erinnern – aufklären – anerkennen – Perspektiven gewinnen

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ForE 2/21

Wie ist es Menschen ergangen, die in ihrer Kinder- und Jugendzeit in Heimerziehung gelebt haben? Wie bewerten sie selbst diese Zeit und welche Bedeutung hat diese Zeit in „öffentlicher Erziehung“ für ihr weiteres Leben? Aktuell konfrontieren Careleaver*innen das Feld und seine Akteur*innen in Einrichtungen und Jugendämtern mit ihren kritischen Erfahrungen und Einschätzungen. Sie und vor ihnen Menschen, die in den 1950er bis 80er Jahren in der Heimerziehung gelebt haben, leiten daraus die berechtigte Forderung ab, mit ihren Verletzungen und Erfolgen respektiert und mit ihren Interessen und Ansprüchen − jetzt, nachdem sie die öffentliche Erziehung verlassen haben − anerkannt zu werden. Heimerziehung, hier synonym für öffentliche Verantwortung, soll auch einstehen für die Konsequenzen, die ihre damals erfahrene, oft unzureichende Sorge und Förderung für ihr Leben heute hat.

Unter der missverständlichen und kränkenden Titulierung „ehemalige Heimkinder der 1950er und 60er Jahre“ ist in den letzten gut zehn Jahren viel über Bewertungen dieser Epoche und vor allem über die Folgen und Wiedergutmachungsmöglichkeiten für betroffene Menschen gestritten und verhandelt, aber auch geforscht und dokumentiert worden. Wie wenig diese „Aufarbeitungen“ abgeschlossen sind, zeigen auch immer neue Enthüllungen, sowohl zu Medikamentenversuchen in Heimen (zuletzt Günter Wulf: Sechs Jahre in Haus F, Köln 2020) als auch zu organsiertem sexuellem Missbrauch in Heimen in Speyer und Bayern (SZ vom 14.12.20 und 30.01.2021) 

Die dokumentierten biografischen Erzählungen und Reflexionen zur Praxis der Heimerziehung zwischen 1950 und 1990 prägen übergreifend drei Erfahrungsqualitäten „ehemaliger Heimkinder“: 1. Die erfahrene Machtlosigkeit gegenüber staatlichen Autoritäten; 2. ein fortwährender Legitimationsdruck eigener Erfolge der Lebensführung, z.B. in Ausbildung, Beruf und sozialem Status; sowie 3. eine tief verwurzelte soziale und emotionale Skepsis (siehe z.B. dokumentierte Interviews in: Imeri/Schrapper/Ströder 2016 und 2018 oder Gabriel u.a. 2018 − Quellen siehe Literaturumschau in diesem Heft).

Themen und Befunde dieser Auseinandersetzungen um die Heimerziehung zwischen 1945 und etwa 1980 sollen in den Beiträgen dieses Heftes aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden: Einführend skizziert Christian Schrapper die Heimerziehung der 1950er und 60er Jahre in Westdeutschland und ihre Aufarbeitung sowie Diana Düring die Umerziehung zur Sozialistischen Persönlichkeit im System der DDR-Spezialheimerziehung. Ergänzend beleuchtet im Rechtsteil dieses Heftes Peter Schruth, wie die Reform des StrRehaG 2017 auf die öffentlich diskutierten gerichtlichen Ausgrenzungen ehemaliger Heimkinder aus der DDR reagiert.

Julia Schröder und Carolin Oppermann stellen eine an der Betroffenenposition orientierte Methodologie vor, die sich aus der aktuellen wissenschaftlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt am Fall von Helmut Kentler in der Berliner Jugendhilfe ergibt. Biografische Erinnerungen an die frühere Heimerziehung aus der Perspektive von Betroffenen und Fachkräfte präsentiert exemplarisch Carola Kuhlmann. Klaus Peter Lohest und Georg Gorrissen bewerten den Entschädigungsfonds Heim mit den Aufgaben „Erinnern, Anerkennen, Entschuldigen, Folgeschäden lindern“ als eine Gratwanderung aus der Sicht der am Runden Tisch beteiligten Länder und Verwaltungsbehörden. Im Kontrast dazu macht Peter Schruth aus der Perspektive eines am Runden Tisch aktiv beteiligten Ombudsmannes auf das Scheitern im Prozess der Aufarbeitung mit den ehemaligen Heimkindern aufmerksam. Mit internationalem Bezug gehen Giesela Hauss und Thomas Gabriel in der Rubrik „Internationales“ dem geschehenen Unrecht in der Heimunterbringung in der Schweiz nach.

Im abschließenden Beitrag werfen Christian Schrapper und Wolfgang Schröer die Frage auf, wie Aufarbeitungsprozesse in aktuellen Diskussionen, Konzeptentwicklungen sowie in den heutigen Heimalltag integriert werden können, und fordern neben einer Kultur der kritischen Analyse organisationaler Abläufe auch eine systematische Aufarbeitung von Verletzungen der Würde und der Rechte junger Menschen.

 

Christian Schrapper, Wolfgang Schröer

 

Aus dem Inhalt

Christian Schrapper: Heimerziehung der 1950er bis 1970er Jahre in Westdeutschland

Diana DüringUmerziehung zur Sozialistischen Persönlichkeit im System der DDR-Spezialheimerziehung

Carolin Oppermann, Julia Schröder: „Kindeswohlgefährdung in öffentlicher Verantwortung.“ Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe

Carolin Oppermann, Julia Schröder: Wissenschaftliche Aufarbeitung sexualisierter Gewalt − Voice, Choice und Exit-Optionen für die Betroffenen

Carola Kuhlmann: Biografische Erinnerungen an die frühere Heimerziehung aus Perspektive Betroffener, von Mitarbeiter*innen und Leitungskräften

Georg Gorrissen, Klaus Peter Lohest: Erinnern, Anerkennen, Entschuldigen, Folgeschäden lindern. Gratwanderungen aus Sicht der Länder bei den Fonds zur Heimerziehung

Peter Schruth: Zerriebene „Genugtuung“ Zur Aufarbeitung der ehemaligen Heimerziehung in Deutschland

Christian Schrapper, Wolfgang Schröer: Heimerziehung und das Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung

Gisela Hauss, Thomas Gabriel: Respektierte oder beschädigte Kindheit? Unrecht in der Schweizer Heimerziehung

Christoph Schneider: Die verschwundenen Gräber der Heilerziehungsanstalt

Judith Haase: Das Kind als Quasi-Akteur*in – Deutungsmuster und der Blick auf Kinder in Kinderschutzprozessen

Peter Schruth: Ehemalige Heimkinder und das Strafrechtliche Rehabilitationsgesetz der DDR

Einbandart
Rückendrahtheftung
Erscheinungsjahr
2020
Ausgabe
2
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2021