Sexualität und Pädagogik in den Hilfen zur Erziehung

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ForE 2-2015

Seit der medialen und öffentlichen Thematisierung der sexuellen Übergriffe und Gewalt in Kinder- und Jugendheimen oder in Internaten findet (wieder) eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Nähe und Distanz in pädagogischen Betreuungsverhältnissen statt. Einrichtungen entwickelten vor allem Schutzkonzepte bezüglich sexualisierter Gewalt, implementierten Verhaltenskodexe für Mitarbeiter_innen, initiierten Fortbildungsangebote etc., bundesweit wurde die Stelle des Unabhängigen Beauftragten Sexueller Kindesmissbrauch eingerichtet und vieles mehr.

Sexualität von Kindern und Jugendlichen und alle damit zusammenhängenden Fragen werden allerdings – so kann man den Eindruck gewinnen – auf die Prävention von sexualisierter Gewalt verengt. Nun ist die Etablierung einer Kultur des Hinsehens und Hinhörens nicht nur in den Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung sicherlich ein wichtiger Aspekt im Rahmen einer den Menschen zugewandten Pädagogik. Aber diese Kultur des Hinsehens und Hinhörens braucht auch den konsequenten Bezug auf das jugendliche Recht einer sexuellen Entwicklung und Bildung. Sexualitäten- und Geschlechternormen sind historisch wandelbar und werden zu unterschiedlichen Zeitpunkten auch immer wieder höchst ideologisch verhandelt. Kinder und Jugendliche, die im Rahmen der Hilfen zur Erziehung betreut werden, haben wie alle anderen Heranwachsenden auch ein Recht auf eine bewusste, pädagogisch reflektierte Förderung der psychosexuellen Entwicklung und Bildung, um eine sexuelle Selbstbestimmung im Sinne einer Lebenskompetenzförderung zu verfolgen. Eine entwicklungsförderliche und grenzwahrende Sexualpädagogik braucht dann sexuell gebildete pädagogische Fachkräfte. Ausgehend von diesem Ansatz entfaltet das vorliegende Heft das Themenfeld:

Elisabeth Tuider kritisiert die Verengung von Sexualpädagogik auf eine Krisenpädagogik oder Präventionspädagogik, die so vor Politiker_innen, Eltern und der medialen Öffentlichkeit legitimiert wird. In Abkehr von dieser „Gefahrenabwehrpädagogik“, die das Risiko (der Schwangerschaft oder Krankheit) oder Vorkommnisse (wie sexuelle Gewalt) zum Ausgangspunkt nimmt, fordert sie eine Alltagspädagogik gerade in den Hilfen zur Erziehung, die Jugendliche dazu befähigt, mit den so erst konstruierten Risiken und Gefahren umzugehen,

Luise Hartwig thematisiert daran anschließend die Geschichte der sexuellen Disziplinierung von Mädchen in der Heimerziehung, um anschließend einige Bausteine einer gelingenden Sexualpädagogik in der Heimerziehung im Spannungsfeld von Alltagsarrangements und Spezialkompetenz herauszuarbeiten.

Jan Wienforth geht davon aus, dass das Themenfeld Sexualität gerade für Jungen in besonderer Weise bei der männlichen Identitätsentwicklung präsent ist, dies aber in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung zu selten durch professionelle Angebote bewusst aufgegriffen wird. Er zeigt daher Perspektiven sexueller Bildung mit Jungen auf.

Anja Henningsen und Dominik Mantey machen anhand von Interviews mit Heranwachsenden aus Jugendheimen deutlich, wie in den Institutionen immer die Gefahr besteht, auch Intimitätsgrenzen von Heranwachsenden zu verletzten durch eine unreflektierte Sexualitätskontrolle. Die Autor_innen fordern eine professionelle Reflexion bei den Fachkräften über ein eventuelles Kontrollbedürfnis von Jugendlichen und ihrer Sexualität und darüber, ob im Alltag ein vermeidender oder beschämender Umgang mit Sexualität besteht oder welche Vorstellungen und (Vor)urteile das pädagogische Handeln lenken.

Zwischen den Beiträgen im Schwerpunktheft wurden Informationskästen gesetzt, die empirische Zusatzinformationen bzw. Definitionen enthalten. Diese sollen den Leser_innen helfen, weitere Perspektiven einzunehmen oder einen Fokus auf weitere angrenzende inhaltliche Aspekte zu lenken. Die Kästen wurden von wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen der Forschungsprojekte „ich bin sicher“ (www.projekt-ichbinsicher.de) und „safer places“ (www.safer-places.de) erstellt, die an den Universitäten Hildesheim, Ulm, Kassel und der Hochschule Landshut durchgeführt werden. In diesen beteiligungsorientierten Forschungsprojekten geht es um die Entwicklung kinder- und jugendgerechter Formen der Prävention vor sexualisierter Gewalt.

Josef Koch, Mechthild Wolff

 

 

Aus dem Inhalt

Fabian Jellonek: Konservative Klassiker: Ideen der Bremer AfD zu Erziehung und Pädagogik

Elisabeth Tuider: Wider die Moralpaniken: eine Positionsbestimmung zu Sexualität und Sexualpädagogik

Luise Hartwig: Mädchen-Sein und Sexualpädagogik in der stationären Erziehungshilfe

Jan Wienforth: Sexuelle Bildung von Jungen in den Hilfen zur Erziehung – Impulse zur Umsetzung und Reflexion

Anja Henningsen, Dominik Mantey: Sexualpädagogik verletzt Grenzen? Sexualpädagogik wahrt Grenzen!

Olivier Geissler: Schutz und Perspektiven für unbegleitete minderjährige Migrant_innen in Westafrika

Alexander Oswald: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Wie lässt sich eine angemessene Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen lebenswelttheoretisch begründen?

Friedhelm Peters: Die Karawane zieht weiter… - Nachlese zur Veranstaltung „Macht und Machtmissbrauch in der Heimerziehung…“ des Landes Brandenburg und zur Politik der Geschlossenen Unterbringung nach dem Haasenburg-Skandal

Rahel Degen: Bewältigungsstrategien von jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund und Jugendhilfeerfahrung                                                     

BAGFW: Leistungsrechtliche Zusammenführung der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sozialgesetzbuch VIII. Positionierung der BAGFW vom 14.01.2015