Diagnostik

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Dieser Artikel soll mit drei kurzen Fallskizzen unterschiedlicher Diagnosepraxen erhellen, wovon unsere sozialpädagogische Praxis beeinflusst wird; ist Soziale Arbeit doch als eine „die hochdifferenzierten Funktionssysteme verbindende Profession“ mit dem Gesundheitssystem insgesamt, der forensischen Psychiatrie und Rechtspsychologie, mit der Notfallmedizin, der Pädiatrie v. m. und nicht zuletzt mit den sie tragenden wissenschaftlichen Disziplinen, politischen Akteuren und Akteurinnen und Akteuren und Akteurinnen der öffentlichen Medien vielfältig verbunden. Wir als soziale Fachleute können von derlei Geschichten lernen, denn wir stehen vor der Herausforderung, als verantwortliche Akteure und Akteurinnen unser professionelles Fallverstehen voranzubringen und beobachten uns dabei, wie wir beobachten (Bateson).

Die Herkunft des Diagnosebegriffs aus dem medizinischen Sektor und seine Geschichte sollte jedenfalls im Blick behalten werden. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff, seiner Geschichte und den hiermit einhergehenden Referenzrahmen führt abschließend zum Plädoyer für „Kontakt, Verständigung und vor allem Mehrseitige Problemkonstruktion“ in Form einer Dialogischen Kasuistik statt „Diagnostik“ als Grundlage und Ausblick für reflexiv-professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe. Das heißt den Diagnostikbegriff überlasse ich gewissermaßen seinen Herkunftsdisziplinen, gleichwohl ich weiß, dass er sich inzwischen offenbar in der Kinder- und Jugendhilfe durchgesetzt hat, aber m.E. zu einer Unschärfe des Selbstverständnisses beiträgt.

 

Zuschreibung, Stigmatisierung und verfahrensmäßig legitimierte Freiheitsberaubung im Justizsystem

Wie man am breit in der Öffentlichkeit diskutierten Justizskandal im Fall Mollath sehen kann, passieren auch Psychiatern bzw. Psychiaterinnen und in der Justiz tätigen psychiatrischen Gutachtern und Gutachterinnen Fehldiagnosen, die, unüberprüft und mit stigmatisierender Kraft über Jahre hinweg weitergereicht, dazu führten, dass Gustl Mollath unrechtmäßig und freiheitsentziehend in mehreren geschlossenen psychiatrischen Anstalten untergebracht wurde (vgl. die zahlreichen Artikel zum Fall Mollath in der Süddeutschen Zeitung). Sicher liegt dem Fall eine familiale Konfliktgeschichte zugrunde. Und dennoch handelt es sich ohne Zweifel um eine folgenschwere fachliche (diagnostische) Verkennung jenes Konfliktgeschehens, das sich im (Ehe-)Paarverhältnis Mollaths zugespitzt hatte. Dieser Fall eignet sich besonders gut, um darzustellen, welche Konsequenzen psychiatrische Diagnosen haben können.

Er zeigt, wie eine evidenzbasierte (diagnostische) Praxis dazu beitragen kann, Kritiker bzw. Kritikerinnen sowie widerständige und behandlungsresistente Bürgerinnen und Bürger hervorzubringen.

Ein etwa sechs Jahre altes Mädchen bricht sich in den 1980er-Jahren bei einem Sturz aus dem Hochbett das rechte Schlüsselbein. Es hat Schmerzen. Die Mutter erträgt in ihrer Hilflosigkeit das Klagelied des Mädchens nicht mehr und fährt mit dem Kind in eine Klinik. Dort werden Röntgenaufnahmen gemacht, der Bruch aber nicht auf den Bildern gesehen. Für die Ärzte ist vielmehr evident, dass das Kind simulieren müsse. Mutter und Kind sollen nach Hause fahren. Die Mutter fährt aber mit dem Kind weiter in die nächste Klinik, in der sie wütend wird und herumschreit, da auch dort die Ärzte aufgrund fehlender Evidenz der Meinung sind, dass das Kind simuliere, weil sie abermals nichts auf den Röntgenaufnahmen entdecken können. In der dritten Klinik, einer Kinderklinik außerhalb der Stadt, kann der glatte Bruch endlich auf den Aufnahmen gesehen und das Kind schließlich medizinisch versorgt werden. Diese Fallgeschichte macht deutlich, dass das Gesundheitssystem mit einer sog. evidenzbasierten Praxis einem Kind nicht hilft, sondern das Problem verlagert wird, d. h. das eigene Unvermögen zu einer kindbezogenen Diagnose transzendiert.

 

Mit pauschalen Risikokalkülen und Risikodiagnosen zur Pathologisierung der Gesamtbevölkerung

Meine dritte Geschichte bezieht sich auf das Buch des renommierten Psychiaters Allen Frances (2013), mit dem Titel: „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“. Der Autor Frances arbeitete an drei Ausgaben des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM III, DSM III-R und DSM IV) mit, die amerikanische Version des hierzulande genutzten ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Bei letzterer Ausgabe war er sogar Vorsitzender der Redaktionsgruppe. Was das Buch von Frances so anregend macht, ist seine Kritik gegenüber der Entwicklung willkürlicher neuer Diagnoseklassifikationen und insbesondere seine persönliche Fehleranalyse hinsichtlich seiner Mitwirkung am DSM IV, bei welchem – selbst unter Berücksichtigung strengster wissenschaftlicher Regeln empirischer Forschung – es offenbar nicht möglich war, „drei neue falsche Epidemien bei Kindern vorherzusagen oder gar zu verhindern: Autismus, Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung und bipolare Störung. Und wir hatten nichts unternommen, um die wuchernde diagnostische Inflation im Zaum zu halten, die schon jetzt die Grenze der Psychiatrie weit über ihren Kompetenzbereich hinaus verschob“ (Frances 2013: 13 f.). Kritisch stellt Frances einen Trend fest, der „den Profit über das Wohl der Patienten stellt und eine nicht nachlassende Diagnose-, Test- und Therapiewut entfesselt“ (Frances 2013: 20). Anlass für Frances, dieses Buch zu schreiben, waren die Fachdiskussionen um das DSM V, das in der amerikanischen Fassung nun erschienen ist. So werde nämlich unter den mitarbeitenden Kolleginnen und Kollegen über die Konstruktion von Diagnosen diskutiert, die den Blick von einer vermutlich gegenwärtigen Krankheit hin zu einem noch schwerer zuverlässig einzuschätzenden wahrscheinlichen, zukünftigen Krankheitsrisiko lenken würden, wie z. B. die vorgeschlagene Diagnose eines „Psychoserisikos“ (Frances 2013: 18 ff.). Derartige Diagnosen seien nach Frances nicht nach wissenschaftlichen Regeln der Kunst zu begründen. Diese Entwicklung sei fachlich gesehen extrem Besorgnis erregend und lasse schließlich das „Normale“ vollkommen aus dem Blick geraten und würde dazu führen, dass die über diese diagnostische Inflation und den damit verbundenen ökonomischen Gewinn hoch erfreute Pharmaindustrie eine wachsende Zahl „neuer“ Patienten und Patientinnen mit ihren Produkten versorgen würde – mit unabsehbaren Folgen.

Derlei Geschichten feuern derzeit jedenfalls die Debatte um die Begriffe Diagnose und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe und überhaupt in der Sozialen Arbeit wieder an. In der Kinder- und Jugendhilfe im Besonderen bilden zudem vor allem die medialen Skandalisierungen um gescheiterte Kinderschutzfälle (wie z. B. Kevin, Lea Sophie, Anna, Yagmur etc.) sowie aktuell das Buch der Gerichtsmediziner Guddat und Tsokos mit dem Titel: „Deutschland misshandelt seine Kinder“ das trockene Feuerholz, das offenbar für einen Großbrand in der Diskussion sorgt, weil viele sich rasant vor einem besonderen öffentlich-medialen gesellschaftlichen, beruflichen und persönlichen Hintergrund zu positionieren versuchen, wobei in diesem Klima der „erregten Aufklärung“ (vgl. Rutschky 1992) das Interesse an diagnostischen Gefährdungseinschätzungsmethoden wächst.

Was können wir von derlei Geschichten lernen und welche Bedenken hinsichtlich einer einseitigen expertokratischen Diagnosepraxis lassen sich hiervon ableiten? Welche Aspekte sollten wir achtsam in unserer eigenen Praxis des Fallverstehens in der Kinder- und Jugendhilfe in den Blick nehmen, und ist die Übernahme des Diagnosebegriffes nach einer Reflexion seiner Herkunft und nach der Reflexion des Diskurses und der Kontroversen sowie seiner Methodik in der Fachdebatte dann noch passend?

 

Diskurslinien und Kontroversen um „Diagnose“ und „Diagnostik“ bzw. um „Fallverstehen“

Nicht alle Professionellen der Sozialarbeit oder der Kinder- und Jugendhilfe sind mit dem Erbe von Mary E. Richmond (1917) und Alice Salomon (1926) und ihrer „Social Diagnosis“ bzw. „Sozialen Diagnose“ einfach nur einverstanden. Viele hadern mit dem Begriff einer Diagnose – trotz seiner Erweiterung auf den „sozialen Kontext“ – wegen der semantischen Nähe zur medizinischen Profession. Manche finden ihn unpassend, weil sie die Relativität des Diagnosebegriffs auf dem Hintergrund historisch gewachsener und situativer gesellschaftlicher Kontexte in den Blick zu nehmen gelernt haben und/oder weil sie die fachlichen Fortschritte in der sozial-pädagogischen Professionsgeschichte nicht als durchgängig gelungen ansehen (vgl. Rutschky 1977 oder Elias 1939). Hinzu kommen diejenigen, die die autoritäre Menschenbehandlung und Menschenvernichtung und Exklusion im Zuge von Krieg und Diktatur (vgl. C.W. Müller 1982), wie sie von Sozialer Arbeit im vergangenen Jahrhundert immer wieder mit ins Werk gesetzt wurden, und die hieran anknüpfende Methodenkritik in den 60er-Jahren (Hering/Münchmeier 2005, Kappeler 2013 und Wolff 2005; vgl. Lethen 2012) noch im Sinn haben und deswegen den Diagnostik-Begriff nicht so einfach übernehmen können. Weitere verfolgen die zunehmende Ökonomisierung Sozialer Arbeit mit Skepsis bzw. befürchten die Entwicklung einer sog. (Neo-)Sozialen Arbeit (vgl. Schaarschuch 1996 oder Kessl/Reutlinger/Ziegler 2007). Die aktuellen Diskussionen und Kontroversen um Diagnosen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit und insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe werden jedenfalls aus vielfältigen Erfahrungen, Motiven und Perspektiven gespeist (vgl. Forum SOZIAL 4/2012: 10–26; Widersprüche 2003).

So stellen Kritiker heraus, dass eine klassifizierende Merkmalszuschreibung dort anfängt, wo gegenseitige Verständigung aufhört – mit der Folge der Verstärkung der stigmatisierenden Macht expertokratischer Diagnosen (vgl. u. a. Neuffer 2012; Nauerth 2012; Kunstreich 2003). Zur Begründung dieser These wird herausgestellt, dass eine unkritische Übernahme des medizinischen Referenzrahmens (vgl. Ader 2006) mit dem Drei-Schritt-Konzept von Anamnese, Diagnose und Behandlung die in der Kinder- und Jugendhilfe immer relevante Ebene von Herrschaft und Macht, wie sie in der Begegnung von Fachleuten und Konfliktbeteiligten und Hilfesuchenden konstelliert, unterbelichtet bleibt. Darum wird gefordert, dass im mehrseitigen dialogischen Fallverstehen verhindert werden muss, ein expertokratisches Wissen und ein asymmetrisches Machtverhältnis zu vertreten, das die Klienten und Klientinnen zu Objekten degradiert und ihre Lebenswelt (Thiersch) als eine inakzeptable Sinnkonstruktion verkennt und sie gleichzeitig durch Stigmatisierungsprozesse mit unbedachten Normativitätsstandards konformistisch im Sinne von Gouvernementalität weiter belastet (vgl. Foucault 1976). Wie man diesen konzeptuellen Ansatz allerdings methodisch umsetzen kann, ist damit noch nicht entschieden.

Ein anderes Spannungsfeld besteht in der Debatte um klassifizierende vs. hermeneutische Verfahren des sozialpädagogischen Fallverstehens und der Problemkonstruktion (Diagnose). Hieran schließt die Diskussion um die praktisch methodischen Umsetzungen an, die „durch die Erkenntnis hindurch“ führen sollen (aus dem Griechischen: διάγνωσιϛ, diágnosis „Unterscheidung, Entscheidung“, zusammengesetzt aus: διά-, diá-, „durch-“ und γνώσιϛ, gnósis, „Erkenntnis, Urteil“). Dabei lassen sich vereinfachend zwei Praktiken des so gefassten Fallverstehens und der Problemkonstruktion (einer diagnostischen Kasuistik) methodologisch folgendermaßen unterscheiden: a) klassifizierende Verfahren und b) hermeneutische Verfahren (für einen Überblick verschiedener diagnostischer Verfahren: Heiner 2004; Pantucek 2009; für die Risikoerfassung im Kinderschutz siehe Deegener/Körner 2008 und für einen Überblick über rekonstruktive Verfahren Peters 2002; Miethe/Fischer et al. 2007 und dialogischer Verfahren Wolff/Stork 2012). Während also in der Debatte klassifizierende Verfahren im Zuge von Faktorensammlungen zur Einspeisung in Wahrscheinlichkeitscluster von Störungsbildern Stigmatisierungen, Machtasymmetrien und institutionellen Missbrauch begünstigen, versprechen sozialpädagogisch-hermeneutische Verfahren, den Klienten bzw. Klientinnen in seinem So-Sein zu achten, ihn in seiner Lebenswelt offen wahrzunehmen und in seinen Selbstdeutungen ernst zu nehmen und anzuerkennen (Cinkl/ Krause 2011). Das heißt es gibt einerseits Diagnostiker und Diagnostikerinnen, die der Meinung sind, ohne die standardisierte Sammlung von sog. „Fakten“ bzw. ohne fundierte „Sachverhaltsaufklärung“ in Form von psycho-sozialen oder standardisierten diagnostischen Erhebungsinstrumenten wäre eine Hilfeplanung undenkbar (Harnach 2007; Röh/Pantucek 2009). Andererseits setzen sich andere Fachleute für eine integrative oder herrschaftskritische Diagnosepraxis oder Fallverstehenspraxis (vgl. Nauerth 2012; Heiner 2013) bzw. für ein sozialpädagogisches diagnostisches Verstehen in Aushandlung mit den Klientinnen und Klienten des Hilfesystems ein (Schrapper 2004), nicht zuletzt, um einen Rückfall in eine stigmatisierende Ausgrenzungspraxis zu vermeiden (vgl. z. B. Knebusch 2005: 185–202), wie sie sich allerdings im Zuge der Propagierung der sog. „Neo-Diagnostik“ wieder andeutet (Widersprüche 2003).

Innerhalb der Debatte um Diagnostik bzw. Fallverstehen und Problemkonstruktion wird aber eine weitere Problematik mitverhandelt, nämlich die Frage, wie es um die Handlungsfähigkeit und Effizienz sozialer Fachpraxis steht. Die aktuellen Debatten sind insofern schnell zugleich Auseinandersetzungen um evidenzbasierte Soziale Arbeit, der allerdings unter strukturellen Ungewissheitsbedingungen noch nicht einmal empirische und statistische Daten zur Verfügung stehen, auf die man Entscheidungen und Handlungen verlässlich gründen könnte. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer plädiert daher mit Bezug auf Kant eher für sapere aude!, nämlich für den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, Intuition und Erfahrung zu nutzen, um in Konfrontation mit komplexen Problemlagen erfolgreich zu handeln (Gigerenzer 2013: 38). Ein solcher Vorschlag könnte auch in der modernen Kinderschutzpraxis genutzt werden.

Statt mit Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um in Konfrontation mit komplexen Problemlagen und im Kontakt mit besonderen Familien, Eltern und Kindern erfolgreich zu handeln, greift in der Kinder- und Jugendhilfe und in der Kinderschutzpraxis im Besonderen vielmehr ein Bestreben nach instrumenteller Verfahrenssicherheit und Selbstschutz um sich und es verbreitet sich – wie ein Lauffeuer – zunehmend eine Bedrohungskommunikation in den sozialen Organisationen mit dem Interesse eines Risiko-Containments devianter Bevölkerungsgruppen (Hünersdorf 2011: 15–43; Frances 2013). Dieser Trend geht mit der präventiven Orientierung und Konzepten der Früherkennung sowie der gesetzlich verpflichtenden Risikoeinschätzung nach

§ 8a SGB VIII einher. Dabei wird Fachkräften zweierlei abverlangt: Einerseits müssen sie in der Lage sein, mithilfe einer sog. „insofern erfahrenen Fachkraft“ im Team die gegenwärtige familiale Problemlage im Hinblick auf eine Kindesmisshandlung oder Kindesvernachlässigung einzuschätzen. Andererseits müssen sie darüber hinaus ihren Blick auf Risikomomente richten, die prospektiv zu einer Gefährdung des Kindeswohls in der Familie führen „könnten“. Das heißt sie werden gefordert, nicht nur anamnestisch die aktuelle Familiensituation und das gegenwärtige Wohlergehen der Kinder einzuschätzen – was i. d. R. schon schwierig genug ist –, sondern darüber hinaus Risikokalküle über in der Zukunft wahrscheinliche Entwicklungsgefährdungen von Kindern im Zusammenhang des eigenen professionellen Handelns als Kinderschutzfachkräfte bzw. Kinderschutzorganisationen zu unternehmen (Wolff 2010: 337 ff.; Ackermann 2010: 50–55). Daher kommt es zu Prophezeiungen von Notlagen, von denen nicht sicher auszugehen ist, dass sie überhaupt eintreten werden, denn derartige Prospektiven bleiben kontingent (Luhmann 1991: 30 ff.). Das heißt sie bleiben nicht kalkulierbar, unsicher und zufällig (vgl. Hünersdorf 2011; Rauschenbach/Gaengler 1992). Darüber hinaus kann es zu wachsender Ausgrenzung und sekundären Traumatisierungen von Eltern, Kindern und Jugendlichen kommen. Auf diesem Hintergrund ist das professionelle Selbstverständnis und der Auftrag gefährdet und die Frage scheint berechtigt: Geht es nun um professionellen Selbstschutz statt um Kinderschutz? (Biesel 2009). Ob und auf welche Weise die Eltern an der Gefährdungs- und Risikoeinschätzung beteiligt werden und ob und wie die Kinder und Jugendlichen überhaupt an einer Problemkonstruktion mitwirken dürfen, bleibt erfahrungsgemäß stark zu bezweifeln (Wolff et al. 2013; Pluto 2007), obwohl gerade die betroffenen Familien den Professionellen in ihrem Handeln unter Ungewissheitsmomenten helfen könnten.

Aus einem kritischem sozialpädagogischen Fallverständnis heraus hat Burkard Müller versucht, die Begriffe „Nicht-Nicht-Wissen“,  „Durchblick“, „Dazwischentreten“ und „gemeinsame Bewertung“ in die Diskussion um Diagnostik einzuführen und multiperspektivisches Fallverstehen unter Einbezug von Familien, Eltern, Kindern und Jugendlichen starkzumachen  (Müller 1993). Was von einigen Vertretern bzw. Vertreterinnen weiterhin als Anamnese, Diagnose und Intervention sowie schließlich auch Evaluation als Prozessschritte „sozialpädagogischer Diagnostik“ erachtet wird (vgl. Heiner 2004), wollte Müller mit seinen Vorschlägen „sozialpädagogisieren“, d. h. im Hinblick auf eine reflektierte Profession, ihre Identität und Aufgabe sprachlich genauer fassen. Das heißt die Frage nach dem Tun, das zu einem bestimmten Fallverstehen führt, und dem Tun, das dem Fallverstehen folgt, ist auch eine professionstheoretische Frage nach dem Selbstverständnis, der Rolle und Aufgabe in der Kinder- und Jugendhilfe, denn je größer die Inferenzrisiken – also die Risiken der Schlussfolgerungen, die einer Untersuchungspraxis folgen – sind, umso größer wird der Eingriff in die Zuständigkeit und Aufgabenbestimmung einer Profession (Abbott 1988: 50).

 

Kontakt, Verständigung und mehrseitige Problemkonstruktion

In einem seiner letzten Artikel stellt darum Burkhard Müller heraus: „Wahr ist: Solange ich mich verständigen kann, brauche ich keine Diagnose“ (Müller 2012: 96), und er unterstreicht:

  1. Verständigung muss zentrales Ziel jeder Sozialen Arbeit sein,
  2. Nicht jedes Verstehen-Wollen, was mit den Klienten und Klientinnen „los ist“ dient auch der Verständigung (und dem gemeinsamen Arbeitsprozess) mit ihnen, sondern ein solcher Ansatz könne auch die Verständigung erschweren.
  3. Verständigung kann auch an ihre Grenzen stoßen und psychologische und medizinische Diagnostik im herkömmlichen Sinn haben ihren Platz – jedoch mit eigenen, der jeweiligen Disziplin entsprechenden Hilfskonzepten – und schließlich:
  4. Selbst dann, wenn Verständigung unmöglich erscheint, sollte nicht im Vordergrund stehen, danach zu fragen, was mit den Klienten und Klientinnen „los ist“, sondern man sollte lernen, nach dem eigenen „Mich-nicht-verständigen-Können“ zu fragen und es zu untersuchen – eine Perspektive, an der das Hilfesystem ansetzen könnte (ebd.). Müller plädiert gewissermaßen für eine prozessorientierte Fallarbeit als Diagnostik der Verständigungsmöglichkeiten und in „sozial-moralischen Konflikten, in denen es keine neutrale Rolle gibt, verschüttete Zugänge zu gemeinsamer Arbeit an Auswegen aus Engpässen und Notlagen zu finden“ (108).

So sehen wir, dass es praktisch gesehen um die Errungenschaft von Selbstwahrnehmungen oder der Nutzung der menschlichen Chance zur Extrapositionalisierung (Plessner) geht, die bei allen Beteiligten gefördert werden kann und sicher zur menschlichen (Weiter-)Entwicklung beiträgt. Es geht also um eine Selbstprüfung im Auge des Anderen und vor allem darum, sich mit sich und anderen darüber zu verständigen, was die eigene Selbstkonstruktion als Individuum in den verschiedenen Rollen und sozialen Kontexten, aber auch der Organisation, des Hilfesystems und der Gesellschaft insgesamt sein soll (Selbstverständnis und Selbstkonstruktion). Dabei kann gefördert werden, gemeinsam Lern- und Transformations- oder Entwicklungschancen zu eröffnen. Das heißt aus professioneller Perspektive gesehen, geht es primär um Förderung. Um aber Menschen fördern zu können, müssen ihre Entwicklungsbedürfnisse überhaupt erst einmal zur Sprache kommen. Dafür braucht es Kontakt und Verständigung. Forschung und Wissenschaft können bei der Frage nach den Entwicklungsbedürfnissen von Kindern, Jugendlichen, Eltern, Familien, Männern und Frauen, Bürgerinnen und Bürgern Orientierung geben. Sie kann auch dabei helfen, die Hintergründe und die historisch gewachsenen und relativen Konstruktionen von gesellschaftlichen Werten und Normen im Sinne einer kritischen Gesellschaftstheorie in den Blick zu nehmen. Grundlage dieser Orientierungen und Werte bleiben jedoch ethische Grundprinzipien und grundgesetzlich verankerte Rechte. Und mit den Rechten gehen Pflichten einher, die zu erfüllen, jeder Mensch unterstützt zu werden verfassungsmäßig berechtigt ist.

Dieser Rahmen zur (Selbst-)Verständigung oder der selbstbezogenen Problemkonstruktion (Diagnose) geht erfahrungsgemäß manchmal in der Kinder- und Jugendhilfe und vor allem im Kinderschutz verloren. Dabei kann befürchtet werden, dass mit einem Trend hin zu einem asymmetrischen Kräfteverhältnis zwischen Verwaltung und Fachlichkeit die Kinder- und Jugendhilfe und der Kinderschutz zu einer post-disziplinären Ordnung (Castel 1991) ohne Verständigung und Beziehung gewissermaßen auf ein Konzept der „Armutspolizey“ zurückgeworfen wird (Knopp/Münch 2007). Zudem wird dieser Trend durch die verbreiteten Haushaltsprobleme aufgrund der Überschuldung der kommunalen Haushalte in der Kinder- und Jugendhilfe noch verschärft ( KomDat Jugendhilfe 2008: 4). Und schließlich gefährden propagierte neo-manageriale Methoden und Verfahren, die z. B. einen Referenzrahmen legen, der sich zwischen Freiwilligkeit und Zwang bewegt (wie Lüttringhaus vorschlägt), das sozialstaatlich gesicherte Recht auf Hilfe von Kindern, Jugendlichen, Bürgerinnen und Bürgern. Derartige Konzepte und Einflüsse führen erfahrungsgemäß zu Repression und weiterer Belastung statt zu Hilfe und Förderung. Das heißt mit einem derlei multipel beeinflussten Selbstverständnis in der Kinder- und Jugendhilfe und im Kinderschutz – das sich gewissermaßen dabei vergisst, selbst zu fördern – droht eine solidarische und beherzte dialogische Fachlichkeit in eine Form der Überwachung, Verfolgung, weiterer Ausgrenzung und Strafe zurückzuführen. Die Fachkräfte könnten sich daher alternativ auf sich selbst besinnen und mit einem Selbstverständnis der Förderung von Kindern und Jugendlichen, ihren Eltern und Familien und des Gemeinwohls von Anfang an miteinander und insbesondere in Zusammenarbeit beherzt den Interessen der Verwaltungsakteure und -akteurinnen, der politischen Akteure und Akteurinnen, der Akteure und Akteurinnen des Kostencontrollings und nicht zuletzt der Akteure und Akteurinnen der medialen Öffentlichkeit argumentativ und fachlich gestärkt gegenübertreten und sich nicht „entdemokratisiert“ und (post-)demokratisch von äußeren Interessen bestimmen lassen, wie es sich in der Praxis zu großen Teilen andeutet (vgl. Widersprüche 2013). Insofern bleibt den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe im gesamtgesellschaftlichen Kontext vor allem, erst einmal sich selbst als Akteure und Akteurinnen in ihrem Feld und Kontext reflexiv in den Blick zu nehmen und eine selbstbezogene Problemkonstruktion (Diagnose) zu unternehmen und mit den beteiligten, mitverantwortlichen Funktionssystemen und den Familien, Eltern, Kindern und Jugendlichen in eine anerkennende Verständigung zu gehen, um weiterhin gemeinsam, mehrseitig und demokratisch ihre Aufgaben der Unterstützung und Förderung auch im Konflikt oder „mit“ dem Widerstand erfolgreich zu meistern.

 

Literatur

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