Kinderschutz in der Demokratie

ForE 3-2007

Seit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK) mit seinem § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) bricht die Diskussion um geeignete Wege des (intervenierenden) Kinderschutzes nicht mehr ab. Was soll in einer solchen Phase der Sensibilisierung und des Aufbruchs in Fragen des Kinderschutzes das Thema "Demokratie und Kinderschutz"? Angesichts der kaum abschwellenden Verunsicherung, die der § 8a SGB VIII ausgelöst hat und angesichts der fortschreitenden Fokussierung des Kontrollaspektes sozialpädagogischer Tätigkeit bis in den Kindergarten und die Spielgruppe von Familienbildungsstätten hinein, scheint das Thema zunehmend Unbehagen auszulösen. Trat der Schutzaspekt in der Jugendhilfe in der Vergangenheit angesichts einer angebots- und/oder hilfeorientierten Dienstleistungshaltung eher in den Hintergrund, so schlägt das Pendel heute mit enormer Geschwindigkeit in die andere Richtung. Was mit dem § 8a vom Gesetzgeber als Klarstellung der rechtlichen Verantwortung des Jugendamtes und als breite Verankerung des Kinderschutzauftrages in der gesamten Jugendhilfe gedacht war, wird zunehmend zum Argument für eine repressive Aufrüstung der Jugendhilfe und befeuert sozialpädagogische Überwachungs- und Eingriffstendenzen.

Dem Gesetz selbst kann man diese Entwicklung sicher nicht zuschreiben. Hier wird ja geradezu im Gegenteil hoher Wert gelegt auf kollegiale Beratung und Vergewisserung und - was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist - auf den Einbezug der Eltern und Kinder in den Prozess der Risikoeinschätzung. Hier aber genau beginnt das Problem: Ist demokratischer Kinderschutz (demokratisch hier verstanden als gleichberechtigte Mitwirkung der AdressatInnen an Problemdefinitionen und Risikoeinschätzungen) überhaupt möglich? Markiert der Auftrag, Kinder vor Gefahren zu schützen, nicht gerade die Grenze demokratischer Arbeitsweise?

Mit diesen und weiteren Fragen setzen sich die AutorInnen dieses Heftes auseinander. Dabei wurde - erstmalig für Forum Erziehungshilfe - ein anderes Konzept der Heftzusammenstellung realisiert. Dabei wurde einAusgangstext (Wolff) den anderen AutorInnen mit der Bitte zugestellt, sich in ihren Beiträgen auf diesen Text zu beziehen. Insofern zeichnet sich dieses Heft durch eine diskursive Struktur aus, die - so die Hoffnung der Redaktion - geeignet ist, Positionen und Positionierungen im Kontext der aktuell rollenden Kinderschutzwelle klarer herauszuarbeiten und zu pointieren.

In seinem "Aufschlag" setzt sich Reinhart Wolff zunächst kurz mit der Geschichte des Kinderschutzes auseinander und stellt Überlegungen zumThema Risikogesellschaft und individueller Risikoeinschätzung an. Vor diesem Hintergrund benennt er systematische Fehler und blinde Flecken sozialpädagogischer Institutionen, die zu Fehlentscheidungen und "Kinderschutzfehlern" führen (können), um abschließend Chancen und Möglichkeiten des demokratischen Kinderschutzes auszuloten.

Thomas Meysen nimmt diese Argumente aus rechtlicher Perspektive auf. Er artikuliert sein Unbehagen an der Begrifflichkeit des demokratischen Kinderschutzes und setzt eher darauf, das "strukturell vorgegebene, notwendig undemokratische Machtgefälle" zwischen Eltern und Fachkräften beim Kinderschutz in eine reflektierte und kontrollierte Fachlichkeit zu übersetzen.

Heinz Kindler thematisiert funktionale Grenzen einer rein auf Partnerschaft und Dialog setzenden Kinderschutzarbeit und plädiert aus seiner Rolle als psychologischer Gutachter in Fällen der Kindeswohlgefährdung für eine stärkere Bezugnahme auf die in umfangreichen empirischen Forschungen gewonnenen Informationen und Erkenntnisse über Modelle der Risikoeinschätzung, um Risiken zuverlässiger identifizieren und beschreiben zu können.

Lutz Goldbeck, Ute Ziegenhain und Jörg Fegert nähern sich dem Thema aus der Perspektive der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch sie vertreten die Auffassung, dass das von Wolff proklamierte konsensuale Entscheidungsmodell bei der Abwendung von Kindeswohlgefährdungen nicht in einen Gegensatz zu methodisch konstruierten Risikoskalen gebracht werden kann.

Abschließend positioniert sich Wolfgang Rüting als Vertreter eines Jugendamtes. Er charakterisiert den Schutzauftrag als unverzichtbare Grundhaltungen in der Jugendhilfe und sieht den Kinderschutz als Querschnittsaufgabe (auch über die Jugendhilfe hinaus). Er macht deutlich, dass Kinderschutz, der immer auch partizipatives Handeln sein sollte, eine handlungsfähige Jugendhilfe braucht und benennt hierfür einige Eckpunkte.

Die Redaktion ist mit der diskursiven Anlage dieses Heftes einen etwas anderen Weg gegangen als sonst üblich. Auf Reaktionen der LeserInnen sind wir gespannt.

Reinhold Schone

 

Aus dem Inhalt

Norbert Struck:
"Kinder sind Zukunft" -  Einsicht ohne Konsequenzen?

Reinhart Wolff:
Demokratische Kinderschutzarbeit - zwischen Risiko und Gefahr

Thomas Meysen:
Herrschaft des Volkes über den Kinderschutz - ein Risiko

Heinz Kindler:
Zur Zukunft des Kinderschutzes

Lutz Goldbeck, Ute Ziegenhain, Jörg M. Fegert:
Zusammenwirken der Fachkräfte zum Wohle des gefährdeten Kindes - (wie) kann das gelingen?

Wolfgang Rüting:
Demokratischer Kinderschutz - Thesen zum professionellen Handeln

Friedhelm Peters:
Eine neue Morgenröte am Horizont englischer Heimerziehung und erzieherischer Hilfen? - Das"Green Paper" (Teil 1)

Michael Winkler:
Frontalunfall: Über Jugendhilfe und Journalismus

Stefan Pforte, Holger Wendelin:
Intensivpädagogische Auslandsmaßnahmen in den Hilfen zur Erziehung

Jens Pothmann:
"Bildungsverlierer" eine Herausforderung für die Heimerziehung 

Norbert Struck:
Stadt muss Kosten für Erziehungsberatung bei freiem Träger übernehmen

 

Erscheinungsjahr
2007
Ausgabe
3
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2007