100 Jahre staatlich organisierte Kinder‐ und Jugendhilfe – Kontinuitäten und Brüche

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Erst Ende des 19. Jahrhunderts erfolgen insb. in Preußen Bestrebungen, die Jugendhilfe einheitlich zu organisieren – nicht zuletzt um den Einfluss der christlichen Rettungsvereine einzuschränken. Es ging aber auch darum, die Kontrolllücke zwischen Schule und Kaserne bzw. Arbeitsplatz − bezogen auf die proletarischen Jugendlichen − zu schließen. Zwar gab es schon seit 1910 in einigen Kommunen Jugendämter wie z. B. in Mainz, Kassel oder Hamburg, aber auf Reichsebene erfolgte die Vereinheitlichung der Jugendhilfe mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) vom 9. Juli 1922. Das RJWG gilt als Gesetz, das als erstes sozialpädagogische Grundsätze und das Recht auf Erziehung für alle deutschen Kinder und Jugendliche proklamiert. Erstmalig werden die Kommunen verpflichtet, eigenständige Jugendämter als sozialpädagogische Fachbehörden einzurichten u.v.m. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das RJWG in seinen wesentlichen Bestimmungen immer noch in Kraft, wird 1953 und 1961 als Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) überarbeitet. Da in zentralen Bereichen, vor allen Dingen bezüglich des umstrittenen „Subsidiaritätsprinzips“, der unterschiedlichen Familienbilder zwischen Sozialdemokratie und christlichen Parteien, der Frage eines einheitlichen Jugendrechts inkl. des Jugendstrafrechts, subjektive Rechtsansprüche u.v.m., kein Konsens erzielt werden konnte, blieb es im Grunde bei wenigen substanziellen Veränderungen. Obgleich das JWG bereits in den Endsechziger und frühen 1970er Jahren im Kontext der studentischen Protestbewegung und der APO sowie einer zunehmenden sozialwissenschaftlichen (Selbst-)Aufklärung breit kritisiert und ein Modernisierungsbedarf reklamiert wurde, benötigte es mehrere Anläufe zu einer Reform des Kinder- und Jugendhilferechts. Es dauerte dann auch fast 30 Jahre, bis 1989/1990 das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft trat. Die Besonderheit dieses Gesetzes, dass erstmals subjektive Leistungsansprüche rechtlich verbindlich geregelt werden, ist Segen und Fluch zugleich: „Segen“, weil es subjektiv rechtliche Ansprüche auf Hilfe/Unterstützung usw. gibt, „Fluch“, weil nach wie vor durch eine Vorabfeststellung eines (Erziehungs-)Defizits eine potenzielle Stigmatisierung der Hilfeberechtigten gegeben ist. 100 Jahre nach der Verabschiedung des RJWG, 30 Jahre nach Einführung des SGB VIII und insgesamt 69 kleinen und großen Änderungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes trat das KJSG am 10. Juni 2021 in Kraft.

Das vorliegende Heft richtet den Blick auf die wechselvolle Geschichte der rechtlichen Regelungen, fachlichen Entwicklungen und der damit einhergehenden Praxis. Peter Hansbauer und Reinhold Schone zeigen zunächst die historische Entwicklung der rechtlichen Grundlagen des heutigen deutschen Kinder- und Jugendhilfesystems und dessen gesellschaftlichen Hintergründe auf. Uwe Uhlendorff betont vor allem die Ideen und Motive zur Jugendhilfe, die vor dem Ersten Weltkrieg zur Entstehung des RJWG mit der Entstehung des Jugendamtes geführt haben. Carola Kuhlmann widmet sich den fachlichen, rechtlichen und sozialpolitischen Legitimationsversuchen und Kontinuitäten von autoritären und machtmissbrauchenden Erziehungspraxen des 19. Jahrhunderts bis heute. Mit solchen Kontinuitäten und Widersprüchlichkeiten beschäftigt sich auch Friedhelm Peters, der die Rolle des Subsidiaritätsprinzips in seiner geschichtlichen Verortung im Zuge der Einrichtung einer staatlich organisierten Kinder- und Jugendhilfe beleuchtet.
Jörg Maywald zeigt, dass ein erster Schritt zur Formulierung eigener Kinderrechte im deutschen Recht schon 1922 mit Inkrafttreten des RJWGs erfolgte, aber eine konsequente kinderrechtliche Orientierung, die auch den Vorrang des Kindeswohl enthält, weiterhin auch aktuell noch aussteht. Abschließend zeigt.
Michael Behnisch fünf Kern-Debatten auf, die epochenübergreifend (in den letzten 100 Jahren bis heute) stets neu aktiviert wurden/werden. Sie zeigen die Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Brüchen, Krisen und Reformen und verweisen aber auch auf die Besonderheiten der Handlungsbereiche (Heimerziehung, ambulante Hilfen, Pflegekinderwesen u. a.m.).


Josef Koch und Friedhelm Peters

Preis
€10.00
Seiten
64
Erscheinungsjahr
2022
Ausgabe
2
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2022