Leiden an Leitung

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Wird über Leitung nicht schon genug geredet, geschrieben und nachgedacht? Legt der Themenzuschnitt nicht viel zu viel Wehleidigkeit nahe, wo doch positives Denken mittlerweile zur politischen Korrektheit gehört? Zudem gibt es mittlerweile spezielle Fachzeitschriften für Manager im Sozialbereich, Dutzende von Fortbildungsangeboten und ganze Buchreihen mit den neuesten "management-by"-Lehren und praktischen Tips von der Personalführung bis zum persönlichen Zeitmanagement Und eigentlich weiß man doch, was der/die moderne Einrichtungsleiterin so bringen muß- Mitarbeiterinnen motivieren, delegieren und sich selbstreflexiv zurücknehmen können, die 'corporate identity' der Einrichtung nach innen und außen kommunizieren können etc. Aber wie sieht denn jenseits der schönen Konzeptionen der banale Alltag aus? Genau mit diesem soll sich der Themenschwerpunkt befassen: Leiden an Leitung tritt dabei in doppeltem Sinne zutage, einmal als Leiden von Mitarbeiterinnen unter Leitung und zum anderen als Leiden der Leiterinnen an ihrer Aufgabe, welche im übrigen häufig durch die Gleichzeitigkeit von Leiten und Geleitetwerden gekennzeichnet ist. Daß in diesem Themenschwerpunkt fast nur Männer zu Wort kommen, war von der Redaktion übrigens nicht so geplant. Aber die männlichen Kollegen waren (mit Hilfe des Laptops im ICE?) mitteilsamer.

Mit der Publikation ungeschminkter Erfahrungsberichte und Analysen möchte die Redaktion in diesem und in weiteren Heften den Blick auf Alltagsthemen und -probleme der erzieherischen Hilfen lenken. Gerade ein sich als "progressiv" verstehender Fachverband wie die IGfH muß sich nämlich der Gefahr bewußt sein, die in
einem permanenten Nach-vorn-schauen liegt. Die konzeptionelle Weiterentwicklung von Hilfen und Hilfestrukturen ist notwendig, kann aber in eine Progressivitätsfalle führen, wenn der (verschriftete) Diskurs gewissermaßen "schöne neue Jugendhilfewelten" vorgaukelt, und diese den Blick auf die Wirklichkeit verstellen.

Zu den einzelnen Artikeln:

Peter Hansbauer analysiert traditionelle und moderne Organisationsstrukturen der "front-line"- Organisation Heimerziehung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen und beschreibt aktuelle Handlungsanforderungen an LeiterInnen und Mitarbeiterlnnen. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Leitung und MitarbeiterInnen skizziert er metaphorisch als Entwicklung von einer Vater-Kind-Beziehung zu einem erwachsenen Miteinander.

Wolfgang Heinemann charakterisiert in einem polemisch und selbstironisch zugespitzten Beitrag seine Tätigkeit als Leiter einer Einrichtung eines großen Trägers als "Doppel-Whopper"Job, eingeklemmt zwischen "Praxisfetischistlnnen", "miesen" Vorgesetzten und - was am schwersten wiegt - eigenen unerfüllten Ansprüchen.

Norbert Struck beschäftigt sich mit der Kategorie der unfähigen HeimleiterInnen, einem Typus, über den man sich leider immer erst "hinterher" einig ist. Aufgrund konkreter Erfahrungen beschreibt er, wie sich Unfähigkeit offenbart und welche Mechanismen verhindern, daß diese rechtzeitig öffentlich wird.

Klaus Münstermann reflektiert vor dem Hintergrund einer über zehnjährigen Leitungserfahrung eines großen Heimverbundes über seine schwierige Gratwanderung zwischen unbekümmerter Nähe und taktischer Distanz gegenüber MitarbeiterInnen, zwischen Pädagogik und Verwaltung, zwischen "Patriarch" und "Sozialmanager".

Michael Harborth und !da Rathgeber zeigen eine Alternative zur üblichen hierarchischen Organisationsstruktur auf: eine Einrichtung, die eine kollegiale Leitung hat und von den MitarbeiterInnen selbst verwaltet wird und, was gewichtiger ist, seit über 20 Jahren damit erfolgreich arbeitet.

Wolfgang Trede