Körperlichkeit
Die leiblich-körperliche Dimension spielt im Alltagserleben von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle. Der Körper als individuelles verfügbares Erfahrungs- und Erlebnisfeld verspricht Inszenierung, Selbstvergewisserung, Risikoerleben, Rückzug, Sicherheit etc.
Viele Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenslagen haben, wenn soziale Normalitäten zerbrechen, oft nur noch den eigenen Körper, um sich selbst zu erleben. Dann geht es häufig aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe um den „gefährdeten“ und „auffälligen Körper“ durch Gewalt- oder Drogengebrauch, Selbstverletzung und noch die aktuellen Hilfeplan-Forschungsprojekte lehren uns, wie sehr körperbezogene Wahrnehmungen und Deutungen von Sozialen Fachkräften zur Beurteilung der sozialen Lage der AdressatInnen genutzt werden.
In der Geschichte der Sozialen Arbeit taucht die körperlich-leibliche Dimension der jungen Menschen eher als Anlass zur Disziplinierung und „Menschenverbesserung“ auf - der „wilde Körper“ als privater, undurchschaubarer, zügelloser Aspekt jugendlicher Lebensäußerungen.
Die Bedeututng der Körperlichkeit als integraler Bestandteil der Persönluchkeitsentwicklung, der Identitätsbildung oder des sozialen Gruppenlebens wird auch in den Erziehungshilfen wenig reflektiert, obwohl bei Hilfen zur Alltagsbewältigung von Heranwachsenden und vor allem im Zusammenleben am außerfamiliären Ort die körperlich-leibliche Dimension zwischen Kindern und Erwachsenen konstitutiv ist um Vertrauen, Sicherheit, ein Gefühl für Nähe und Distanz und für Möglichkeiten sowie Grenzen der Selbstinszenierung aufzubauen. Auf der Alltags- und Handlungsebene stellt sich dies in den Erziehungshilfen anders dar, denn hier sind junge Menschen und MitarbeiterInnen mit belastenden körperlichen Erfahrungen, mit Pubertät, dem Ringen nach einem individuellen Körper- und Schönheitsmaß etc. konfrontiert, aber auch beim alltäglichen Bedürfnis nach Kuscheln, Berührung in zärtlicher und kumpelhaft-grober Variante als PädagogInnen und Menschen gefragt.
Das vorliegende Heft versucht die Diskrepanz zwischen der Alltagserfahrung über die Bedeutsamkeit dieser Dimension und der unterentwickelten konzeptionellen Reflexion dieses Aspekts ein wenig zu schließen: Aus diesem Grunde sind in allen Beiträgen des vorliegenden Schwerpunktheftes Interviewsequenzen zum Thema „Körperlichkeit“ mit MitarbeiterInnen, Kindern und Jugendlichen einer stationären Wohngruppe eingestreut. Die Fragen zielten auf Erzählungen über das, was vor allem Heranwachsende, aber auch MitarbeiterInnen brauchen, um sich (auch körperlich) wohl zu fühlen.
Im ersten Hauptbeitrag fragt dann Horst Rumpf in seinem essayistischen Eingangbeitrag „Was ist uns näher als unser Leib?“ und antwortet sogleich: „Solange er einigermaßen funktioniert, zieht er keine Aufmerksamkeit auf sich“. Dass es dieser Aufmerksamkeit aber bedarf, wenn PädagogInnen junge Menschen nicht nur technokratischen Lernvorstellungen ausliefern wollen, zeigt der Beitrag. Melanie Hengefeld meint im zweiten Beitrag, dass die größte Herausforderung für die MitarbeiterInnen - vor allem in den Formen der Heimerziehung - darin liegt, unter den Bedingungen einer Institution mit belasteten Heranwachsenden eine Selbstverständlichkeit im körperlichen Umgang herzustellen. Heimerziehung und der Auftrag der MitarbeiterInnen zielt auch auf die Erfüllung alltäglicher körperlicher Bedürfnisse.
Im dritten Beitrag schildert Gereon Kerkhoff ein Projekt mit männlichen Jugendlichen aus einer Wohngruppe, die sich an minderjährige sexuelle Missbraucher mit einer Kombination von stationärer Unterbringung (und entsprechender Angebote) und einer ambulanten Tätertherapie wendet. Bezug nehmend auf einschlägige Studien zum Zusammenhang von Körperbild und Körperbewusstsein skizziert der Autor die langsame Annäherung und Erfahrungen der Jugendlichen und ihrer Betreuer an ein Laufprojekt, das sich auch als Anlass versteht, um in Kontakt zu kommen. Schließlich zeigen Mila Stapper und Annika Kroll, wie durch einen Fotoworkshop mit Mädchen und jungen Frauen eine intensive Auseinandersetzung mit weiblicher Identität und dem eigenen Körper begonnen werden kann.
Alle Beiträge und vor allem die eingestreuten Interviewpassagen zeigen, dass die körperlich-leibliche Dimension als Anknüpfungspunkt der sozialpädagogischen Angebote an Kinder und Jugendliche stärker ausgefüllt und konzeptionell reflektiert werden kann und muss.
Josef Koch
Aus dem Inhalt
Friedhelm Peters:
Über Fremdenfeindlichkeit und die `Sensibilität`, sich um solche Fragen nicht zu kümmern
Horst Rumpf:
Über die menschliche Sinnlichkeit und ihre pädagogische Domestikation
Melanie Hengefeld:
Körperlichkeit in institutioneller Erziehung
Gereon Kerkhoff:
Das Projekt Halbmarathon in einer stationären Wohngruppe für jugendliche Sexualstraftäter
Mila Stapper und Annika Kroll:
„True Illusion“ – ein Mädchenprojekt
Ursula Rölke, Sebastian Regitz:
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Jugendhilfe
Ulrike Urban:
Sozialraumorientierung in Berlin - Überlegungen zur Betroffenenperspektive
Petra:
„Jugendamt und Gericht halten ihre Versprechungen auf Hilfe nicht ein.“
Norbert Struck:
Hinweise zur Umsetzung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdungen nach § 8 a SGB VIII und zum Abschluss entsprechender Vereinbarungen – Empfehlungen des PARITÄTISCHEN Gesamtverbandes
Abschlussbericht der Arbeitsgruppe "Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls" des Bundesministeriums der Justiz