"Mädchenfalle" Psychiatrie?
Soziale und geschlechtsspezifische Normalitätskonstruktionen spielen eine große Rolle sowohl in der Kinder- und Jugendpsychiatrie als auch in der Jugendhilfe. Freilich folgen sie dabei unterschiedlichen Handlungsprämissen und Selbstverständnissen, denn geht in der Jugendhilfe eher darum, Lebenszusammenhänge mit den Hilfesuchenden zu durchdringen, mitgestalten und gegebenenfalls zu verändern, stehen medizinische Diagnosen und Therapie, der Mensch als krankes Wesen häufig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Systems Psychiatrie.
Gerade die feministische Psychiatriekritik zeigte, wie sehr behandelnde Institutionen Vorstellungen weiblicher Normalität und Krankheitsdefinitionen folgen (vgl. auch Wolff in diesem Heft). Aus Studien zum Grenzbereich von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie wissen wir zudem, dass junge Menschen zu Grenzfällen werden, weil Institutionen an ihre Grenzen stoßen und daraufhin ihre Zuständigkeit begrenzen. Institutionen als „Falle“ für junge Menschen, die auf das zu enge Professionsverständnis, geschlechtsspezifische Wahrnehmungsmuster und auf ein ausgrenzendes Spezialistentum zurückzuführen sind.
Vor allem kritische Vertreterinnen wie Charlotte Köttgen mahnten an, dass - auch unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten - die Kinder- und Jugendpsychiatrie fragen muss: Was sind zentrale Grundfertigkeiten eines Teams in der Psychiatrie und zwar sowohl medizinisch als auch pädagogisch? Wie können flexible, projektorientierte und offene Anteile, die den Alltag außerhalb der Psychiatrie im Blick haben, stärker etabliert werden?
Das vorliegende Schwerpunktheft versucht diese Perspektive aufzugreifen. Mechthild Wolf erläutert in einer Art erweitertem Editorial wichtige Kritikpunkte, die im Zusammenhang mit der Psychiatrie benannt werden. Sie macht deutlich, dass die vorgestellten Arbeitsansätze mit Mädchen in der Psychiatrie vielleicht nicht gängige Praxis in deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrien sind, aber durch die Beiträge sich eine Innensicht herauskristallisiert (insbesondere) auf die pädagogische Arbeit, die mit Mädchen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie geleistet werden kann.
Anne-Marie (17 Jahre) erzählt von ihren Erfahrungen, Ängsten und Schamgefühlen, die mit dem Psychiatrieaufenthalt für sie verbunden waren. Ihr Text zeigt die Stigmatisierungstendenzen, die Schwierigkeiten sich in das stressreiche Leben „draußen“ wieder einzufinden. Anne-Marie spricht aber auch von den Leistungen der begleitenden therapeutischen Hilfe im Krisenfall.
Anschließend stellen Corinna Piontkowski, Dörthe Fries Huguenin-Virchaux und Dr. Ute Ziegenhain ihre Leitlinien der pädagogischen Arbeit mit Mädchen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor, die eingebettet sind in eine enge Kooperationsstruktur mit Jugendhilfeeinrichtungen und geschlechtsspezifischen Förderangeboten.
Dörthe Fries Huguenin-Virchaux, Regina Diedel-Biswas und Hatice Güler-Meisel machen aus Sicht der Psychiatrie und einer kooperierenden Kontaktstelle für ausländische Bürgerinnen auf die Lebensbedingungen und Probleme von Migrantinnen aufmerksam. Sie weisen nachdrücklich daraufhin, dass aufgrund von Normalitätskonzepten in der Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie diese Heranwachsenden und jungen Erwachsenen aus den Betreuungs- und Fördermöglichkeiten herausfallen.
Katja Wiethoff referiert unter geschlechtsspezifischer Perspektive die Ergebnisse einer Studie zur Patientenbeteiligung und Patienteninformation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Autorin zeigt, dass insgesamt von einer mangelnden Berücksichtigung der Ansichten minderjähriger psychiatrischer Patienten auszugehen ist, wobei die deutlichsten Beteiligungsdefizite bei jüngeren Kindern vorzufinden sind.
Das Schwerpunktheft zeigt Zugänge und Beispiele der pädagogischen Öffnung der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Kooperation mit angrenzenden Hilfesystemen, damit die Psychiatrieformen nicht zur „Falle“ von Jungen und speziell Mädchen werden, sondern im Sinne von begleitender Krisenhilfe Jugendliche wieder in entwicklungsfördernde soziale Umgebungen überführen können.
Josef Koch
Aus dem Inhalt
Mechthild Wolff:
"Mädchenfalle" Psychiatrie? Eine Einführung in ein heikles Thema
Dörthe Fries-Huguenin-Virchaux, Regina Diedel-Biswas und Hatice Güler-Meisel:
Zwangsverheiratung - Wie Mädchen krank gemacht werden
Corinna Piontkowski, Dörthe Fries-Huguenin-Virchaux und Ute Ziegenhain:
Pädagogisches Arbeiten mit Mädchen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Katja Wiethoff:
Psychiatrie aus Sicht minderjähriger PatientInnen
Anna-Marie (17 Jahre):
„Schäme dich nie für das, was dir in der schlimmsten Zeit deines Lebens geholfen hat…“
Peter Hansbauer:
Wie kommt der Jugendliche ins Heim?
Kerstin Rathgeb:
Institutionelle Diskriminierung
Margarete Finkel, Heidi Reinl:
Fallunspezifische Arbeit - Experimentieren in Zwischenräumen
Norbert Struck:
Bereitschaftsdienste und Arbeitszeitrecht
Josef Koch:
Vermittlungsausschuss und Hartz-Gesetze