Differenz, soziale Ungleichheit, Intersektionalität in der Kinder- und Jugendhilfe

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ForE 2-2017

Der Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt, sozialer Ungleichheit, Benachteiligung und Diskriminierung stellen für die Soziale Arbeit und auch die Erziehungshilfen nichts prinzipiell Neues dar. Soziale Arbeit leistet schon immer kulturelle Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit mit dem Ziel der Herstellung gerechterer Verhältnisse. Dennoch ist die Aufmerksamkeit vor allem in den Erziehungshilfen häufig primär auf Differenzen von Normalität und Abweichung gerichtet. Materielle und strukturelle, gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten, vor allem die Überschneidungen mehrerer Ungleichheit produzierender Differenzkategorien wie etwa Klasse, Migration oder Geschlecht sind bisher in den Erziehungshilfen eher implizit im Blick. Differenzkategorien werden eher isoliert betrachtet. So geraten Überschneidungen von z. B. Geschlecht und Klasse oder Migration und Klasse bzw. Armut aus dem Fokus.

Der für Überschneidungen (bzw. Intersektionen) diskriminierend wirkender Differenzkategorien ursprünglich in den USA geprägte Begriff der Intersektionalität hat seit den 1990er Jahren auch im deutschsprachigen Raum Einzug gehalten. Aus der feministischen Frauenbewegung kommend fand er dort wie hier zunächst Eingang in die Frauen- und Genderforschung, ist aber zunehmend auch in der Sozialen Arbeit rezipiert. Er ist Ausgangspunkt für divergierende Diskussionen. Er begründet verschiedene Versuche theoretischer Klärung von in der Lebenswirklichkeit relevanten und zusammenwirkenden Differenzkategorien sowie Diskussionen zur Nutzbarmachung intersektionaler Erkenntnisse in der praktischen Arbeit. Dabei ruft der Ansatz der Intersektionalität durchaus auch kritische Stimmen hervor, die u. a. im Herausarbeiten und Benennen der Kategorien die Gefahr einer Verfestigung von Differenzen und stigmatisierenden Zuschreibungen sehen.

Das Heft widmet sich der Intersektionalität als Analysemodell im Bereich der erzieherischen Hilfen und greift damit einen Themenkomplex heraus, der die Anwendbarkeit intersektionaler Perspektiven zur Beurteilung von Fallgeschehen diskutiert. Anliegen des Ansatzes ist es nicht zuletzt dazu beizutragen, den Blick der Fachkräfte für die Verknüpfung von Subjekt und gesellschaftlichen sowie politischen Strukturen von Ausschlussprozessen zu schärfen. Die Beiträge des Heftes fokussieren unterschiedliche intersektionale Perspektiven und können angesichts der denkbaren Vielfalt der Verknüpfungen nur exemplarischen Charakter haben.

Zunächst führt Nicole von Langsdorff in einem theoriebezogenen Beitrag in Begriff und Ebenen der Intersektionalität ein. Sie zeigt ausgehend vom Konzept der Lebensweltorientierung die Idee eines um intersektionale Perspektiven erweiterten Analysemodells für die Jugendhilfe auf. Hannelore Häbel weist daraufhin, dass das SGB VIII mit § 9 eine gesetzliche Verpflichtung der Jugendhilfe zur Beachtung von Aspekten enthält, die Menschen voneinander unterscheiden und ihre Vielfalt beschreiben. Sie konkretisiert die Vorschrift mit Blick auf die Differenzkategorien und unterstreicht ihre Verbindlichkeit für alle Ebenen und Strukturen der Jugendhilfe. Am Beispiel der Biografie eines Jugendlichen aus der stationären Jugendhilfe zeigt Thomas Geisen das Zusammenspiel verschiedener Differenzkategorien mit der Kategorie Migration auf. Er verdeutlicht, wie deren Zusammenwirken im Erleben des Jugendlichen als Einheit wahrgenommen wird. Bettina Ritter richtet ihren Blick auf junge Mütter, die durch die frühe Mutterschaft mit ihrer Biografie vom gesellschaftlich vorgegebenen Normallebenslauf abweichen. Sie legt dar, wie die Kategorien Alter, Geschlecht und Klasse in der Erzeugung sozialer Ungleichheit junger Mütter zusammenwirken. Tanja Abou beschreibt aus der Perspektive ihrer beruflichen Praxis in einer Heimeinrichtung, wie Kategorien wie Klasse und Herkunft verknüpft sind und die Jugendlichen mit diskriminierenden Stigmen belegen. Sie appelliert an die Akteur_innen der Jugendhilfe, dieses Zusammenwirken aufzudecken und die kreativen Lebensbewältigungsmuster der Kinder und Jugendlichen freizulegen.

Hannelore Häbel, Nicole von Langsdorff

 

 

Aus dem Inhalt

Friedhelm Peters: Postfaktische Politik

Nicole von Langsdorff: Intersektionale Perspektiven für die Jugendhilfe – Versuch einer theoretischen Verortung

Hannelore Häbel: Berücksichtigung von Differenzkategorien in der Jugendhilfe – gesetzliche Verpflichtung nach § 9 SGB VIII

Thomas Geisen: Jugendliche mit Migrationshintergrund in der stationären Jugendhilfe – Ein Blick auf intersektionale Verknüpfungen

Bettina Ritter: Junge Mütter zwischen Biografie und Lebenslauf –Von falschen Vorstellungen und echten Ungleichheiten

Tanja Abou: Wunderkinder – Ein Plädoyer aus der Praxis zur Auflösung diskriminierender Stigmen

Susanne Witte, Laura Miehlbradt, Eric van Santen, Heinz Kindler: Kinderschutzsysteme im europäischen Vergleich – Vorstellung des internationalen Forschungsprojektes HESTIA

Thomas Meysen, Liz Kelly: Grundlagen für ethische Praxis bei Interventionen im Kinderschutz

Sonja Achenbach: Das Kinder- und Jugendhilfezentrum (KIDZ) in Leonberg geht auf „Parti-Reise“ – Konkrete Schritte zur Erhöhung der Partizipation von Kindern und Eltern im Einrichtungsalltag

Norbert Struck: Zu einigen „Steuerungs“-Missverständnissen bei Bund und Ländern im Hinblick auf junge geflüchtete Menschen