Anstößiges zur Heimerziehung

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In dieser besonders umfangreichen Ausgabe von Forum Erziehungshilfen geht es- in ganz unterschiedlichen Zugriffen - um Wirklichkeiten der Heimerziehung. Freilich kann dies nur in Ausschnitten und in dem Bewußtsein geschehen, daß angesichts des erreichten Differenzierungsgrades "die" Heimerziehung heute weniger denn je existiert. Was gibt es also - im zweifachen Wortsinn - "Anstößiges" zur Heimerziehung zu sagen?
Die Redaktion verbindet mit der Veröffentlichung der drei Schwerpunkt-Beiträge das Anliegen, einige (alte und eher neue) Probleme der Gestaltung der stationären Erziehungshilfen zu thematisieren - Probleme, die gleichsam neben und hinter einer unbestritten auch vorhandenen Fortschrittsgeschichte der Heimerziehung liegen. So geht es im folgenden um sozialpädagogische (und in diesem Fall wohl auch medizinische) Kunstfehler, es geht um Paradoxien des guten Willens bei der Hilfeplanung und um Anstöße zu einer demokratischeren Heimkultur.

Christian Niemeyer nimmt uns auf eine äußerst betrübliche Reise durch die Akte von Robert mit. Die kasuistische Studie legt - mitunter fast schmerzhaft- mit "Fachlichkeit" bemäntelte Entfachlichungsprozesse, eine unreflektierte Normorientierung und letztlich auch ein erhebliches Maß an Lieblosigkeit dem Jungen gegenüber bloß. Bei aller kritischen Perspektive auf diese dunkle Seite deutscher Heimerziehung im Jahre 1993 enthält die Falldarstellung aber auch konstruktive Hinweise auf einen möglichen anderen, freundlicheren und mehr an Verstehen als an Korrektur orientierten Umgang mit Robert.

Mathias Schwabe entzaubert die Lehrmeinung, daß das Hilfeplangespräch nach § 36 KJHG das zentrale Element eines partnerschaftlichen Aushandlungsprozesses über erforderliche Hilfen darstelle, indem er auf eine Reihe bislang kaum diskutierter Widersprüche und praktischer Probleme hinweist. Im Ergebnis plädiert er dafür, den Hilfeplan etwas "niedriger" zu hängen und nur als ein Element einer adressatInnenorientierten Erziehungshilfe zu betrachten.

Zwar existiert im Ostberliner Heimverbund "Kinderhaus Berlin-Mark Brandenburg" nicht die radikale Selbstregierung der Kinder und Jugendlichen wie in den Kinderrepubliken (auch deren Selbstregierung wurde bzw. wird von Erwachsenen inszeniert!), aber immerhin sind die im Kinderhaus praktizierten Formen von Demokratie, über die Katja Nerlich schreibt, erstaunlich und so sicherlich in wenigen anderen Heimen in Deutschland anzutreffen.

Heimerziehung in Zahlen
Auch im Diskussionsteil befassen wir uns schwerpunktmäßig mit der Wirklichkeit von Heimerziehung. Die die bundesweite Pflegesatzdekkelung (siehe hierzu den Kommentar und die ausführlichen Informationen im Magazinteil) begründenden Debatten über angeblich überproportionale Kostensteigerungen im Bereich der Heimerziehung haben uns motiviert, die Unterbringungs- und die Kostenentwicklung seit 1991 - bundesweit und bezogen auf eine Region - genauer zu analysieren.

Wolfgang Trede