ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen)

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Für die motorische Aktivität „lebhafter Kinder“ gab es schon immer historisch spezifische, kulturgebundene Etiketten. Mal lauteten sie „Zappelphilipp“, mal hyperkinetisches Syndrom, minimale cerebrale Dysfunktion (MCD), manchmal scheinbar schlichter „Dissozialität“ oder „oppositionelles Verhalten“ o. Ä. Im Grunde kann Verhalten auf einem Kontinuum von Normalität, Besonderheit (z. B. „lebhaftes Kind“, „Genie“), aber auch als Unart oder Abweichung bis hin zur Krankheit angesehen werden, denn es kommt immer auf den Blickwinkel an, unter dem man Verhalten beschreibt. Ob also etwas als „normal“ oder „gestört“ gilt, hängt in hohem Maße von der Toleranz der Betrachterinnen und Betrachter ab bzw. im wissenschaftlichen oder Fachdiskurs von den jeweils zugrunde gelegten Beurteilungskriterien. Sah der Arzt Heinrich Hoffmann in dem Erziehungsratgeber „Struwwelpeter“ (1845) den „Zappelphilipp“ bzw. „Paulinchen“ und den „Hans-Guck-in-die-Luft“ als  Exemplare „unartiger Kinder“ und Problemfälle für die Erziehung, würden heute die mit den genannten Figuren typisierten Phänomene zumeist als Hyperaktivität bzw. „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung“ bezeichnet werden. In diesen Formulierungen spiegelt sich sowohl die Überformung lebensweltlicher Problemwahrnehmungen durch eine zunehmende wissenschaftliche Rationalität als auch die Ergänzung der Bezugsdisziplinen. Es werden nicht mehr nur Erziehungsfragen behandelt, sondern auch Normierungen der Körper und ihrer Bewegungen und Eigenschaften, für die sich zunehmend die Varianten der sich ausdifferenzierenden Medizin zuständig erklären, die nicht nur über den „Umweg über die Körper“ ihre Normierungsmacht (Foucault) durchsetzen, sondern als Folge einer „Diagnose“ auch den (Erziehungs-)Alltag normativ neu strukturieren (s. w. u.). Hier zeigen sich Verschiebungen des Verständnisses von Kindheit im Sinne ihrer möglichst frühen Optimierung (vgl. Kascak/ Pupala 2013), die „mittels psychologischen, medizinischen und pädagogischen Testverfahren normalistisch kalkuliert wird. (…) Die gestiegene gesellschaftliche Aufmerksamkeit für Verhaltensauffälligkeiten wie auch die Vervielfältigung der Interventionsbemühungen… bringen neue Formen der Unterscheidung von ‚normaler‘ und ‚nicht-normaler‘ Entwicklung hervor, die als ‚ADHS‘, ‚ADS‘ samt einer großen Bandbreite von Komorbitäten und ergänzenden Teil-Diagnosen zum Ausdruck kommen“ (Liebsch u. a. 2013: 160 f.).

Solche (Wechsel der zugrunde liegenden – wissenschaftlich/diskursiven –) Deutungsmuster bleiben in der Regel nicht konfliktfrei, sondern führen (partiell) zum öffentlichen und/oder auch wissenschaftsinternen Widerspruch: So heißt es z. B.: „Die Deutschen pathologisieren ihre Kinder: ADHS, ADS, Depression – eine Krankheit findet sich immer, wenn ein Schüler auffällig wird“ (eine Mutter nach ihrem Leidensweg durch das Hilfesystem im Spiegel 39/2013: 126). Oder – so fragt die kassenärztliche Vereinigung – im „KVH Journal“  (10/2013):  „ADHS.  Verschreiben  wir  zu  viele    Medikamente?“ „Medikamente beseitigen nicht die Ursachen des Konflikts, stattdessen verhindern sie, dass Bewältigungsmechanismen erlernt werden“ titelt ein Kindertherapeut (vgl. Henke 2013).

Dieser auf den ersten Blick großen (medizin-kritischen) Koalition von Betroffenen, Kostenträgern und Therapeut*innen steht der stetige Anstieg von ADHS-diagnostizierten Kindern/Jugendlichen – zwischen 2006  und  2013 um 40 % auf nunmehr ca. 620.000 Betroffene – entgegen (vgl. Barmer GEK 2013), wobei privat Versicherte noch nicht eingeschlossen sind, und die geballte Kinder- und Jugend-Medizin und -Psychiatrie, aber auch andere Ärzte, die den medizinischen und evidenten Charakter der Diagnose „ADHS“ betonen und vor mangelnder öffentlicher Anerkennung dieser Störung mit Krankheitscharakter warnen (vgl. exempl. IACAPAP 2004). Gleichsinnige Einlassungen findet man auch an Schulen und in Teilbereichen der Hilfen zur Erziehung, wenn z. B. aus den sozialpädagogischen Bereichen zu hören ist, der Anteil von Kindern mit psychischen Störungen und psychiatrischen Auffälligkeiten, vor allem „ADHS-Fälle“, stieg exorbitant an, womit dann besonders „intensive“ oder besondere „therapeutische“ Spezial-Settings, die zudem finanziell besser ausgestattet sind, begründet werden (vgl. den Themenschwerpunkt in FORE 3/2013). Da man solche Einlassungen natürlich auch als interessegeleitete Beschreibungen lesen kann, lohnt sich ein genauerer Blick.

 

Zweifel an dem Diagnosekonzept ADHS

Seitdem ADHS offiziell als psychische Störung anerkannt und in die entsprechenden Klassifikationssysteme DSM-IV und ICD-10 unter „Verhaltens- und emotionale Störungen“… „mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ (F. 90.0 – F. 90.9) aufgenommen wurde, löste dies gleichsam eine (falsche) Epidemie aus (vgl. Frances 2013: 13). Der Psychologe der Duke University in North Carolina weiß, wovon er spricht. Als seinerzeit kleine Veränderungen in der Klassifikation der Störungen beim DSM-IV vorgenommen wurden – Kriterien für Aufmerksamkeitsstörungen (ADHS) –, habe man damit die dann einsetzende ADHS-Epidemie ungeahnten Ausmaßes begünstigt und (weltweit) Millionen neue Patient*innen geschaffen, kritisiert der frühere Schirmherr des DSM-IV. „Es ist ein Experiment außer Kontrolle“, so wird Allen Frances (2013) zitiert (vgl. zum Problem der Überdiagnostizierung auch Bruchmüller/ Schneider 2012). Dabei ist ADHS grundsätzlich schwer zu diagnostizieren, denn die Störungsbilder lassen sich nicht einfach von „normalem“ oder  tolerierbaren Ausdrucksformen kindlichen (und neuerdings sogar jugendlichen oder erwachsenen) Verhaltens unterscheiden (vgl. www.adhs.de). Entscheidend ist, wie bei allen ICD-Störungsbildern, die auf statistischen Durchschnittswerten aufbauen und ätiologische („medizinisch-naturwissenschaftlich ursächliche“ und damit auch prinzipiell medikamentierbare) Erklärungen mit funktionalen Normen verbinden, dass „die Ausprägung der Symptome nicht alters- und entwicklungsgemäß“ und die „Ursache nicht in einer anderen psychischen Störung oder Erkrankung zu finden“ ist, dass „die Störung schon im Vorschulalter begonnen hat und… ausdauernd, d. h. mindestens… länger als 6 Monate lang anhält“ (ebd.) und die erwartbare soziale und berufliche, durch soziale und kulturelle Erwartungen definierte Funktionsfähigkeit eingeschränkt gilt (vgl. www.adhs.de). Für die Praxis (nach klinischen Kriterien) einer ADHS-Diagnose reicht es aus, wenn die Phänomene (Aufmerksamkeits- schwäche, impulsives Verhalten, Hyperaktivität oder eine Kombination dieser Merkmale), in „ausgeprägter Form“ vorliegen und von denen einige Phänomene vor dem 6. (ICD-10) oder 7. (DSM-IV) Lebensjahr aufgetreten sind (vgl. www.bundesaerztekammer.de). Die neue Erkrankung wird mittlerweile nicht mehr nur bei Kindern, sondern auch bis ins Erwachsenenalter diagnostiziert und medikamentös behandelt.

ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung, sagt Leo Eisenberg, der Erstbeschreiber des hyperkinetischen Syndroms. Es handele sich nicht um eine definierbare Krankheitseinheit, und er fügt hinzu: „Fragen nach psychosozialen Ursachen seien vielmehr wichtig, aber sie nähmen viel Zeit in Anspruch“. „Eine Pille verschreibt sich dagegen ganz schnell“ (vgl. Spiegel Nr. 6/2012: 122; auch Blech 2014). Was zunächst zum Aufgabenfeld der Jugendpsychiater zählen sollte, übernahmen allmählich Kinder- und andere Ärzte. Diagnosestellung und Behandlung bzw. inflationäre Medikalisierung im „Schrotschussverfahren“, Verordnungen von Weckaminen/Methylphenidat und Folgepräparate, erfolgten, so Finzen (2012), häufig schon nach kurzer „Diagnose-Einschätzung“, ohne dass sozialpädagogische, psychotherapeutische und andere Hilfen eingebracht werden (vgl. Finzen/Hoffmann-Richter 2002; Finzen 2012), obwohl dies eigentlich in Hilfeplankonferenzen als Standard gilt (vgl. u. v. Haubl 2010).

Zweifel an den pathophysiologischen Konzepten von ADHS ergeben sich auch aus neueren epidemiologischen Studien aus den USA und Kanada, die darauf hinweisen, dass in der Schulpraxis wahrscheinlich die Unreife der jüngsten Schüler eines Jahrgangs häufig zur Fehldiagnose ADHS Anlass gibt. Auf diesen Sachverhalt weisen jeweils eine Studie aus Michigan/USA (Elder 2010: 641 ff.: „Nearly 1 million children are potentially misdiagnosed with ADHD“) und eine große epidemiologische Studie an 900.000 Kindern aus Vancouver/Canada (Morrow 2012: 755 ff.: „Immaturity mistaken for ADHD“) hin. Nach der Studie aus Michigan liegen altersgemäße Unreife und Reifungsdefizite der Jahrgangsjüngsten bei 20 % der Kinder der Diagnose ADHS zugrunde. Die Autor*innen stellen fest, dass normale Reifungsdefizite bei sozialem oder emotionalem Stress der Kinder millionenfach zur fälschlichen Diagnose ADHS führen können, weil Reifungsstörungen oder Unreife der Kinder vom Umfeld als ADHS verkannt werden. Eine Überforderung der Jahrgangsjüngsten führt kindgemäß zu Unruhe, Aggressivität, explosionsartigem Bewegungsdrang, Ablenkbarkeit, schwankender Aufmerksamkeit, die als störend empfunden wird und nicht als pädagogische Herausforderung, sondern als Krankheit – ADHS – interpretiert wird. Deshalb erhalten die jahrgangsjüngsten Kinder einer Klasse deutlich häufiger die Diagnose ADHS als die Jahrgangsälteren.

Auch für die Behauptung, es handele sich bei ADHS um eine Hirnstoffwechselstörung, gibt es keine belastbaren Belege. Der oftmals als Erklärung angeführte Dopaminmangel konnte bisher nicht bestätigt werden. Eine Ähnlichkeit mit Diabetes/Insulin sei ebenfalls erfunden (vgl. Leuzinger-Bohleber u. a., 2006). Dennoch werden diesbezügliche Medikamente und Stimulantien wie Methylphenidat (RITALIN, CONCERTA, MEDIKINET) und andere Psychopharmaka massenhaft verordnet. Methylphenidathaltige Arzneimittel unterliegen wegen ihrer besonderen Suchtrisiken dem Betäubungsmittelgesetz. Diese Mittel werden dennoch dramatisch oft verordnet, auch indem von Lobbygruppen, gesponserten Expert*innen und Institutionen sowie mittels Werbung und zahlreicher Ratgeberliteratur und „Infoseiten“ im Internet auf die Eltern erheblicher Druck ausgeübt wird.

Folgen solcher Strategien und irreführender Informationspolitiken zeigen sich u. a. in

  • dem bedenklichen Anstieg von ärztlichen Verordnungen von Ritalin und anderen Psychostimulantien sowie von Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquilizern an Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene,
  • der Zunahme von gravierenden Nebenwirkungen wie „Drogenabhängigkeit“, Wachstumsstörungen, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Angst, Psychose, Aggressivität, Schlaganfall, Blutdruckveränderungen und anderen Folgen (die teilweise sogar in Beipackzetteln für methylphenidathaltige Präparate genannt werden),
  • der Tatsache, dass mehr Kinder aus unterprivilegierten Familien, von alleinerziehenden Müttern, von Müttern mit niedriger Schulbildung und von Sozialhilfe lebenden Müttern Methylphenidat verschrieben bekommen (Hjern u. a. 2010: 920 ff.),
  • der fast dreifach höheren Verordnungsrate von Psychostimulantien oder anderen Medikamenten bei Jungen als bei Mädchen.

 

Das gefährliche Geschäft mit ADHS

Der inflationäre Kreislauf von immer mehr und leichter zugänglichen psychiatrischen Diagnosen und dem Einsatz von immer mehr Psychopharmaka begann im Grunde in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts (DMS-III und DSM-III-R). Psychopharmaka haben ein gewaltiges Marktpotenzial und die Diagnosekriterien haben entscheidenden Einfluss auf den Umsatz. Mit jeder Neuaflage der entsprechenden Manuals (DSM und ICD) erhöhte sich die Anzahl diagnostizierbarer Störungen und „eine psychiatrische Diagnose zu stellen, wurde so immer leichter und „Normalität“ zur Mangelware“ (Frances 2013: 125; vgl. auch 113 f.). „In den letzten Jahren haben wir einen erschreckenden Teufelskreis erlebt. Die diagnostische Inflation ließ den Verbrauch von Psychopharmaka regelrecht explodieren, was der pharmazeutischen Industrie enorme Gewinne eingetragen hat; damit hatte sie nicht nur die Mittel, sondern auch ein starkes Motiv, um die diagnostische Blase… aufzupumpen“ (ebd.: 125).

Wie das Geschäftsgebaren und das Zusammenspiel von Industrie und Wissenschaft aber auch mit der Praxis funktioniert, zeigt exemplarisch die MTA- Studie „A 14-month randomised clinical trial for attention-deficit/hyperactivity disorder.“ (MTA Cooperative Group 1999: 1073 ff.), durch die die Medikamentalisierung starken Auftrieb erhielt. Diese Studie behauptete, dass eine Kombination aus Verhaltenstherapie und Methylphenidat die besten Ergebnisse bei der Unterdrückung von Symptomen des ADHS erbringt und damit der alleinigen psychotherapeutischen Intervention überlegen sei. Da nach dieser Studie von Methylphenidat verordnenden Ärzt*innen eine spezielle Ausbildung in Verhaltenstherapie gefordert wurde, wird diese flugs von den Methylphenidat-Herstellern Shire/Novartis angeboten und gesponsert. Bei der Nachuntersuchung von Teilnehmer*innen der MTA-Studie durch Molina B.S et al. (2007) zeigte sich aber bei den 14 Monate mit Methylphenidat behandelten Jugendlichen 36 Monate später eine erhöhte Rate an Straffälligkeit (27,1 % vs. 7,4 %) und an Drogenmissbrauch (17,4 % vs. 7,8 %). Die in der MTA-Studie beschriebene Besserung der ADHD-Symptomatik unter Methylphenidat korrelierte also nicht mit einer Besserung hinsichtlich Schulleistung, Berufsausbildung, sozialen Bindungen oder Lebensbewältigung.

In Deutschland können Hersteller unkontrolliert und ohne Offenlegung Angehörigengruppen, Ärztefortbildungen und umsatzfördernde Maßnahmen sponsern, wie z. B. die „World Federation of ADHD“. Diese Vereinigung von Würzburger Professor*innen, die sich der Verbreitung der Information zu ADHS und dessen Behandlung widmet, wurde im Jahre 2008 in Zürich, also außerhalb der Geltung der deutschen Aufsicht, gegründet, um das Thema ADHS profitabel für die Warenanbieter, z. B. mittels firmengesponserter weltweiter „wissenschaftlicher“ Kongresse“ zu vermarkten (vgl. Schönhofer 2013). Das erfolgreiche Marketing dieser Gruppe für das Thema ADHS und ADHS-Medikamenten lässt sich vor Ort anhand der auffällig hohen ADHS-Fallzahlen im Raum Würzburg erkennen, wie die Zahlen des Arztreports 2013 der Barmer GEK zeigen: Im Bundesdurchschnitt finden sich 2013 bei 10–12-jährigen Schulkindern ADHS-Diagnosen bei 12 % der Jungen und 4 % der Mädchen und Verordnungen der Psychostimulantien bei 6,5 % der Jungen und bei 2 % der Mädchen. In Würzburg, der Heimat der Behandlerlobby „World Federation of ADHD“, erhalten 18,8 % der Jungen und 8,8 % der Mädchen dieser Altersgruppe die Diagnose ADHS (57 % mehr) und die verordneten Stimulantien liegen mit 13,3 % bei Jungen (+105 %) und 5,5 % bei Mädchen (+175 %) ebenfalls weit über dem Bundesdurchschnitt.

Dabei sind die meisten Neuroleptika, z. B. Olanzapin (ZYPREXA), für Kinder und junge Menschen bis 18 Jahre nicht zugelassen. Dies gilt nicht für RISPERDAL, dessen Verschreibungszahlen an Hamburger Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 17 sich in den Jahren 2006 bis 2010 verdop- pelt haben und von 682 auf 1532 Fälle gestiegen sind (vgl. TK-Pressemittei- lung v. 09.10.2011). Eingeschränkt ist die Zulassung aber auch bei RIS- PERDAL (Risperidon). Dieses antipsychotische Mittel wurde von der deutschen Arzneimittelzulassungsbehörde bei Kindern ab fünf Jahren und Jugendlichen bis 18 Jahre nur zugelassen für:

  • eine symptomatische Kurzzeitbehandlung (bis zu sechs Wochen) von anhal- tender Aggression bei Verhaltensstörungen mit unterdurchschnittlicher intel- lektueller Funktion oder mentaler Retardierung im Rahmen eines umfassen- den Behandlungsprogramms.

Für die weiteren zugelassenen Indikationen wird wegen fehlender Daten zur Wirksamkeit eine Verordnung von RISPERDAL nicht empfohlen. Sie sind:

  • Schizophrenie, Manie bei bipolaren Störungen,
  • Kurzzeitbehandlung (bis zu sechs Wochen) von anhaltender Aggression bei mäßiger bis schwerer Alzheimer-Altersdemenz.

Die Gefährlichkeit der Vergabe von Neuroleptika erschließt sich schon aus der aufmerksamen Lektüre der Beipackzettel. Als Neben- und Langzeitwirkungen von Neuroleptika werden beschrieben:

  • Sie verdoppeln das Risiko eines plötzlichen Herztodes, unabhängig von der Diagnose Schizophrenie (vgl. DGSP 2010; Arzneitelegramm 2009).
  • Atypische und typische Neuroleptika haben weitgehend gleiche Wirkungen. Sie können die unwillkürliche Beweglichkeit (extrapyramidal-motorische Bewegungen) hemmen wie auch einen unwillkürlichen Bewegungsdrang (Sitzunruhe, Zwangsbewegungen, Schüttellähme u. a.) auslösen. Die Hemmung betrifft auch Denken und Sprechen.
  • Stoffwechselstörungen wie Diabetes, lebensbedrohliche Überzuckerung, Leberstörungen, extreme Gewichtszunahme und vermehrte Bildung von Prolaktin mit Störungen der Bildung von Sexualhormonen, mit Folgen wie Wachstumsstörungen, Brustwachstum (Gynäkomastie), Zyklusstörungen und Sterilität.
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfall können vermehrt auftreten.
  • Hemmung der Bildung von weißen Blutkörperchen mit Schwächung der Immunabwehr gegen Infektionen.
  • Sucht, Depression, Erregungszustände, Verlust der Impulskontrolle, Selbsttötungsideen.

Neuroleptika werden dennoch mit steigender Tendenz auch an Kinder und Jugendliche verordnet. Bei Kindern und Jugendlichen wirkt sich die Erhöhung der Prolaktinbildung mit Wachstumsstörungen, Brustwachstum und Störung der Bildung von Sexualhormonen besonders schädlich aus, da dadurch die sexuelle Prägung und Reifung irreversibel gestört und gehemmt werden kann, so dass andauernde Unfruchtbarkeit resultiert. Erhebliche Auswirkungen für die Entwicklung von jungen Menschen haben überdies die metabolischen Störungen mit häufiger Gewichtszunahme, dem darauf folgenden Bewegungsmangel, Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen u. a.

In diesem Zusammenhang ist ein Vorgang erwähnenswert: Im Jahre 2013 belegte das US-Justizministerium wegen Verstoßes gegen das US-Arzneimittel- gesetz den RISPERDAL-Hersteller Johnson und Johnson mit einem Bußgeld von 2,2 Milliarden Dollar, weil er in den Jahren 2002–2006 das atypische Neuroleptikum zur Behandlung bei bipolarer Depression und aggressivem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen empfohlen hatte, ohne dafür eine Zulassung zu haben. In Deutschland wird das Medikament wie andere Neuroleptika bei Wutanfällen und Erregungszuständen im Rahmen von ADHS empfohlen, ohne dafür eine Zulassung zu haben – aber hier wurde bisher niemand zur Verantwortung gezogen.

„Nebenwirkungen“, die in Beipackzetteln genannt werden, könnten den ver- ordnenden Ärzt*innen zur Aufklärung der Patient*innen dienen, wenn sie auch beachtet und entsprechend umgesetzt würden. Die Beipackzettel scheinen aber – statt zu mahnen und zu warnen – eher der Absicherung der Hersteller gegen Schadensersatzforderungen zu dienen.

Aus dem Gesagten kann nur mehr der Schluss gezogen werden, dass es dringend geboten ist, auf die Verordnung von Neuroleptika bei Kindern und Jugendlichen entweder zu verzichten oder die Einhaltung der Indikation streng zu kontrollieren.

 

Fazit

ADHS ist das Paradebeispiel dafür, wie aus erzieherisch/psychologischen Herausforderungen eine Krankheit gemacht wird, die dann mit Pillen zu behandeln ist, zum Wohle der Profite der Pharmaindustrie und ihrer Nutznießer und zum Schaden der Kinder und Jugendlichen, denen die Chance zur Bewältigung ihrer (primär sozialen) Probleme verweigert wird. Will man Kinder (und Eltern) vor solchen problementeignenden Praktiken und Geschäften und voreiligen sowie falschen Diagnosen schützen, ginge es zumindest um die Einhaltung bzw. Durchsetzung folgender Forderungen und Vorschläge:

  • Es bedarf unabhängiger Forschung zu für die Lebensbewältigung relevanten Parametern wie Schulleistungen, Berufsausbildung, soziale Bindungsfähigkeit und Organisation des eigenen Lebens sowie (vor allem) zu unerwünschten Folgewirkungen der Medikamentalisierung psychiatrischer Störungen. Diese Forschung ist durch staatliche Stellen zu finanzieren (vgl. Neeral/Wildermuth 2012). Bei der Zulassung und der Nutzenbewertung für die Erstattung von Arzneimitteln diesbezüglicher Indikationen sind vom Lizenzinhaber derartige unabhängige Studien vorzulegen.
  • Es sollten keine Medikamentenverordnungen über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr erfolgen und bevor nicht pädagogische und therapeutische Möglichkeiten dokumentiert und nachweisbar ausgeschöpft sind. Es bedarf einer unabhängigen Kontrolle des Verschreibungsverhaltens der niedergelassenen Ärzt*innen im Sinne der sog. Konsensusrichtlinien.
  • Die psychosoziale und therapeutische Kompetenz von verschreibenden Ärzt*innen sollte in unabhängigen Verfahren und Institutionen erworben werden. Zuwendungen durch die Pharmahersteller müssen bekannt sein im Sinne des „Physician Payment Sunshine Acts“ in USA.
  • Wie für die Heimkinder am runden Tisch sollten Gelder bereitgestellt werden für die Folgen und Nebenwirkungen der Therapie.

Es geht aber auch – vielleicht sogar vorrangig – darum, zu verstehen, wieso das „Konzept ADHS“ einschließlich der diesbezüglichen Diagnostik und Medikalisierung sich so und auch weit über den ADS-Komplex hinaus (etwa entsprechend § 35a; im Kinderschutz oder generell im Bereich der sozialen Diagnostik bei der individuellen Hilfeplanung) erfolgreich durchsetzen konnte und das Verschwimmen der Unterscheidung von „Erziehung“ und „Medizin“/„Psych- iatrie“ sich als zunehmend selbstverständlich und „normal“ etabliert.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können dazu folgende Aspekte geltend gemacht werden: Für das früh sich (vorschulisch) selbst optimieren müssende Kind wie die diesen Prozess „managenden“ und sich um den Erfolg sorgenden Eltern – wie auch für Fachkräfte in den Hilfen zur Erziehung – eröffnet das

Oszillieren zwischen pädagogischem und psychiatrischem Vokabular und Strategien eine Vergrößerung ihrer jeweiligen Handlungsoptionen und -sicherheiten, u. a., indem „unerklärliches“ oder „unverstandenes“ Verhalten unter Rückgriff auf medizinisches Expert*innenwissen in Verständnis umgewandelt wird. Das medizinisch-psychiatrische Wissen ordnet so auch soziale Beziehungsdynamiken neu, legt eine Umwandlung von Rollenbildern und Selbstverständlichkeiten nahe und verändert und bestätigt diese zugleich. „Die standardisierten, normalistisch begründeten Behandlungsangebote erzeugen eine Dynamik, im Zuge derer neue Routinen und Muster von Reaktion und Verhalten etabliert werden, die auf Wiederholung, Intensivierung oder auch Veränderung von Denkweisen, Normen und Verhaltenspraxen aller Beteiligten drängen“ (Liebsch u. a. 2013: 171) und insofern kontinuierlich interaktiv „bearbeitet“ werden müssen. Die angesprochenen Veränderungen beziehen sich auf nahezu alle Lebensbereiche und dienen – im Fall der Hilfen zur Erziehung – auch dazu, auf die angesprochenen Phänomene zugeschnittene, sprich spezialisierte Angebote zu etablieren und zu legitimieren. Sorgende Eltern, Ärzt*innen, sozialpädagogische Fachkräfte und Kinder richten ihr Selbstverständnis dabei aber in gesellschaftlichen Kontexten (neu) aus, die hochgradig beeinflusst sind durch z. B. Ratgeberliteratur, Betroffene, Internet, Expert*innen und vor allem Pharmaindustrie (s. o.), die sie mit Orientierungswissen versorgen. Indem sie dieses Orientierungswissen aufgreifen, tragen sie (alle!) dazu bei, „dass sich die medizinische und kulturelle Praxis der Diagnostizierung von Entwicklungsstörungen, ihre Bedeutung, Anwendung und Nutzung als legitim durchsetzt und in den Alltag integriert werden kann“ (ebd.: 174), wobei den Eltern zugutegehalten werden kann, dass sie hier einen Kampf um den sozialen Auf- oder Abstieg ihrer Kinder führen.

In der Normalität und Normalisierung von ADHS transportiert sich letzen Endes eine „technokratische Administration von Differenz“ (Castel 1982: 12); „technokratisch“ durch die Aufforderung zur Intervention; „administrativ“, da „neue soziale Unterscheidungen produziert werden, die in Form einer normalistisch erzeugten und begründeten „Diagnose“ nun in die Verwaltungsabläufe von Bürokratien eingehen, z. B. in die Abrechnungen von Krankenkassen, in Schulzeugnisse oder Berichte der Jugendhilfe. Damit erhält medizinische Expertise wachsenden Einfluss auf Fragen von kindlicher Entwicklung und Erziehung. Die neue Normalität dieser Entgrenzung von Erziehung und Medizin zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die medizinische Autorität nicht per Anordnung und Zwang wirksam ist“ (Liebsch u. a. – a. a. O.: 174), sondern trotz der Marginalität, in die sie Kinder bringt, (überwiegend) von Eltern und Fachkräften selbst gewählt und strategisch genutzt wird.

 

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