Sozialraumorientierung
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Das Label der „Sozialraumorientierung“ markiert Reformprogramme, mit denen seit Beginn der 1990er-Jahre im bundesdeutschen Kontext, seit Anfang des 21. Jahrhunderts in manchen Schweizer Städten und Verbänden (vgl. Haller u. a. 2007; Curaviva 2010) sowie in jüngster Zeit auch in Teilen Österreichs (vgl. SIO SN 2012; Schreier/Reutlinger 2013) die beiden folgenden unterschiedliche, parallel laufende Entwicklungsdimensionen verhandelt werden:
Als Forderung nach einer veränderten Fachlichkeit zielen handlungskonzeptionelle Reformprogramme auf einen integrierten und flexiblen Unterstützungsansatz von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Das sozialräumliche Umfeld der AdressatInnen ist demnach deutlicher in Bezug auf den jeweiligen Erbringungsprozess (Fallarbeit) wahrzunehmen und gezielter in diesen einzubeziehen. In den Fokus werden dabei nahräumliche Beziehungsstrukturen, angrenzende Hilfsangebote – in professioneller wie bürgerschaftlicher Form – und sozio-ökonomische wie -kulturelle Rahmenbedingungen der sozialpädagogischen Einzelfallarbeit gerückt (vgl. Albrecht 2008; Schönig 2008). Sozialraumorientierung zielt allerdings nicht nur auf einen solchen besseren Einbezug des Umfelds in die Einzelfallarbeit, sondern auch auf die Aktivierung der jeweiligen nahräumlichen Ressourcen (vgl. Hamberger 2006). Manche sozialraumorientierte Handlungsansätze nutzen daher die Unterscheidung von sog. fallspezifischen, fallunspezifischen und fallübergreifenden Arbeitsanteilen (vgl. zum Überblick Galuske/Schoneville 2010: 281 f.).
Als kommunal-administrative Strategie der neuen Steuerung beschreibt Sozialraumorientierung – zweitens – eine an territorialen, geografischen Einheiten ausgerichtete Dezentralisierungsstrategie in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2011). Im Zuge dessen sind in den vergangenen Jahren im gesamten deutschsprachigen Raum vor allem Strukturen der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe (Jugendamt) umgebaut worden oder zumindest in den Fokus eines entsprechenden Umbaus geraten. In manchen Kommunen wurden in diesem Zusammenhang stadtteil- oder bezirksbezogene Organisationseinheiten aufgebaut, in anderen Kommunen sind wiederum quartiersbezogene Interventionsteams (Sozialraumteams) (vgl. Düring 2011) oder sog. Sozialraumbudgets eingeführt worden (vgl. Münder 2005). Diese fachlich hoch umstrittenen (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2011) und aus rechtlichen Gründen z. T. nicht zulässigen Maßnahmen sind in manchen Kommunen und Bundesländern wieder zurückgenommen oder eingeschränkt worden. Insbesondere die Diskussionen um eine sozialraumorientierte Perspektive als Alternative zu individuellen Leistungsrechten und die Diskussion um die Implementierung des Instruments der Sozialraumbudgets hat in den vergangenen Jahren Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen gegeben (vgl. Sozialpädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf 2001, Hinrichs 2012).
Die sozialraumbezogenen Dezentralisierungsbestrebungen stellen kein singuläres Phänomen in den Feldern der Kinder- und Jugendhilfe dar, sondern stehen im Kontext der „aktuell laufenden Modernisierung von Staat und Verwaltung“, wie sie seit den 1990er-Jahren zu beobachten ist (Krummacher u. a. 2003: 148 f.). Dieser allgemeine Dezentralisierungstrend findet aufseiten der VertreterInnen einer sozialraumorientierten Neujustierung der Kinder- und Jugendhilfe – aber auch der Sozialen Arbeit insgesamt – in der Form Fürsprache, dass die bestehende institutionelle Ausdifferenzierung der Kinder- und Jugendhilfe als „Versäulung der Hilfearten“ (Schäfer 2002: 78) kritisiert wird (Bürokratiekritik). Diese „Säulen“ agierten, so die programmatische Vorannahme, unter dem Dach der städtischen oder Kreisjugendämter zumeist nur nebeneinander und nicht miteinander: „Viele Jugendämter leiden an hartnäckiger Bereichsborniertheit und verbrämen dies als Spielraum für individuell definierte Fachlichkeit oder standardfreie kollegiale Beratung.“ (Hinte 1999: 85). Diese bereichsspezifische Versäulung soll daher durch die Schaffung neuer, zumeist territorial begrenzter Zuständigkeitsgebiete abgelöst werden. Sozialraumorientierte Re-Organisation beschreibt in diesem Fall eine Dezentralisierung entlang spezifischer Territorien als „Bezugsgröße für die Konzentration von Personal und anderen Jugendhilfe-Ressourcen“ (Hinte 2002: 94). Andere Modelle setzen anstelle eines starken Territoriums- einen Lebensweltbezug als Ausgangspunkt des geforderten „Umbau(s) von Steuerungssystemen und Organisationen“ (Budde/Früchtel 2006: 28). Ziel ist aber in beiden Fällen die Realisierung einer „praktische(n) Entwicklungsaufgabe ‚vor Ort‘“ (ebd.: 27). Parallel zu den damit verbundenen organisationalen Dezentralisierungstendenzen sind im Feld der Kinder- und Jugendhilfe Anfang des 21. Jahrhunderts aber auch Entwicklungen der administrativen (Re-)Zentralisierung zu beobachten, nicht zuletzt im Kontext der Etablierung von Kinderschutz-Strukturen. Damit wird bereits auf die Grenzen der faktischen Einflussmächtigkeit sozialraumorientierter Reformdynamiken hingewiesen – obwohl sie programmatisch weiterhin höchst präsent bleiben (vgl. Böwer 2012). Zugleich ist damit auf eine deutliche Differenz zwischen der fast omnipräsenten Rede von der „Sozialraumorientierung“, also der Konjunktur von entsprechenden fach- und handlungskonzeptionellen Programmen, und der realen Reform bestehender fachlicher und institutionell/organisationaler Kontexte in der Kinder- und Jugendhilfe verwiesen.
Endscheidende historische Reformkonstellation
Im bundesdeutschen Kontext konnten sich solche konzeptionelle Ideen einer veränderten Fachlichkeit und damit verbundene organisationale Steuerungsmodelle angesichts einer spezifischen historischen Reformkonstellation durchsetzen. Ein Sachverhalt, der in der Fachdebatte zumeist ebenso unberücksichtigt bleibt wie die spezifischen lokalen oder bundeslandspezifischen Implementationsbedingungen im bundesdeutschen Kontext und in der Schweiz und in Österreich. Die hier formulierten Überlegungen beziehen sich primär auf die bundesdeutsche Fachdebatte.
Nach jahrelangen Debatten wurde Ende der 1980er-Jahre – erstens – das Achte Buch des SGB VIII verabschiedet. Das sog. Kinder- und Jugendhilfegesetz konnte damit als Nachfolgegesetz des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) doch noch in Kraft treten. Zwar konnten sich die Befürworter eines tatsächlichen Leistungsgesetzes für Kinder- und Jugendliche nicht durchsetzen. Zugleich wurde aber der starke Fokus des JWGs auf die Frage der Organisation der Jugendhilfe und der Normalisierung der nachwachsenden Generation um die Prämisse der Förderung und Entwicklung ergänzt. Darüber hinaus wurde die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Prozess der Fallbearbeitung gesetzlich festgeschrieben, aber auch teilstationäre und ambulante Angebotsformen wurden formal verankert. Damit war eine Möglichkeit zur Dynamisierung von Dezentralisierungsentwicklungen eröffnet, wie sie die zweite zentrale Entwicklungsdimension der Sozialraumorientierung kennzeichnen. Konzeptionelle Basis für eine entsprechende Ausgestaltung des Kinder- und Jugendhilferechts waren – zweitens – nicht zuletzt die Fachdebatten im Kontext des 1990 vorgelegten 8. Jugendberichts. In diesem ist das Prinzip der „Lebensweltorientierung“ erstmals breit hinsichtlich seiner fachlichen wie organisationalen Umsetzung durchdekliniert ( BMFSFJ 1990: 198 ff.). Vor dem spezifischen historischen Hintergrund des Zusammenbruchs der DDR und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hat der vier Jahre später veröffentlichte 9. Jugendbericht (1994) die damit gelegte konzeptionelle Basis noch erweitert und weiter stabilisiert. Unter dem Paradigma der „Dienstleistungsorientierung“ wurde hierbei vor allem eine als notwendig erachtete Nutzerperspektive für die Kinder- und Jugendhilfe betont (BMFSFJ 1994: 581 ff.). Die damit benannten Leitprinzipien haben sich – drittens – in unterschiedlichen organisationalen und fachlich-konzeptionellen Veränderungen manifestiert, die sich schon seit den 1970er-Jahre abzeichneten, nicht zuletzt in Reaktion auf die vehemente Kritik an der (Jugend-)Fürsorgepraxis der 1950er- und 1960er-Jahre, wie sie in den „Heimrevolten“ (Meinhof 1971/2009) oder der „Anti-Psychiatrie-Bewegung“ (vgl. Cooper 1971) formuliert wurde. Exemplarisch lassen sich als Transformationsbewegungen hier die Ambulantisierung (vgl. Kunstreich/Peters 1988) im Bereich der Hilfen zur Erziehung und die Gemeinwesenorientierung insgesamt (vgl. Müller 1971) benennen. Beide Transformationsbewegungen wurden nachfolgend auch als sozialräumliche Neujustierung entsprechender Angebotsformen konnotiert, obwohl diese Kategorisierung im Rahmen der damaligen institutions- und professionskritischen Debatten keine Rolle gespielt hatte. Gerade für das Feld der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe war schließlich – viertens – die Situation in den sog. neuen Bundesländern nach 1990 für die Implementierung sozialraumorientierter Strategien und Modelle entscheidend. Das entstandene „Experimentierfeld“ (vgl. Bütow u. a. 2006) ermöglichte die Einführung und Erprobung zahlreicher neuer Instrumente, Konzeptionen und Organisationsmodelle, wie das Beispiel der „Jugendhilfestationen“ in Mecklenburg-Vorpommern für das Feld der Hilfen zur Erziehung zeigt (vgl. Klatetzki 1995).
Der Erfolgsfaktor: Uneindeutigkeit der Ausgestaltung
Im Kontext dieser spezifischen historischen Konstellation haben sich die beiden zentralen Entwicklungsdimensionen der Sozialraumorientierung, die Aktivierung und die Dezentralisierung, zwar insofern verallgemeinert, dass sie in genereller Form heute in vielen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe konzeptionell präsent sind, unabhängig davon, ob sie nun unter der Überschrift „Sozialraumorientierung“ präsentiert und legitimiert werden oder nicht (BMFSFJ 2013: 257–259). Ihre konkrete Umsetzung im fachlichen Handlungsvollzug und auf der Ebene organisationaler Erbringungskontexte ist damit allerdings weder konturiert noch unumstritten. In Bezug auf die Fachdebatten um eine Sozialraumorientierung der Kinder- und Jugendhilfe ist daher festzuhalten, dass trotz der deutlichen Präsenz entsprechender programmatischer, also handlungskonzeptioneller und fachpolitischer Forderungen weitgehend unklar und unbenannt bleibt, was in welchem Kontext mit Sozialraumorientierung bzw. einer sozialraumorientierten (Neu-)Justierung der Kinder- und Jugendhilfe konkret gemeint ist. Diese Blindstelle ergibt sich nicht zuletzt aus dem Sachverhalt, dass bis heute nur wenige vereinzelte Neujustierungsprozesse eine systematische externe Evaluation erfahren haben (vgl. als Ausnahmen Koch/Peters 2006, Kunstreich 2012).
Die sehr breite Präsenz der Rede von der „Sozialraumorientierung“ in der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe beruht nicht darauf, dass sich die entsprechenden fach- und handlungskonzeptionellen Programme im Vergleich zu anderen Konzepten als fachlich-adäquater oder effizienter in der Erbringungsqualität erwiesen hätten. Die Programme einer „Sozialraumorientierung“ konnten sich in der bundesdeutschen Kinder- und Jugendhilfe aufgrund einer spezifischen historischen Reformkonstellation seit Anfang der 1990er-Jahre durchsetzen. Damals wurden bestimmte fachliche Standards neu definiert, auf die sich inzwischen auch die Konzepte der „Sozialraumorientierung“ – implizit oder explizit – berufen (können). Die nachfolgende Etablierung der dominierenden Sozialraumorientierungsprogramme, wie sie in unterschiedlichen deutschsprachigen Kommunen (z. B. Fulda, Graz, Zürich) durchgesetzt wurden, gelang dann, weil sie sich als ein konzeptionell-unbestimmtes und generalistisches Beratungsprodukt mit Heilsversprechen auf dem entstandenen Beratermarkt platzieren konnten (Kessl/Reutlinger 2014).
Diese dominierenden Konzepte sind daher auch von anderen, sozialräumlichen Konzeptionsüberlegungen zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung gelingt entlang der ihnen eingelagerten Denkfiguren: Meint Sozialraumorientierung die Orientierung am oder hin zu einem (externen) Sozialraum oder die Forderung nach einer sozialräumlichen Neujustierung, also die Inblicknahme von Räumlichkeit als konstitutive Dimension (sozial-)pädagogischen Tuns (ebd.)? Ist man sich dieses Unterschieds bewusst, dann wird auch deutlich, dass die Konzepte nicht nur in Bezug auf die jeweilige (De-)Institutionalisierungsperspektive und das jeweilige Raumverständnis zu differenzieren sind, sondern genau diese eingelagerten Annahmen auch angemessen und nachvollziehbar ausbuchstabiert werden sollten.
Notwendige reflexiv-kritische Dimensionierung
In diesem Sinne sind die Reformhoffnungen, wie sie die Fachdebatten – unter der Überschrift „Sozialraumorientierung“ wie unter anderen Überschriften – in der Kinder- und Jugendhilfe der vergangenen 35 Jahre in vielfacher Weise bestimmt haben, auch keineswegs hinfällig. Sie erfordern allerdings eine genaue Analyse der jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Kontexte und eine damit verbundene angemessene fachpolitische, organisationale wie fachlich-professionelle Positionierung. Dass dies den dominierenden Sozialraumorientierungsprogrammen nicht ausreichend gelingt, zeigt die unzureichende Inblicknahme der spezifischen und zugleich differenten institutionellen, räumlichen, aber auch kommunalpolitischen und organisationalen Dimension. Es ist daher notwendig, die bestehenden Reproduktionsmuster vorherrschender institutioneller wie räumlicher Ordnungen, in die sozialpädagogische AkteurInnen wie ihre NutzerInnen permanent eingewoben sind und die sie eben auch mit produzieren, genau in den Blick zu nehmen.
Für eine entsprechende Sozialraumforschung, die in kritischer Distanz die Bedingungen, Logiken und Praktiken des konkreten sozialräumlichen Tuns in der Kinder- und Jugendhilfe analysiert, wurden in den vergangenen Jahren einige weiterführende Arbeiten vorgelegt (vgl. Diebäcker 2013; Düring 2011; Landhäußer 2009). Was noch aussteht, sind sowohl externe Evaluationen der bisher durchgeführten sozialraumorientierten wie sozialräumlichen Projekte, aber auch Studien im Bereich der Grundlagenforschung zur Frage der Raum(-re-)produktion Sozialer Arbeit, zur urbanen Transformation Sozialer Arbeit und zur transdisziplinären Dimensionierung einer Sozialraumforschung. Zugleich sind in Korrespondenz zu diesen Befunden und in kritischer Auseinandersetzung mit den bisher dominierenden Sozialraumorientierungsprogrammen Perspektiven für eine angemessene Weiterentwicklung sozialräumlicher, sozialraumsensibler oder sozialraumgestaltender Reformprogramme aus zu buchstabieren.
Literatur
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