Krisenintervention: Orte und Konzepte - Abstracts
Die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen ist ein ganz besonderes Feld der Jugendhilfe. Einerseits handelt es sich um eine spezifische, freiwillig in Anspruch zu nehmende Hilfe für junge Menschen („Das Jugendamt ist verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet“ § 42 Abs 2 Satz 1) – eines der wenigen wirklichen „subjekt-öffentlichen“ Rechte, die das KJHG Minderjährigen einräumt. Andererseits bietet § 42 aber auch den rechtlichen Rahmen des Eingriffs im Rahmen des staatlichen Wächteramtes ggf. auch gegen den Willen von Eltern und Minderjährigen („Das Jugendamt ist verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert.“ § 42 Abs 3 Satz 1). Gerade diese zweite Verpflichtung der öffentlchen Jugendhilfe ist der Grund dafür, dass diese Norm nicht im Leistungskatalog der Jugendhilfe (§§ 11 – 41 SGB VIII), sondern unter den Anderen Aufgaben (§§ 42 – 60 SGB VIII) auftaucht.
Der gemeinsame Nenner, auf den sich sowohl der Hilfe- als auch der Eingriffsaspekt der Inobhutnahme begründet, ist der Begriff der Krise oder der Krisenintervention. Krisenlagen und Schutzbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen können sehr unterschiedlicher Natur sein, vor allem abhängig vom Alter und dem Geschlecht. Sie reichen vom nicht versorgten Säugling in der Familie über die Suche nach Schutz vor körperlichen oder sexuellen Übergriffen bis hin zu Ablösekrisen junger Menschen, die sich in heftigen, bisweilen gewalttätigen Konflikten in und außerhalb von Familien äußern. Es liegt auf der Hand, dass je nach Krisenlage ganz unterschiedliche Formen sozialpädagogischer Krisenintervention erforderlich sein können. In all diesen Situationen muss die öffentliche Jugendhilfe im Rahmen ihrer Gewährleistungspflicht (§ 79 SGB VIII) dafür sorgen, dass die notwenigen und geeigneten Einrichtungen und Dienste zur Krisenintervention rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Umfassende und aufeinander bezogene Konzepte sind indes eher selten. Die Beiträge in diesem Heft beleuchten die Aufgabe der Inobhutnahme und Krisenintervention aus verschiedenen Blickrichtungen.
Karl Späth setzt sich zunächst mit der Frage auseinander, wie sich die Gruppe der NutzerInnen im Spiegel der Statistik darstellt. Er leitet aus der Frage der geschlechtsbezogenen Verteilung sowie aus der Verteilung von deutschen und ausländischen Minderjährigen eine Reihe von kritischen Fragen ab. Außerdem thematisiert er das Verhältnis von Leistungs- und Schutzaspekten der Inobhutnahme – zunächst quantitativ, dann aber auch konzeptionell. Die an den Beitrag anschließende Zusammenstellung von statistischen Entwicklungen durch Jens Pothmann kann sehr gut zur Illustration der Ausführungen von Späth herangezogen werden.
Mit einer spezifischen Form der Krisenintervention und des anschließenden Clearings von Lebenssituationen insbesondere jüngerer Kinder beschäftigt sich der Beitrag von Siegrid Lüning-Menge, die aus ihrer mehrjährigen Erfahrung als Bereitschaftsbetreuungsfamilie berichtet. Sie beschreibt die fachlichen und emotionalen Anforderungen an eine solche Arbeit und macht spezifische Belastungen für die Fachkräfte und ihre Familien anhand persönlicher Erfahrungen deutlich.
Mit einem Ansatz geschlechterdifferenzierter Krisenintervention beschäftigt sich im Anschluss daran Monika Weber. Sie beschreibt die Geschichte und konzeptionellen Entwicklungen von Mädchenhäusern. Auf der Grundlage referierter Praxiserfahrungen benennt sie Anforderungen an eine mädchengerechte Gestaltung von Krisenintervention und Inobhutnahme – nicht nur in Mädchenhäuser, sondern für alle Einrichtungen und Dienste in diesem Aufgabenfeld.
Der abschließende Beitrag von Lioba Baving setzt sich mit einer besonderen Problematik im Kontext der Krisenintervention für junge Menschen auseinander. Aus der Sicht einer Kinder- und Jugendpsychiaterin beschreibt sie die Konfliktlinien zwischen medizinischer (kinder- und jugendpsychiatrischer) und sozialpädagogischer Krisenintervention. Dabei steht aus ihrer Sicht bei einer in der Regel funktionierenden Kooperation das Thema der geschlossenen Unterbringung im Zentrum der Kontroverse. Sie stellt aus der Sicht ihrer Praxis und ihrer Profession eine Reihe kritischer Fragen und Anforderungen an die Jugendhilfe, die man so vielleicht nicht teilen muss, auf die bezogen man aber fachliche Antworten oder Alternativen benennen muss.
Auch wenn in diesem Heft nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Spektrum möglicher Kriseninterventionen für junge Menschen in Not- und Krisensituationen aufgegriffen werden konnte, sollten die Beiträge doch Anlass für eine offensivere Thematisierung dieser Arbeit sein. An der Reaktion auf Krisen von Kindern und Jugendlichen muss sich die Qualität der Jugendhilfe insgesamt messen lassen. Die Konzeptdiskussion und –entwicklung darf hier nicht abreißen, damit mögliche Rat- und Hilflosigkeit der HelferInnen nicht – wie mancherorts zu beobachten – in verstärkte Repression gegenüber den betroffenen Kindern und Jugendlichen selbst umschlägt.
In eigener Sache
Im 8. Jahrgang unserer Zeitschrift ist ein (partieller) Verlagswechsel anzuzeigen: Ab Heft 5/2002 erscheint „Forum Erziehungshilfen“ bei der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, unter dem Verlagslabel „BeltzVotum“. Der im Bereich Kinderbuch („Beltz-Gelberg“), Pädagogik, Psychologie und Soziale Arebit ausgewiesene Beltz-Verlag hat zum 1.10.2002 den Votum-Verlag in Münster übernommen.
Reinhold Schone/Wolfgang Trede
Aus dem Inhalt
Lioba Baving:
Im Spannungsfeld von Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe. Krisenintervention aus der Sicht einer Kinder- und Jugendpsychiaterin
Siegrid Lüning-Menge:
Erfahrungen und Probleme der professionellen familiären Bereitschaftsbetreuung
Karl Späth:
Inobhutnahme als Ausfallbürge für Mängel im Hilfesystemen?
Monika Weber:
Mädchenhäuser: Geschlechterdifferenzierte Krisenintervention im Rahmeneines integrierten Hilfeangebots
Christa Neuberger:
Multiperspektivische narrative Interviews in der Kinder- und Jugendhilfe.
Narrative Interviews in der Forschung