Über-Lebensraum Straße

ForE_5_1995

Nirgendwo vielleicht prallen die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen arm und reich, "drinnen" und "draußen" direkter aufeinander wie beim Thema "Straßenkinder", suchen Kinder und Jugendliche, die ganz oder zumindest überwiegend auf der Straße zuhause sind, doch zielsicher häufig jene glitzernden Flaniermeilen der Stadtzentren auf, in denen - zumal jetzt in der Vorweihnachtszeit abenteuerlich hohe Umsätze gemacht zu werden pflegen. Manche der Passantinnen
haben - folgenloses - Mitleid mit den Jugendlichen. Wenn sie nicht in größeren Gruppen auftauchen (dann werden sie schnell aus der Öffentlichkeit abgedrängt), so dienen Straßenkinder dem Lokalkolorit man darf sich Metropole dünken oder als Projektionsfläche romantischer Gemüter.

Skandalisierbar als sozialpolitisches und/oder sozialpädagogisches Problem scheinen Kinder und Jugendliche in den Cityszenen nicht zu sein (welches sozialpolitische Problem ist das heute noch?). Die einzige "soziale Integration" dieser Lebenslagen geschieht heute in den grell-voyeuristischen TV-Shows zwischen Schreinemakers und Hans Meiser, wo soziales Elend exotisiert, also mit dem Gestus von Anteilnahme als "ach' so schreckliches Schicksal" zugleich aufgebauscht
und distanziert wird, um im folgenden Werbespot zwischen Lenor und Chane) in der Gleichgültigkeit der Medienwelt zu versinken.

Professionelle sozialpädagogische Hilfe für junge Menschen, die nicht gerade auf wohlmeinende "Sozis" stehen, gleichwohl z.T. übermächtige Wünsche nach wahrhaftiger Beziehung und Bindung haben, ist nicht einfach. Sie muß, um einen Zugang zu finden, von fast aller pädagogischen Intentionalität Abstand nehmen; sie muß das Arrangieren von mitunter für Erwachsene schwer akzeptierbaren ÜberLebensräumen als professionelle Herausforderung (nicht als "Sichabfinden") begreifen; sie muß dies häufig tun gegen eine Mauer des "gesunden Menschenverstandes" ("Wegsperren!" "Grenzen setzen!" etc).

Diese und einige andere Facetten des Phänomens "Straßenkinder" wollen wir in diesem Heft beleuchten. Birgit Maatsch, Sozialarbeiterin im Beratungsbus am Berliner Bahnhof Zoo, erzählt vom "Frauentag" in dieser niedrigschwelligen Anlaufstelle.

"Mütze", 18 Jahre, hat als Ergänzung zum Bericht von B. Maatsch ihre Geschichte aufgeschrieben: Ich!

Hanna Permien und Gabriela Zink präsentieren die Ergebnisse einer Expertlnnenbefragung, die das DJI zum Thema "Straßenkarrieren von Kindern und Jugendlichen" durchgeführt hat. Die "City-Szenen" sind Permien/Zink zufolge nur die Spitze eines Eisbergs, da auch in den Stadtteilen die Zahl von abgedrängten Kindem und Jugendlichen zunehme. Die Jugendhilfe solle sich im Sinne von Prävention für diese gleichsam an der Schwelle zur Straßenkarriere stehenden Stadtteilszenen sensibilisieren.

Hans-Josef Lembeck arbeitet in der Anlaufstelle für Straßenkinder KIDS in Harnburg und berichtet zunächst, wie die hamburgische Öffentlichkeit 1991/92 die "Crash-Kids" zu "postmodernen VIPs" gemacht habe. Außerdem benennt er einige zentrale Rahmenbedingungen von Straßenkinderarbeit und damit verbundene (In-)Fragestellungen der dort tätigen Professionellen. Michael Langhanky beschreibt zwei Fallen, in die Jugendhilfe beim Thema "Straßenkinder" zu tappen droht: Zum einen die von Rousseau und der Reformpädagogik gespeiste Ablehnung von Stadt als kindlicher Lebenswelt (quasi: "Baumhaus statt V-Bahnhof!") und zum anderen das Setzen auf reine Beziehungsarbeit, wo i. S. von Marianne Meinhold vielleicht eher die "Situationen" - und nicht die Personen - bearbeitet werden müßten.
 

Erscheinungsjahr
1995
Ausgabe
5
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
1995