Jugendhilfe im neuen Europa

ForE 4-2004

2004 ist ein besonderes Jahr für Europa. Zehn neue Staaten sind am 1. Mai 2004 der europäischen Union beigetreten. Mit den neuen Beitrittsstaaten Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern umfasst die Europäische Gemeinschaft 25 Mitglieder. Ein Staatenzusammenschluss mit 455 Millionen Bürgerinnen und Bürgern ist entstanden. Freilich steckt die sozial- und jugendhilfepolitische Ausgestaltung der EU gemessen an der Konturierung der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik in den Kinderschuhen. Widersprüchliche Entwicklungen und fehlende Informationen – insbesondere auch über Formen erzieherischer Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien in den neuen EU-Ländern – sind zu verzeichnen.

Noch fehlen Grundlagen, um gemeinsame Tendenzen in ihrer Differenziertheit wahrzunehmen. Dabei kann aus Differenzen gelernt werden. Insbesondere, wenn ein grundsätzlicher Respekt vor unterschiedlichen sozialen Philosophien, Standards und Sozialkulturen besteht. Aus Differenzen gelernt werden kann, wenn wir neugierig werden oder wenn wir – das zeigt uns die Ethnologie – im Unbekannten doch Momente des Vertrauten, der eigenen Praxis und der eigenen sicheren Erfahrung sehen können.

Momente des Lernens können entstehen, wenn wir in Europa über ökologisch-sozialräumliche Einbindung der Formen von Heimerziehung zumindest diskutieren, und wenn wir hinter den Spezifika der Länder die (gemeinsame) Diskussion um Ausgleich zwischen kurzen, intensiven Hilfeformen und langfristigem Leben am außerfamilären Ort erkennen. Das ist auch dann der Fall, wenn wir Dienstleistungsorientierung und Stärkung von Rechten in vielen europäischen Jugendhilfegesetzen erkennen, aber auch wenn wir gezwungen werden, in immer neuen Konjunkturen über freiheitsentziehende Maßnahmen im Kontext der Heimerziehung zu reden – und dabei die immer gegebene politische Einflussnahme auf fachliche Diskussionen um Grenzen von Hilfe und Kontrolle erkennen.

Für Lernen aus der Differenz braucht es Gemeinsamkeiten, sonst bleibt es beim Unverständnis. Und es bedarf Antriebskräften: der fachlichen Neugier verbunden mit wachsender Anerkennung und Wertschätzung. Vor allem aber bedarf es der Informiertheit und fachlicher Anhaltspunkte, um Differenzen erkennen, diese einschätzen zu können. Um Grundlagen für ein Lernen aus Differenz und Gemeinsamkeiten in den Erziehungshilfen zu verbessern, widmet sich das vorliegende Heft den Kinder- und Jugendhilfesystemen und Angeboten in einigen neuen EU-Mitgliedsländern.

Franz Hamburger zeigt in einem Grundsatzbeitrag auf, dass der langsame Aufbau einer europäischen Sozialregulierung mit den faktischen Deregulierungen kaum Schritt halten kann und verweist auf die weiter vorhandene Relevanz von nationalstaatlicher Sozialpolitik. Er konstatiert einen Verlust der Balance von quantitativem und qualitativem Ausbau der EU.

Helga Oberloskamp richtet den Blick auf die jugendhilfebezogenen Rechtsordnungen von Polen und Deutschland. Ihr Rechtsvergleich zeigt ausgehend vom deutschen Jugendhilfesystem, dass, obgleich man den Begriff Jugendhilfe in den Rechtsvorschriften Polens vergebens sucht, dennoch zahlreiche Angebote und Hilfeformen möglich sind.

László Csókay gibt den deutschen LeserInnen eine Übersicht über die im neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1997 geregelte Jugendhilfe in Ungarn. Er beschreibt die Zweiteilung in Grundversorgung, die zahlreiche ambulante Hilfen zur Erziehung einbezieht, und dem System der Fachversorgung, die mit der Fremdunterbringung in Pflegefamilien und Kinder-/ Jugendheimen zu tun hat. Aufmerksamkeit widmet er dabei auch dem ungarischen System der Nachbetreuung und – anhand einer Studie – der Unterbringung in Wohngemeinschaften.

Alenka Kobolt geht auf die slowenische Kinder- und Jugendhilfe ein. In Slowenien hat sich in den letzten dreizehn Jahren das politische und gesellschaftliche System stark verändert. Dies hat auch Auswirkungen auf die Jugendhilfe. Die Autorin skizziert in ihrem Beitrag die zentralen Aspekte der Veränderung: die Aktivität nichtstaatlicher Organisationen, die Durchsetzung der Integration von Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen, die inhaltlichen und räumlichen Veränderungen aller Formen institutionalisierter und außenfamiliärer Erziehung und die Verbesserung der Fachkompetenz der MitarbeiterInnen.

Josef Koch

 

Aus dem Inhalt

Franz Hamburger:
Die Jugendhilfe im neuen Europa

Helga Oberloskamp:
Hilfen zur Erziehung in Polen

LászlóCsókay:
Jugendhilfe in Ungarn

Alenka Kobolt:
Sloweniens Jugendhilfe zwischen alten und neuen Strukturen

Eva Fülöpova, Jana Svetlikova:
Einstellungen und Erwartungen der Jugend in der Slowakei

Dirk Bange:
Geschlechterpädagogik in den erzieherischen Hilfen

Hanna Permien, Sabrina Hoops, Martina Steger und Christian Lüders:
Über GU lässt sich trefflich streiten –aber fundiert nur auf der Basis von Ergebnissen!

PARITÄTISCHEN Gesamtverband e.V.:
Eine Kostenheranziehung der Eltern bei ambulanten Erziehungs-und Eingliederungshilfen würde einen unverzichtbaren Kern der Kinder- und Jugendhilfe zerstören. Eine Stellungnahme

Erscheinungsjahr
2004
Ausgabe
4
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2004