein der Kinder- und Jugendhilfe gerückt. Zudem belasten andere Fachthemen den Aufbruch zur Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe, wie z. B. die Einlösung der verfahrensbezogenen und methodischen Implikationen des § 8a SGB VIII und der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII, das Dauerthema Frühe Hilfen, das Versprechen der Inklusion („große Lösung“) etc. Dennoch ist Qualität für die Legitimation der Kinder- und Jugendhilfe wichtig. Ihre Entwicklung und Sicherung muss aus diesem Grund zum integralen Bestandteil der Praxis werden und unter Einbezug von Nutzerinnen und Nutzer erfolgen. Sie darf jedenfalls nicht nur dafür beauftragten Fachpersonen überlassen bleiben. Auch darf sie nicht zur verfahrensmäßigen Einengung und Überformung der Praxis führen. Stattdessen sollte die Entwicklung und Sicherung von Qualität zu mehr Achtsamkeit, Zuverlässigkeit und Fehleroffenheit bei der Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistungen führen. Hierfür wären allerdings mehrjährige Qualitätsentwicklungsoffensiven, ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen sowie lernfähige Organisationen notwendig.
Zwar sind vielfältige Bemühungen um Qualität in der Kinder- und Jugendhilfe zu beobachten (z. B. neue Formen der Fallberatung und der Hilfeplanung, Ansätze des Lernens aus Fehlern und aus Erfolgen, alternative Formen stationärer Unterbringung usw.). Gegenwärtig ist die Kinder- und Jugendhilfe aber mehr damit beschäftigt, ihre bislang erreichte Professionalität aufrechtzuerhalten, als dass sie sich hinreichend um Qualität bemühen kann. Es kann insofern davon ausgegangen werden, dass mit der Zunahme an öffentlicher Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kindern und der damit verbundenen Ausdehnung ihres Aufgabenspektrums die Qualität der Kinder- und Jugendhilfe eher sinken als steigen wird – es sei denn, die Kinder- und Jugendhilfe schafft es, für sich zu bestimmen, unter welchen ökonomischen und sozialpolitischen Voraussetzungen sie Qualität im Interesse und unter Einbezug ihrer Nutzerinnen und Nutzer entwickeln und sichern kann.
Literatur
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