Verwahrlosung

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Wird der Begriff Verwahrlosung in der Internetsuchmaschine Google eingegeben, erscheinen in 20 Sekunden 375.000 Einträge, die sich interessanterweise auf den ersten sichtbaren Ergebnissen mit dem Thema Obdachlosigkeit sowie den Zuständen von Wohnungen oder öffentlichen Plätzen befassen. „Verwahrlosung bezeichnet einen Zustand, in dem die Mindesterwartungen, die die Gesellschaft an eine Person, ein Tier oder eine Sache stellt, nicht erfüllt sind.“ (www.wikipedia.de/Abruf am 17.11.2013) Übertragen bedeutet dies: Wird der Begriff Verwahrlosung in aktuellen Bezügen der Kinder- und Jugendhilfe verwendet, wird damit ausgedrückt, dass die Mindesterwartungen der Gesellschaft an den körperlichen, geistigen und seelischen Zustand eines Kindes nicht erfüllt sind. Nur, wer definiert diese Mindesterwartungen, wer stellt wie fest, dass jemand verwahrlost ist? Im Zweifelsfall die Medien, die die öffentliche und fachliche Aufmerksam lenken und präformieren.

Erst wurde von (kleinen) Kindern berichtet, die in „verwahrlosten Wohnungen“ gefunden wurden oder die schlichtweg „verwahrlosten“ (vgl. bspw. FAZ 2008; Focus 2013); manches Mal auch von Eltern und – skandalöser – Müttern, die ihre Kinder verwahrlosen ließen. Und medial vermittelt trat der Begriff Verwahrlosung sukzessive auch in der Fachpraxis der Kinder- und Jugendhilfe wieder in Erscheinung, indem auch hier von verwahrlosten Kindern gesprochen oder in Hilfeplänen geschrieben wurde. Diese Formulierung wird zunehmend sogar, wie Studierende und soziale Fachkräfte berichten, als Begründung für die Gefährdung oder Nicht-Gewährleistung des Kindeswohls und der Gewährleistung einer Hilfe zur Erziehung (HzE) gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII/KJHG angeführt, obwohl der Begriff der Verwahrlosung im Gesetzestext bewusst nicht mehr genutzt wird.

Interessant ist, dass der Diskurs um „Verwahrlosung“ damit aber offensichtlich nicht weniger wirkmächtig geworden ist sowie der unterschiedliche Bedeutungshorizont, den das Wort „verwahrlosen/verwahrlost“ in seinen Transformation mitliefert: Vom Adjektiv (zur Beschreibung materieller Lebensumstände) zu einem intransitiven Verb (sie verwahrlosen) über ein transitives Verb (jemanden verwahrlosen lassen) wieder zu einem Adjektiv – diesmal jedoch zur Charakterisierung von Menschen (verwahrloste Kinder), wobei das Adjektiv hier zugleich eine Erklärungsfunktion übernimmt und eine Handlungsaufforderung enthält. Es ist neuerlich die Verwahrlosung, die die Jugendhilfe auf den Plan ruft.

Dabei wurde der Begriff Verwahrlosung als Fachbegriff der Kinder- und Jugendhilfe seit 1990 bewusst nicht mehr verwendet. Gründe hierfür waren: die Mehrdeutigkeit in der Auslegung des Begriffes, die Stigmatisierung, die Kinder und Jugendliche aufgrund einer Zuschreibung von Verwahrlosung in der Vergangenheit erfuhren, die erfahrenen Repressionen im Rahmen der Fürsorgeerziehung aufgrund der Feststellung von Verwahrlosung. Verwahrlosung gilt als ein veralteter Fachbegriff. Im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und im Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG), dem Vorläufer des SGB VIII/KJHG, war die Feststellung von Verwahrlosung beim Kind oder Jugendlichen das entscheidende Merkmal für die Anordnung von Fürsorgeerziehung, die ohne Einwilligung der jungen Menschen und der Sorgeberechtigten durch die zuständigen Landesjugendämter erfolgte (§§ 64 und 67 Abs. 1 i. V. m. § 65 JWG) oder als Freiwillige Erziehungshilfe (§ 62 JWG) auf Antrag der Sorgeberechtigten durchgeführt wurde. Die damalige Feststellung einer Verwahrlosung gilt heute als die Begründung für großes Unrecht, Gewalt und Missbrauch, welche den jungen Menschen in repressiven Erziehungspraxen innerhalb einer autoritären Heimerziehung in den 50er- bis 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts zugefügt wurden (vgl. Autorenkollektiv 1978, Wensierski 2006), zumal die geschlechtsspezifisch typisierten Zuschreibungen von Verwahrlosung aus heutiger Sicht kaum noch nachzuvollziehen sind und die häufig damit einhergehenden individuellen, von jeglichen sozialen Umständen absehenden Schuldzuweisungen – von „sündig“ bis „wert- und rechtlos“, von „gefährlich“ bis andere „gefährdend“/„ansteckend“ und deshalb zu „isolieren“ – zu Bildungsbenachteiligungen, Übernahme der beschämenden Zuschreibungen und Traumatisierungen führten (vgl. Hartmann 1977; Gehltomholt/Hering 2006; Wensierski 2006).

Im gesamten SGB VIII/KJHG kommt der Begriff Verwahrlosung, der Reformdiskussion und -praxis der 70er-/80er-Jahre folgend, nicht mehr vor. Im Grundgesetz (GG) ist er hingegen in Art. 6 Abs. 3 und in Art. 11 Abs. 2 erhalten geblieben. In Art. 6 Abs. 3 heißt es: „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigen dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn Erziehungsberechtigte versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“, und Art. 11 Abs. 2 stellt einen Zusammenhang her zur Einschränkung der Freizügigkeit. Das Freizügigkeitsgebot darf eingeschränkt werden u. a. „zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung (…)“. Beide Formulierungen sind strittig (vgl. Münder u. a. 2013), weisen aber darauf hin, welch vergleichsweise hohe Bedeutung der Verwahrlosungsbegriff hat(te).

Diese zeigt sich in der sich verändernden wissenschaftlich-diskursiven Fassung des Begriffes Verwahrlosung in ausgewählten Wörterbüchern der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik der letzten 80 Jahre: Im „Enzyklopädischen Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge“ aus dem Jahr 1930 wird der Begriff auf vier doppelspaltig beschriebenen Seiten sehr ausführlich dargestellt. Von der Definition eines „moralisch abwegigen Verhaltens (…), das aus eigenen Kräften des Individuums nicht mehr korrigierbar ist“ (Gregor 1930: 829) ausgehend, werden Symptome (chronologisch orientiert an die Entwicklung vom Kind zum jungen Erwachsenen und ausdifferenziert auf die Geschlechter), Ursachen und abschließend Möglichkeiten zur „Bekämpfung“ der Verwahrlosung definiert. Davon ausgehend, „dass (sic!) etwa 50 % aller verwahrlosten Jugendlichen psychopathisch veranlagt sind“ (ebd.: 831), wird die „Bekämpfung der V. [als] eine wichtige, sozialpolitische Aufgabe“ (ebd.: 832) beschrieben und die Fürsorgeerziehung als das Mittel zur Bekämpfung angesehen. Verwahrlosung wird hier als eine charakteristische Eigenschaft von Kindern und Jugendlichen verstanden, die in diesen in Form von „Haltlosigkeit, Willensschwäche, Triebhaftigkeit, Gefühlsarmut oder Gefühlslosigkeit“ (ebd.: 830) veranlagt ist. Einflüsse aus der Umwelt bzw. dem Milieu werden als mitursächlich beschrieben. Es wird das Verhältnis von Anlage und Milieu für die Erscheinung von Verwahrlosung bei jungen Menschen thematisiert, „eine sichere Entscheidung darüber, was als ausschlaggebend anzusehen ist (…)“ (ebd.: 830) wird jedoch nicht gefällt. Es heißt: „Die V. liegt auf der Linie zur Verkommenheit, die auch durch fremde Hilfe kaum zu beheben ist.“ (ebd.: 829) Als Orte der fremden Hilfe wurde die Fürsorgeerziehung in Heimen ausgemacht. Aus dieser Perspektive befanden sich in den Heimen folglich die verwahrlosten Kinder und Jugendlichen, an denen auch umfangreiche Studien zur Verwahrlosung durchgeführt wurden. Verwahrlosung wurde vor allem als ein krankhafter Zustand mit sehr unterschiedlichen, schwer zu klassifizierenden „Symptomen“ angesehen, die auch eine soziale und sanitäre Gefahr für die Gesellschaft bedeutete.

Rund drei Jahrzehnte später im „Pädagogischen Lexikon“ des Jahres 1965 ist der Artikel über Verwahrlosung kürzer gefasst und aus einem deutlich veränderten Verständnis heraus geschrieben. Verwahrlosung wird viel stärker in Zusammenhang mit und in Abhängigkeit von äußeren Umständen und Einflüssen gestellt. Als verwahrlost werden „(…) Kinder und Jugendliche bezeichnet, die aus der Bewahrung in einer festen, sie tragenden und schützenden Lebensordnung herausgefallen sind oder die sich anders verhalten, als es den üblichen und altersgemäßen Normen entspricht“ (Mollenhauer 1965: 997). Kritisch wird angemerkt, dass „(…) man von einer einheitlichen Norm ausgehen zu müssen meint, die es aber gegenwärtig nicht gibt, weil sie von ideologischen und religiösen Vorstellungen abhängig ist“ (ebd.: 997 f.). Von der Annahme, dass die Betroffenen eine bestimmte Veranlagung zur Verwahrlosung haben, wird Abstand genommen und festgestellt, dass es sich „(…) vielmehr um ein bio-psycho-soziales Problem (…)“ (ebd.: 998) handelt. Dennoch wird Verwahrlosung immer noch mit Zuschreibungen und Merkmalen wie „Streunen, Schuleschwänzen, Unehrlichkeit, (…), Kriminalität, Arbeitsbummelei, Vagabondage, (…), Prostitution, Herumtreiben (…)“ (ebd.: 998) in Verbindung gebracht und die Heimerziehung als „das Rückgrat der Verwahrlostenpäd.“ (ebd.: 998) angesehen, auch wenn betont wird, dass bei der „Bekämpfung“ der Verwahrlosung „(…) der Schwerpunkt auf vorbeugenden Maßnahmen liegen (muss – A. d. A.)“ (ebd.: 998).

Einige Jahre später wird im „Lexikon der Pädagogik“ 1971 angemerkt: „V. (bezeichnet – A. d. A.) sowohl die verwahrlosende Entwicklung als auch den jeweils erkennbaren Zustand des Verwahrlostseins. Das Schwergewicht beider Bedeutungen liegt im Kindesalter und im Jugendalter. Hier wird V. am treffendsten definiert als ein Erziehungsnotstand.“ (Schüler-Springorum 1971: 309) Es werden Bezüge zur sog. Schwererziehbaren Pädagogik (vgl. ebd.: 310) hergestellt und es wird resümiert, dass „die künftige Behandlung Verwahrloster (…) sich wahrscheinlich zunehmend auf freie (d. h. auf Freiheitsentzug möglichst verzichtende) Formen konzentrieren (wird – A. d. A.)“ (ebd.: 310), da das bisherige „Rückgrat“ – die Heimerziehung, überwiegend in geschlossener Form – „(…) bei weitem nicht (oder nicht mehr) die erwarteten Erfolge“ (ebd.: 310) brachte.

Die kritische Betrachtung und Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Verwahrlosung setzt sich auch in den 80er-Jahren teilweise fort. Im „Handbuch pädagogischer und sozialpädagogischer Praxisbegriffe“ aus dem Jahr 1981 wird auf die ursprüngliche Wortbedeutung (ohne Bewahrung) verwiesen, als unter verwahrlosten Kindern „(…) Waisen, Verarmte, Kinder ohne die schützende Umgebung eines familialen Heims“ (Kieper 1981: 482) verstanden wurden. Bemängelt wird, dass es „(…) weder eine allgemein anerkannte Definition des Begriffes noch ein einheitliches, allgemeingültiges Erklärungsmodell für Verwahrlosung“ (ebd.: 482) gibt. Diese fehlende Definition und die Unbestimmtheit des Begriffes „(…) findet ihre Entsprechung in dem fehlenden Konsens über die Definition von Verwahrlosung bei den in Frage kommenden Wissenschaften: Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Soziologie“ (ebd.: 482). Der Blick ändert sich hier deutlich. Er richtet sich auf die Institutionen, welche die Definitionsmacht zur Beurteilung von Kindern und Jugendlichen haben und es wird gesagt: „Es wurde u. a. nachgewiesen, dass (sic!) die Etikettierung des kindlichen und jugendlichen Verhaltens als ‚verwahrlost‘ häufig mehr von deren gesellschaftlichen Position als von ihrem gezeigten Verhalten abhängt.“ (ebd.: 483)

In der DDR wird im „Pädagogischen Wörterbuch“ aus dem Jahr 1987 Verwahrlosung als „charakterliche Fehlentwicklung“ (Laabs 1987: 402) definiert. Diese Fehlentwicklung ist bedingt durch „ungünstige Erziehungsbedingungen und soziale Faktoren“ (ebd.: 403) in Verbindung mit begünstigenden „konstitutionellen Bedingungen, wie Triebhaftigkeit, Haltlosigkeit, Schwachsinn u. a.“ (ebd.: 403). Erziehungsbemühungen waren auf die Integration in das sozialistische Gemeinschaftsleben hin ausgerichtet.

Im folgenden Jahrzehnt verschwindet der Begriff Verwahrlosung mit Einführung des SGB VIII/KJHG als Fachbegriff aus der Kinder- und Jugendhilfe und damit einhergehend auch aus vielen Fachlexika und Wörterbüchern. Der Begriff Verwahrlosung wurde in den 90er-Jahren als Fachbegriff aufgegeben und aus einschlägigen Wörterbüchern der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik gestrichen.

Deutlich wird in dieser knappen, selektiven Wiedergabe des pädagogischen Diskurses einerseits die Unbestimmtheit des Verwahrlosungsbegriffs und andererseits das Schwanken zwischen Versuchen einer ätiologischen und einer interaktionstheoretischen (Labeling!) Erklärung. Während Erstere pathologisierend die Erklärung in den Personen sucht oder die Lebensumstände/Lebenslagen für die Entstehung von Verwahrlosungsphänomenen verantwortlich macht, also von deren Existenz ausgeht, betont die zweite Erklärung die Bedeutung der klassen- und geschlechtsspezifischen Zuschreibungsprozesse und Verwahrlosung als Ausdruck sozialer Kontrolle.

Beide Aspekte finden sich in der auch in der erneuten Aufnahme des Verwahrlosungsbegriffs in der aktuellen Debatte und zuvörderst im Kinderschutz: Verwahrlosung wird einerseits als Zuschreibung einer charakteristischen Eigenschaft an eine Person oder einen Gegenstand sprachlich verwendet (Beispiel: Das Kind ist verwahrlost!). Andererseits bezieht sich der Begriff auf das unterlassene Handeln von verantwortlichen Bürger_innen an einer Person oder einem Gegenstand, wie bspw. die mangelnde Pflege eines Kindes durch die Sorgeberechtigten. In diesem Falle heißt es: Die Eltern haben das Kind verwahrlosen lassen! Hier umfasst der Begriff eine Situation des „Nicht-bewahrt- Seins“. Obwohl beide begrifflichen Zugänge eine jeweils andere Bedeutung haben, sind die Grenzen bzw. Übergänge zwischen beiden Auslegungen fließend. Die Differenzierung zwischen „verwahrloste Lebensumstände“ und „du bist verwahrlost“; von „entbehrter Bewahrung“ bis hin zu einem „individualisierten Etikett für einen verfehlten Bildungsprozess“ (Kieper 1981: 482) bedarf einer hohen (sprachlichen) Sensibilität, die allerdings bei unseren Stichproben in der sozialarbeiterischen Praxis nicht vorzufinden war. Hinzu kommt, dass auch bei dem begrifflichen Zugang des „Nicht-bewahrt-Werden durch die Umwelt“ ein statischer Zustand (!) einer Person (eines Kindes/eines/r Jugendlichen) definiert wird. Die betroffene Person wird darin nicht als Subjekt erfasst, sondern als Objekt in den Blick genommen. Dies birgt die Gefahr, an den Interessen der betroffenen und zu schützenden Personen vorbei zu handeln, wie eine aktuelle Untersuchung zum Umgang mit Kindern, deren Wohl gefährdet war, zeigt (vgl. Wolff u. a. 2013). Ein fachlicher Blick, der Entwicklungs- und Erziehungsprozesse in ihrem Verlauf und ihrer Dynamik analytisch betrachtet, wird mit dem Begriff Verwahrlosung nicht erfasst.

Auch gerät leicht aus dem Blick, dass diejenigen Erziehungspersonen, welche die Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend bewahren und versorgen konnten, möglicherweise selbst Unterstützung für die Wahrnehmung dieser Sorge gebraucht hätten, bspw. als ledige/alleinerziehende Mütter, in Armutslagen (…) Dieser Ansatz der öffentlichen Unterstützung der Erziehungspersonen, um die Förderung der Entwicklung und die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu verbessern bzw. wiederherzustellen, hat sich erst mit dem SGB VIII/KJHG durchgesetzt. Im SGB VIII/KJHG findet auch die Lebensweltorientierung als fachliches Paradigma der Kinder- und Jugendhilfe Entsprechung, welche von der Individualisierung und Pluralisierung der Lebenslagen und damit einer Vielfalt von Möglichkeiten des Aufwachsens von Kindern ausgeht (vgl. Thiersch 1986). Vor diesem Hintergrund wurden einseitige normative und machtdemonstrative Orientierungen in der Einschätzung und Beurteilung von Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen durch sozialpädagogische Fachkräfte weitgehend verlassen, aber werden neuerlich in dem Maße rehabilitiert, in dem der Begriff Verwahrlosung wieder zur Beschreibung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen herangezogen wird und damit eine Hilfe bspw. gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII/KJHG begründet wird.

Die Rehabilitierung des pathologisierenden Verwahrlosungsbegriffs unter Absehung der askriptiven Momente, die ihm anhaften, „passt“ aber gerade wegen seiner Vagheit und weil er gesellschaftliche Verhältnissen tendenziell ausblendet und Verhalten bzw. Zustände in den Mittelpunkt rückt, zu den zunehmend individualisierenden und responsibilisierenden Strategien neo-liberaler Sozialstaatlichkeit. Die Angabe eines Tatbestandes der Verwahrlosung als eine fachliche Begründung für die Gewährleistung von HzE ist aus unserer Sicht jedoch völlig ungeeignet. Sie entspricht nicht dem geltenden Recht und erinnert, wie die Ausführungen oben zeigen, an die Fürsorgeerziehung aus dem veralteten JWG. Der Verwendung des Begriffes Verwahrlosung als eine Charakterisierung sehr komplexer Lebensumstände von Kindern, Jugendlichen und deren Familien ist also entgegenzutreten. Als Fachbegriff für die Soziale Arbeit, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, ist er nicht tauglich.

 

Literatur

  • Autorenkollektiv (1978): Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus. 5. Auflage. Frankfurt a. M.
  • Böhm, W. (Hg.) (2005): Verwahrlosung. Wörterbuch der Pädagogik. 16., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart, S. 664.
  • Eberhard, K./Kohlmetz, G. (1973): Verwahrlosung und Gesellschaft. Göttingen.
  • Focus (2013): Chaos und eine betrunkene Mutter. Berliner Polizei rettet vier verwahrloste Kinder (http://www.focus.de/panorama/welt/chaos-und-eine-betrunkene-mutter- berliner-polizei-rettet-vier-verwahrloste-kinder_aid_907391.html, Zugriff am 14.12.2013).
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung (2008): Kot und Müll in Bremer Wohnung. Polizei entdeckt durch Zufall verwahrloste Kinder (http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ kriminalitaet/kot-und-muell-in-bremer-wohnung-polizei-entdeckt-durch-zufall-verwahrloste-kinder-1664363.html, Zugriff am 14.12.2013).
  • Gehltomholt, E./Hering, S. (2006): Das Verwahrloste Mädchen. Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945–1960). Opladen.
  • Gregor, A. (1930): Verwahrlosung. In: Clostermann, L./Heller, T./Stephani, P. (Hg.): Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. Leipzig, S. 829–832.
  • Hartmann, K. (1977): Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlostenforschung. 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Berlin/Heidelberg/New York.
  • Hünersdorf, B. (2013): Bedrohungskommunikation in den Frühen Hilfen. Zur schleichenden Transformation des Hilfesystems. Unveröffentlichtes Manuskript. Berlin.
  • Kieper, M. (1981): Verwahrlosung. In: Petzold, H.-J./Speichert, H. (Hg.): Handbuch pädagogischer und sozialpädagogischer Praxisbegriffe. Reinbek bei Hamburg, S. 482– 484.
  • Laabs, H.-J. u. a. (1987): Verwahrlosung. In: dies. (Hg.): Pädagogisches Wörterbuch. Berlin, S. 402–403.
  • Mollenhauer, W. (1965): Verwahrlosung. In: Groothoff, H.-H./Stallmann, M. (Hg.): Pädagogisches Lexikon. 3. Auflage. Stuttgart/Berlin, S. 997–1000.
  • Münder, J. u. a. (2013): Plädoyer für die Streichung des Verwahrlosungsbegriffs in Art. 6 Abs. 3 GG. Unveröffentlichtes Manuskript.
  • Schüler-Springorum, H. (1971): Verwahrlosung. In: Willmann-Institut München-Wien (Hg.): Lexikon der Pädagogik. Freiburg im Breisgau, S. 309–311.
  • Thiersch, H. (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim/München.
  • Wensierski, P. (2006): Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. München.
  • Wolff, R. u. a. (2013): Kinder im Kinderschutz. Zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Hilfeprozess – Eine explorative Studie. Herausgegeben vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Bramsche.
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