Der letzte Tag
Die Beschäftigung mit diesem Thema rief bei mir viele Erinnerungen an Mädchen und Jungen wach, die ich in meiner Zeit als Pädagoge im Heim habe weggehen sehen. Sozialpädagogisch betrachtet ist bei dem Thema nicht nur der 'letzte Tag' gemeint sondern die gesamte Phase, wenn ein Kind, eine Jugendliche, ein junger Erwachsener, die Gruppe verlässt und sich eine neue Lebenswelt vor ihr oder ihm auftut. In diesem Heft soll es ausdrücklich nicht um das immer noch aktuelle Problem des Verlegens und Abschiebens gehen, vielmehr soll aus verschiedenen Blickwinkeln der Frage nachgegangen werden, wie sich Heime und sozialpädagogische Fachkräfte konzeptionell und geplant der Aufgabe stellen, die Übergangsphase des Weggehens, Verlassens, des Abschiednehmens zu gestalten.
Mit Erstaunen stellten wir in der Vorbereitung des Heftes fest, dass diese Thematik so gut wie keine Aufmerksamkeit in der sozialpädagogischen Fachliteratur und ebensowenig praktische und konzeptionelle Berücksichtigung bei der Gestaltung des pädagogischen Alltags von Heimen und Wohngruppen findet - obwohl es sich zweifelsohne um eine qualitätsrelevante 'Schlüsselsituation' handelt. Welche Bedeutung der Weggang aus dem Heim für die Mädchen und Jungen hat, unterstreicht aktuell das Buch von Klaus Wolf (Machtprozesse in der Heimerziehung, Münster 1999), der beschreibt, wie die Perspektive der Jugendlichen eher auf ihr 'derzeitiges Leben im Heim' bezogen ist und Pläne für das Leben nach der Heimerziehung eher vage und mit Befürchtungen verbunden sind. 'Dass die Jugendlichen nach der Heimentlassung scheiterten, wurde in erster Linie auf den zu frühen Entlassungstermin und ungünstige gesellschaftliche Lebensbedingungen zurückgeführt. Dies hatte die außerordentlich problematische Folge, dass die Erziehung nicht auf die Lebensbewältigung nach der Heimerziehung ausgerichtet war' (Wolf, S. 211). Wieland u.a. (Ein Zuhause - kein Zuhause, Freiburg 1992) weisen auf die außerordentliche Bedeutung der Beziehung von heimentlassenen jungen Menschen zu ihren früheren BetreuerInnen hin und zeigen, welche stabilisierende Wirkung diese Beziehungen auch noch Jahre nach der Entlassung haben können.
So verstanden hat das Nachdenken über den 'letzten Tag' konkret mit dem Einzug eines Mädchen oder Jungens in die Wohngruppe oder das Heim zu beginnen. Weitergehender noch sollte die Gestaltung des Übergangs in die nächste Lebensphase Gegenstand der konzeptionellen Überlegungen und Auseinandersetzungen sein und dies zuerst aus pädagogisch-fachlichen Überlegungen und erst zweitrangig unter dem Gesichtspunkt von Qualitätsentwicklungsvereinbarungen. Unabhängig davon, welche Fragen und Themen für einzelne Einrichtungen spezifisch zu behandeln sind, wird es immer darum gehen müssen
- eine rechtzeitige und optimale Einbeziehung aller Beteiligter, Jugendliche, Eltern, weitere Bezugspersonen, Fachkräfte des Jugendamtes und der Erziehungshilfeeinrichtung zu sichern;
- den Prozess der Entscheidung für Termin und anschließenden Lebensort und Lebensform transparent zu gestalten und ohne zeitlichen Druck sozialpädagogisch qualifiziert zu organisieren;
- die Beteiligungsrechte der Minderjährigen bzw. jungen Erwachsenen zu berücksichtigen und sie in ihrer Entscheidungsfähigkeit zu fördern und zu stärken
- für die Übergangsphase eine ausreichende Beratung und Unterstützung zu sichern.
Gerade in einer Zeit, in der die Sozialpädagogik unter erhöhten Legitimationsdruck geraten ist, wird die Beschäftigung mit den Lebensverläufen junger Menschen nach dem Verlassen der Erziehungshilfen in Heimen und Wohngruppen an Bedeutung. Zu den Aufgaben der Einrichtungen und der entsprechenden Forschungsinstitutionen gehört es auch, mehr Erkenntnisse über die fördernden oder lebensbehindernden Bedingungen von öffentlicher Erziehung bzw. des anschließenden Lebens zu sammeln und zu diskutieren um daraus Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Erziehungshilfeangebote zu ziehen. In diesem Sinne wird auch dieses Heft von Forum Erziehungshilfen verstanden.
Ullrich Gintzel
Aus dem Inhalt
Norbert Struck: Für den Erhalt der Landesjugendämter!
Bärbel Goldberg, Reinhard Sallach, Petra Walta: Die letzten Wochen in der Wohngruppe
Melanie Bürger, Hans-Ullrich Krause: `Ich habe die Tür einfach nicht zumachen können` - Bericht, zehn Wochen nach einem `letzten Tag`
Wolfgang Standorf: Der geplante Übergang in die Familie nach mehrjähriger Erziehung im Heim
Regine Johnson, Sabine Möller, Martina Janzen: Abschied für einen neuen Anfang
Paula Toukonen: Bericht über meine Zeit als PEP-Fellow bei der Evangelischen Jugendhilfe Hörstel
Günther Koch, Rolf Lambach: Was leisten die `Families First`-Programme? Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von vier familienorientierten Kriseninterventionsprojekten
Frank Früchtel, Thomas Scheffer: Fallunspezifische Arbeit oder: wie lassen sich Ressourcen mobilisieren?
Burglinde Retza: Heimkarriere - selbst gemacht