Kinderrechte

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Die Diskussion um die Umsetzung von Kinderrechten in der Erziehungshilfe wird seit mehr als zwei Jahrzehnten ununterbrochen geführt, wenn auch mit wechselnder Intensität und unterschiedlicher Akzentuierung: Angestoßen durch die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 (in Deutschland 1992 ratifiziert), erlebte die Rechtedebatte in der Erziehungshilfe ihren ersten Aufschwung gegen Mitte der 1990er-Jahre. Anfänglich kreiste sie vor allem um die Wahrnehmung und Umsetzung der Partizipationsrechte von Kindern und Jugendlichen sowohl in der Hilfeplanung als auch im Lebens- und Betreuungsalltag (vgl. BMFSFJ 1998). Im Anschluss an die Novellierung des SGB VIII im Jahr 1999 und die Einfügung der §§ 78a ff. wuchs das Interesse an Partizipationsrechten erneut: Als Folge notwendiger Koproduzentenschaft setzt eine qualitativ gute Dienstleistungserbringung, wie sie im Rahmen von Qualitätsentwicklungsvereinbarungen geregelt werden soll, zwangsläufig die Partizipation der Adressaten_innen, ebenso wie Anregungs- und Beschwerdeverfahren sowie Nutzer_innenbefragungen, voraus. Im Rahmen der durch das Bundeskinderschutzgesetz begründeten erneuten Reform des SGB VIII (2012) verknüpfte der Gesetzgeber Schutzrechte mit Partizipationsrechten, indem er die Anwendung von Partizipationsverfahren zur Voraussetzung für die Vergabe einer Betriebserlaubnis macht (§ 45 SGB VIII). Neuerdings wird nun als Folge der UN-Behindertenrechtskonvention verstärkt über Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung in die Erziehungshilfe diskutiert, womit auch Förderrechte von Kindern wieder stärker in den Fokus rücken.

Einerseits können diese Debatten durchaus Erfolge vorweisen, nicht zuletzt durch die Veränderung des gesetzlichen Rahmens, andererseits muss man aber ebenso konstatieren, dass die Wahrnehmung und Umsetzung von Kinderrechten in der Erziehungshilfe in toto noch immer weit hinter den rechtlichen Vorgaben und Möglichkeiten zurückbleibt. Das liegt auch daran, dass hier immer auch unterschiedliche (normative) Konzeptionen des Verhältnisses Kind-Erwachsener einfließen.

 

Die Umsetzung von Kinderrechten als Balanceakt?!

Lüscher (2003) unterscheidet idealtypisch drei Vorstellungen, wie das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen gesellschaftlich gedacht wird: Der erste Ansatz betont die spezifischen Bedürfnisse nach Erziehung und Schutz von Kindern und unterstreicht entwicklungsbedingte Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen. Entsprechend sollen Kinderinteressen eher stellvertretend und/oder anwaltlich vertreten werden, z. B. durch Fachkräfte, „Kinderanwälte“ oder Ombudspersonen. Die zweite Vorstellung verweist auf die Subjekthaftigkeit von Kindern und darauf, dass die Rechte, Bedürfnisse und Wünsche von Kindern prinzipiell gleichrangig mit denen der Erwachsenen sind. In dieser Ausrichtung werden vor allem direkte Formen der Beteiligung gefordert. Die dritte Vorstellung zielt auf die Gleichwertigkeit von Kinder- und Erwachseneninteressen. Kinderrechte werden hier einerseits als Förderungsverpflichtung der Eltern und der staatlichen Gemeinschaft gesehen, andererseits gilt es, Kindern die ihrem Alter angemessenen Selbstbestimmungs- und Beteiligungsrechte zu sichern. Hier knüpfen alle jene Ansätze an, die auf kindgerechte Beteiligungsmodelle setzen und im Rahmen derer sich Erwachsene für die Belange von Kindern einsetzen (vgl. Blandow/Gintzel/ Hansbauer 1999).

Die Um- und Durchsetzung von Kinderrechten steht also im direkten Zusammenhang mit den jeweils aktuell vorherrschenden Vorstellungen und Bildern von Kindheit: Die neben den Schutz- und Förderrechten historisch noch recht jungen Partizipationsrechte sind Ausdruck zunehmender Akzeptanz der Subjekthaftigkeit und Autonomie von Kindern und Jugendlichen. Alle neueren (sozial-)pädagogischen, psychologischen, demokratie- und bildungstheoretischen Ansätze betonen unisono die Notwendigkeit einer effektiven Selbstartikulation, Selbstaneignung, Selbstbestimmung, Selbstwirksamkeit und/oder Selbstbildung als Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (vgl. Hansbauer/Kriener 2006). Elternrechte sind gewissermaßen komplementär mit den Rechten von Kindern verkoppelt, d. h. in dem Maße, wie sich die Wahrnehmung von Kindern gesellschaftlich verändert, müssen auch gesellschaftlich dominante Erziehungsvorstellungen, Elternrollen und die Sorgeverantwortung der Eltern neu gedacht werden. Hier werden erkennbar Spannungsfelder deutlich: zwischen Kinder- und Elternrechten, zwischen Schutz- und Autonomiebedürfnissen von Kindern, im Hilfeverständnis zwischen paternalistischer Fürsorge und Lebensweltorientierung oder mit Blick auf die Umsetzung zwischen personeller und organisationaler Verantwortung. Nicht zuletzt daran, wie solche Spannungsfelder „gelöst“ oder ausbalanciert werden, machen sich Tempo, Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten in der Umsetzung von Kinderrechten fest.

 

Kinderechte: Entwicklungen und Ausblick

Die Umsetzung von Kinderrechten in der Erziehungshilfe sowie die zentralen Herausforderungen dabei lassen sich entlang der gängigen Unterscheidung der Kinderrechte in die so genannten drei großen P der UN-Kinderechtskonvention als Recht auf Schutz (protection), Recht auf Förderung (promotion) und Recht auf Beteiligung (participation) konkretisieren.

 

Schutzrechte (Protection)

Im Zentrum von Schutzrechten stand – auch historisch – meistens die Rettung von Kindern als Opfer von Gefährdung, Vernachlässigung und Misshandlung und nur selten deren Rolle als Prozessbeteiligte (vgl. Wolff u. a. 2013). Das ändert sich aktuell aufgrund der Partizipations- und Kinderrechtsdebatte in der Erziehungshilfe, die auch im Kinderschutz zu mehr Aufmerksamkeit für den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen führt. Aktueller Beleg ist hierfür die gesetzliche Regelung im Bundeskinderschutzgesetz (BuKischG), wonach in die Gefährdungseinschätzung und daraus folgenden Vereinbarungen nicht nur Erziehungsberechtigte, sondern auch Kinder und Jugendliche einzubeziehen sind. Der Zusatz „soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird“ macht allerdings deutlich, dass gerade im Kinderschutz das o.g. Spannungsfeld zwischen dem Bemühen um Schutz von Kindern und Jugendlichen und der Wahrung und Förderung ihres Selbstbestimmungsrechts besonders virulent ist. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Wolff u. a. (ebd.) in ihrer Studie zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Kinderschutz zu dem Ergebnis kommen, dass hier trotz einer breiten und notwendigen Orientierung am Konzept der Partizipation der Stimme von Kindern und Jugendlichen nach wie vor nur eine geringe Bedeutung zukommt. Sie werden als Objekte der Sorge von Erwachsenen oder als Opfer charakterisiert und selten als Akteur_in wahrgenommen. Noch immer werden Ort, Teilnehmende und Form der Beteiligung wesentlich durch die zuständigen Fachkräfte bestimmt.

Für eine stärkere Wahrnehmung der Stimme von Kindern und Jugendlichen im Kinderschutz gilt es, neben einer achtenden Haltung gegenüber Kindern und Jugendlichen und organisationaler Unterstützung, vor allem kinder- und jugendlichengerechte Zugänge und Settings zu schaffen, mit ihnen direkten Kontakt aufzunehmen, mit ihnen ihre Entwicklung, Situation und Perspektive zu erforschen sowie sie im weiteren Hilfeprozess zu beteiligen und die Ergebnisse zu evaluieren (vgl. Wolff u. a. 2013). Gefragt sind hier auch Amts-, Vereins- und Einzelvormünder, zumal das Gesetz zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts aus dem Jahr 2011 den Schutz von Kindern und Jugendlichen gestärkt hat, indem es Vormündern die Gewährleistung der Pflege und Erziehung persönlich überantwortet (§ 55 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB VIII), regelmäßige persönliche und monatliche Kontakte (§ 1793 Abs. 1 BGB ) sowie die Anhörung der Kinder und Jugendlichen zur Auswahl ihren Vormünder vorschreibt (§ 55 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VIII).

Eine weitere Herausforderung im Sinne von Schutzrechten stellt die Umsetzung von Beschwerde- und Partizipationsverfahren im Lebens- und Betreuungsalltag stationärer Einrichtungen dar (s. u.), deren Notwendigkeit insbesondere die Ergebnisse der Runden Tische „Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren“ und „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ unterstreichen. Mit der Regelung dieser Verfahren verbindet sich die Idee, „dass ‚starke‘ Kinder weniger leicht Opfer werden; die Sicherstellung von Schutzrechten Einrichtungen zur Entwicklung von Schutzkonzepten antreibt und dass öffentliche Aushandlungen kollektives Wegschauen bei Kindesmisshandlung vermeiden helfen“ (MfSGFG SH 2012: 102). Diesbezüglich hat Stork (ebd.) erfolgreich die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen, die in einer Jugendhilfe-Einrichtung leben und betreut werden, an der Entwicklung eines institutionellen Kinderschutzkonzeptes erprobt und dokumentiert.

 

Förderrechte (Promotion)

Auch Förderrechte wurden erst nach gesetzlichen Novellierungen im SGB VIII verankert, wie der 1993 geregelte Anspruch auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII) und der seit 1996 geltende Anspruch für jedes dreijährige Kind auf einen Kindergartenplatz (§ 24 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Aktuell steht durch die UN-Behindertenkonvention von 2009 die Ungleichbehandlung von Kindern mit seelischer Behinderung bzw. davon Bedrohter sowie mit körperlichen und geistigen Behinderungen und „normalen“ Kindern und Jugendlichen in der Kritik: Absatz 2 des Artikels 24 UNBK stellt unmissverständlich klar, dass alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer Behinderung, ein Recht auf inklusive, qualitativ hochwertige und kostenfreie Erziehung und Bildung innerhalb des allgemeinen Bildungssystems haben. Konsequenterweise sollen daher auch Unterstützungs- und Hilfeleistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen unter dem Dach der Jugendhilfe zusammengeführt werden, so die Empfehlung des Zwischenberichts der von der ASMK und JFMK eingesetzten Arbeitsgruppe (2011). Mit dieser „großen Lösung“ würde die Chance bestehen, Diskriminierung und Ausgrenzung abzubauen sowie Jugendhilfe konsequenter an Unterstützungsbedarfen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auszurichten. Die im SGB VIII enthaltenen Beteiligungsrechte und Partizipationsverfahren würden dann ebenso für Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen gelten, was für die Fachkräfte entsprechende Anforderungen an die Gestaltung und Zugänglichkeit entsprechender Angebote stellt. Beim weiteren inklusiven Umbau der Jugendhilfe ist davor zu warnen, dass Kinderrechte nicht im Spannungsfeld zwischen Inklusion/Normalisierung und Unterstützung besonderer Lebens- und Problemlagen/Spezialisierung sowie damit verbundenen Finanzierungsaspekten, Systemdifferenzen und Besitzstandswahrungen untergraben werden (vgl. BMFSFJ 2013) – was sich in der Erziehungshilfe bereits in den Diskussionen um Regel- und Spezialangebote oder geschlossene Unterbringung als Herausforderung darstellt (vgl. AG der IGfH 2013).

Mit der Aufhebung des Vorbehalts bzgl. ausländerrechtlicher Regelungen gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention seit dem 15. Juli 2010 gilt der Anspruch „Eine Jugendhilfe für alle Kinder“ (IGfH/ EREV 2012) vollumfänglich auch für Flüchtlingskinder. Aus Abs. 2 des Art. 22 KRK ergibt sich nunmehr die Verpflichtung der hiesigen Behörden, Flüchtlingskindern denselben Schutz zu gewähren „wie jedem anderen Kind, das aus irgendeinem anderen Grund dauernd oder vorübergehend aus seiner familiären Umgebung herausgelöst ist“. Allerdings wird dieser Anspruch gegenüber unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen häufig nicht eingelöst. Vielmehr stehen statt einer jugendgerechten Unterbringung und Versorgung der schutzsuchenden Minderjährigen immer noch ausländerrechtliche Regelungen im Vordergrund. Um hier die Kinderrechte ungeachtet des Geschlechts und der Nationalität umzusetzen, fordern die Fachverbände IGfH und EREV , unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nur im Rahmen des SGB VIII in Obhut zu nehmen, sie nicht an bundesdeutschen Grenzen abzuweisen, ohne das zuständige Jugendamt zu informieren und die Überprüfung einer möglichen Kindeswohlgefährdung durchzuführen. Zudem sind Beteiligungsrechte und -verfahren für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu stärken, damit eine bedarfsgerechte Hilfeplanung und eine Qualifizierung der Hilfe- und Betreuungsangebote gewährleistet ist.

 

Partizipationsrechte (Participation)

Wie eingangs schon angedeutet, ist der Ausbau von Partizipationsrechten seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilferechts auf den ersten Blick deutlich vorangekommen. Die gesetzlichen Regelungen zur Beteiligung an der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) sowie zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe generell (§ 8 SGB VIII) sind vorhanden. Gleiches gilt nach der jüngsten Novellierung des SGB VIII für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen. Hier koppelt § 45 Abs. 2 SGB VIII die Erteilung einer Betriebserlaubnis an das Vorhandensein geeigneter „Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten“. Hinzu kommen ähnlich lautende Formulierungen im Kontext der Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe nach §§ 79aff. SGB VIII. Obwohl also Verbesserungen, gerade im rechtlichen Bereich, unverkennbar sind, scheint ein flächendeckender Wandel im Selbstverständnis der Jugendhilfe dennoch ausgeblieben. So formulieren deshalb auch Schrapper und Pies: „Die systematische Beteiligung und Mitwirkung von Kindern und Eltern ist immer noch eine deutlich Schwachstelle, auch oder gerade wenn so viel über Partizipation gesprochen wird.“ (Schrapper/Pies 2006: 17; ähnlich Pluto et al. 2007)

Nicht nur die skandalträchtigen Ereignisse um die Haasenburg in Brandenburg, ebenso wie eine Vielzahl kleinerer Skandale, die es sporadisch, oft aber gar nicht in die Medien schaffen, unterstreichen, dass noch immer Umsetzungsdefizite gegenüber gesetzlich vorgesehenen Partizipationsrechten in Einrichtungen bestehen. Auch die repräsentative Befragung von Rudeck u. a. (2008: 61) mit über 1000 Befragten zu den Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen im Lebens- und Betreuungsalltag stationärer Erziehungshilfen belegt, dass 29 % der Befragten eine relativ hohe Beteiligung erleben, weitere 35 % diese auf einem mittleren Niveau verorten, weil sie ihre Beteiligungsmöglichkeiten nicht kennen oder zwar informiert und gefragt werden, aber nicht mitentscheiden können, und dass sich 36 % der Befragten wenig beteiligt sehen. Stork (2007) kommt in seiner Studie zu Demokratie in der Heimerziehung zum Ergebnis, dass das Spannungsfeld zwischen Erziehung und Partizipation zumeist zugunsten pädagogischer Absichten („Kinder sollen lernen Verantwortung zu übernehmen“) auf Kosten der für Partizipation notwendigen gegenwärtigen Teilhabemöglichkeiten („Kinder haben Einfluss“) gelöst wird.

Was für Einrichtungen zutrifft, gilt analog für den Bereich der Hilfeplanung: So weisen etwa Hitzler und Messmer (2010) im Rahmen einer konversationsanalytischen Untersuchung des Hilfeplanverfahrens dezidiert darauf hin, dass selbst dort, wo die Adressaten der Jugendhilfe beteiligt werden, die Kontrolle über den Prozess fast vollständig in den Händen von Professionellen verbleibt. Im Duktus ähnlich betont auch Urban (2004: 115 ff.) den sozialen Charakter der Hilfeplanung und weist auf Machtungleichgewichte in der Hilfeplanung hin, indem sie herausstellt, wie stark der Umgang mit den alltäglichen Widersprüchen in der Hilfeplanung davon abhängt, ob das Selbstkonzept sozialpädagogischer Fachkräfte eher von „Expertentum“ oder „Diskursivität“ geprägt ist. Auch Pluto (2007: 74 ff.) macht deutlich, dass mitunter Entscheidungen über die Angemessenheit von erzieherischen Hilfen de facto ausschließlich von sozialpädagogischen Fachkräften getroffen bzw. durchgesetzt werden. Die durch den Gesetzgeber formulierten Beteiligungsrechte alleine bedeuten also nicht unbedingt, dass Partizipation auch realisiert wird. Hier ist noch immer eine beträchtliche Umsetzungslücke zu beobachten.

 

Resümee und Perspektiven

Versucht man die weiteren Entwicklungen und Entwicklungsrisiken mit Blick auf das Thema Kinderrechte darzustellen, so scheinen insbesondere drei Punkte der Erwähnung wert:

  1. Intention der Gesetzesnorm einhalten und strukturelle Voraussetzungen sichern: Zwar muss man einerseits konstatieren, dass durchaus Fortschritte auf allen drei Ebenen von Kinderrechten zu beobachten sind, andererseits unterliegen gerade Förder- und Partizipationsrechte einem hohen Risiko, innerhalb von Institutionen lediglich schematisch „abgearbeitet“ zu werden, ohne damit der Intention des Gesetzgebers zu entsprechen. Zum Beispiel mehren sich aktuell die Hinweise, dass Umsetzungsbestrebungen von Inklusionsansprüchen finanziell nur unzureichend „unterfüttert“, manchmal sogar als „Sparmodell“ für die öffentlichen Haushalte missverstanden werden. Genauso wenig ist gewonnen, wenn die Förderung von Partizipationsrechten im Rahmen einer Novellierung des § 45 Abs. 2 SGB VIII („Betriebserlaubnis“) zur Einrichtung von Heimräten führt, ohne diesen angemessene Entscheidungsmöglichkeiten einzuräumen oder zu prüfen, ob diese Form der Mitbestimmung bei Jugendlichen auf Akzeptanz stößt. Mit anderen Worten: Die formale Umsetzung von Rechten hilft wenig, wenn nicht gleichzeitig die strukturellen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden, die es erlauben, der Intention des Gesetzgebers bei Schaffung der Norm nachzukommen. Zudem ist es notwendig, nicht allein auf die Einhaltung von Rechten zu drängen, sondern die Voraussetzungen zu verändern, auf denen diese Rechte fußen. Das heißt allen die gleichen Rechte zuzugestehen, klammert häufig aus, dass Förderbedarfe mitunter sehr spezifisch sind, so dass die Situation gelegentlich der vielbemühten Metapher von dem Einbeinigen ähnelt, der natürlich das Recht hat, an einem Marathon teilzunehmen. Doch was nützt ihm dieses Recht, wenn er im Wettkampf gegen lauter Zweibeinige bestehen soll?
  1. Rechte zusammen denken: Betrachtet man die Entwicklung der Jugendhilfe innerhalb der letzten Jahre, insbesondere die gesamte Debatte um den Schutz von Kindern, so ist das Risiko unverkennbar, dass Schutzrechte im Rahmen der Ausübung des staatlichen Wächteramtes einseitig durchgesetzt werden, ohne dabei Förder- und Partizipationsrechte angemessen zu berücksichtigen. (Ein Indikator hierfür sind z. B. die zwischen 2006 und 2012 um rund 40 % gestiegenen Inobhutnahmen bei kleinen Kindern aufgrund von Gefährdungslagen.) Es kann kein Zweifel bestehen, dass Schutzinteressen von Kindern gewahrt werden müssen, aber es gab und gibt immer ein „Restrisiko“, das integraler Bestandteil sozialarbeiterischen Handelns ist. Wenn Fachkräfte nicht zuletzt aus Angst vor möglichen Repressalien versuchen, dieses „Restrisiko“ durch Inobhutnahmen und Unterbringung auszuräumen, dann muss garantiert sein, dass stationäre Hilfen in jedem Fall die bessere Alternative sind, als der Verbleib in der Familie. Ist das nicht der Fall, besteht die Gefahr, dass nicht nur im Einzelfall Schutzrechte einseitig zu Ungunsten von Partizipations- und Förderrechten durchgesetzt werden, sondern es bei weiter steigenden Zahlen der Inobhutnahmen und Sorgerechtsentzüge immer schwerer wird, ausreichend qualitativ hochwertige stationäre Hilfen anzubieten.
  1. Durch eine generelle Erweiterung von Partizipations- und Beschwerdeverfahren sowie die Einrichtung von Ombudschaft-Stellen nicht-intendierte Nebenfolgen bekämpfen: Zweifellos wäre die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz wünschenswert und gewinnbringend (vgl. BMFSFJ 2013), doch wie schon erwähnt, trägt eine gesetzliche Regelung auch die Tendenz in sich, Kinderrechte bloß formal umzusetzen. Um Fehlentwicklungen oder mangelnder Umsetzung und Einräumung von Rechten entgegenwirken zu können, sind Bemühungen zur Schaffung von Ombudschaft- Stellen, wie sie inzwischen in mehreren Bundesländern zu beobachten sind, zu unterstützen. Diese vertreten, analog den Petitions-Ausschüssen an anderen Stellen, die Interessen von Kindern und Jugendlichen advokatorisch. Bekanntheit bei den Adressaten_innen, Zugänglichkeit und Unabhängigkeit sind dabei notwendige Voraussetzungen, um die Arbeit solcher Stellen zu sichern.

 

Literatur

  • AG der IGfH (2013): Argumente gegen geschlossene Unterbringung und Zwang in den Hilfen zur Erziehung. Weinheim.
  • ASMK/JFMK-Arbeitsgruppe „Inklusion von jungen Menschen mit Behinderung“ (2011): Zwischenbericht (http://jfmk.de/pub2011/Zwischenbericht_zu_Umlauf- beschluss_7-2011.pdf, Zugriff am 15.03.2014).
  • BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (1998): 10. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland. Bonn.
  • BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin.
  • Blandow, J./Gintzel, U./Hansbauer, P. (1999): Partizipation als Qualitätsmerkmal in der Heimerziehung. Münster.
  • IGfH/EREV (2012): Fachpolitische Forderungen zur aktuellen Situation der Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlinge in Deutschland (http://www.igfh.de/cms/stellungnahme/ fachliche-und-fachpolitische-forderungen-zur-aktuellen-situation-der-unbegleiteten, Zugriff am 15.03.2014).
  • Hansbauer, P./Kriener, M. (2006): Erziehung braucht eine Kultur der Partizipation. In: Diakonieverbund Schweicheln e.V.: Erziehung braucht eine Kultur der Partizipation – Umsetzung und Ergebnisse eines Modellprojektes in der Erziehungshilfe. S. 5–34.
  • Hitzler, S./Messmer, H. (2010): Group Decision-making in Child Welfare and the Pursuit of Participation. In: Qualitative Social Work, Volume 9/Issue 2, pp. 205–226.
  • Lüscher, K. (2003): Die Ambivalenzen der Rolle des Kindes gestalten. Entwurf einer Typologie. In: Kränzl-Nagl, R./Mierendorff, J./Olk, T.: Kindheit im Wohlfahrtsstaat. Gesellschaftliche und politische Herausforderungen. Wien, S. 333–362.
  • (MfSGFG SH) Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein (Hg.) (2012): „Demokratie in der Heimerziehung“ – Dokumentation eines Praxisprojektes in fünf Schleswig-Holsteinischen Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen. Kiel.
  • Pluto, L. (2007): Partizipation in den Hilfen zur Erziehung. Eine empirische Studie. München.
  • Pluto, L./Gragert, N./van Santen, E./Seckinger, M. (2007): Kinder- und Jugendhilfe im Wandel. Eine empirische Strukturanalyse. München.
  • Rudeck, R./Sierwald, W./Straus, F. (2008): Repräsentative Befragung von Jugendlichen. In: Hartig, S./Wolff, M.: Abschlussbericht Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Gelingende Beteiligung im Heimalltag aus der Sicht von Jugendlichen“ (http://www.diebeteiligung.de/diebeteiligung2//pdf/abschlussbericht_projekt_gel_beteil_2008.pdf, Zugriff am 15.03.2014).
  • Schrapper, C./Pies, S. (2006): Standards der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII – eine Zwischenbilanz. In: Neuberger, C. (Hg.): Dialog der Konzepte: Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII und in angrenzenden Hilfen. München.
  • Stork, R. (2007): Kann Heimerziehung demokratisch sein? Eine qualitative Studie zum Partizipationskonzept im Spannungsfeld von Theorie und Praxis. Weinheim.
  • Urban, U. (2004): Professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Sozialpädagogische Entscheidung in der Hilfeplanung. Weinheim/München.
  • Wolff, R./Flick, U./Ackermann, T./Biesel, K./Brandhorst, F./Heinitz, S./Patschke, M./ Robin, P. (2013): Kinder im Kinderschutz – Zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Hilfeprozess. Köln.

 

Quelle: Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014): Kritischen Glossar Hilfen zur Erziehung. Frankfurt am Main: IGfH Eigenverlag.