Case Management

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Ausgangspunkte

Case Management hält seit Mitte der 1990er-Jahre Einzug in die Praxis- und Theoriediskurse der deutschen Sozialen Arbeit (siehe als ein erstes Grundlagenwerk zum Konzept Wendt (Hg.) 1995) und kann inzwischen als ein etabliertes Konzept gelten, zu dem sich ein reger Fachaustausch und ein großes Praxisinteresse entwickelt hat (siehe als Standardwerk Wendt 2010). Flankiert wird die praktische Einführung und theoretische Reflexion des Konzeptes von einer Neuausrichtung des Sozialstaates, der weniger vorsorgend, sondern stärker aktivierend wirken soll. Case Management kann als Teil dieses Paradigmenwechsels verstanden werden, mit dem sich gegensätzliche Bewegungen zusammenführen lassen, nämlich zum einen die Lebensweltorientierung und zum anderen die Ökonomisierung der Sozialen Arbeit.

Zahlreiche Hochschulen und private Institute bieten inzwischen einjährige Weiterbildungen zur Case Managerin/zum Case Manager an. An der österreichischen Fachhochschule in St. Pölten gibt es einen Masterstudiengang der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Case Management. Case Management scheint in aller Munde zu sein und verspricht, überall dort die professionelle Fall-, Vernetzungs- und Koordinationsarbeit passender als bisher zu gestalten, wo es um einen angemessenen Umgang mit komplexen Fällen geht, eben in unterschiedlichen Arbeitsfeldern humaner Dienstleistungen – neben der Sozialen Arbeit auch in den Bereichen der Beschäftigungsförderung, der ambulanten Pflege, des Krankenhausbehandlungsmanagements oder des Versicherungswesens. Daher trägt zum Boom von Case Management sicherlich ebenfalls das große Interesse bei, das sich auch außerhalb der Sozialen Arbeit zeigt. In allen diesen Feldern versprechen die Protagonisten des Ansatzes eine effektivere und effizientere Planung, Organisation und Durchführung von Unterstützungsleistungen, wenn Case Management als Arbeits-, Koordinations- und Kooperationsstruktur implementiert wird.

Der Case Management-Diskurs wird durch zahlreiche Publikationen zum Thema angeregt und insbesondere durch die viermal im Jahr erscheinende Fachzeitschrift Case Management, initiiert und herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (http://www.dgcc.de), getragen und geprägt. Allerdings wird das Konzept nicht einhellig befürwortet, es erfährt auch harte Kritik. So wird Case Management etwa als Strategie bewertet, die die vermeintlich aktivierenden und einseitig individualisierenden Tendenzen eines neoliberal gewendeten Sozialstaates auch in die Mikrointeraktionen der Sozialen Arbeit, der Pflege oder der Beschäftigungsförderung hineinträgt (vgl. exemplarisch und grundsätzlich dazu Galuske 2007).

 

Case Management im kritischen Diskurs

Neben einer vermeintlich neoliberalen Ausrichtung des Case Managements werden seit einigen Jahren insbesondere Fragen der Implementierung des Verfahrens und seiner Zuordnung zu bestimmten Berufsgruppen bzw. Professionen kontrovers diskutiert. Hinsichtlich der Implementierung wird von Protagonisten des Verfahrens mitunter vermutet, dass bei zahlreichen Institutionen und Arbeitsfeldern, die vorgeben, mit Case Management zu arbeiten, dies zwar postuliert wird, dass das Verfahren in der Praxis aber häufig nicht realisiert wird. Demzufolge hat Peter Löcherbach (2003) vorgeschlagen, vier Stufen der Case Management-Implementierung zu unterscheiden: Case Management als Eye Catcher, als Ergänzung, als Fallmanagement und (voll implementiert) als Fall- und Hilfesystemsteuerung. Während Case Management als Eye Catcher freilich eine problematische Strategie ist, weil der Name des Konzeptes damit diskreditiert werden kann, können alle anderen Stufen der Implementierung als legitim gelten, wenn sie transparent und reflektiert realisiert werden.

Demnach wird Case Management als Ergänzung zur Nutzung von einzelnen Schritten des Verfahrens bzw. als Anreicherung der in der Institution etablierten Fallarbeit verstanden, während Case Management als Fallmanagement bedeutet, dass das gesamte Phasenmodell fallbezogen implementiert ist. Die vollständige Implementierung ist erreicht, wenn sowohl auf der Fall- als auch auf der Hilfesystemebene Case Management etabliert ist.

Dass eine solche vollständige Implementierung des Verfahrens oft scheitert, hat sicherlich etwas mit der funktionalen Differenzierung der Systeme Sozialwesen, Gesundheitswesen und Beschäftigungsförderung zu tun, die zudem eine Binnendifferenzierung aufweisen. Gerade die bereichs- bzw. systemübergreifende Koordination der Fallarbeit wäre angesagt, um tatsächlich nachhaltige Effekte passgenauer professioneller Hilfe, Betreuung und Unterstützung zu erreichen. Aber genau diese systemübergreifende Case Management-Funktion lässt sich nur selten realisieren – unterschiedliche Finanzierungstöpfe, disparate öffentliche Zuständigkeiten und divergierende rechtliche Grundlagen diversifizieren und spalten eher, als dass sie Möglichkeiten bieten, Zusammenarbeit, Kooperation und wechselseitige Koordination zu realisieren.

So offenbart bereits die Frage, welcher Profession das Case Management als Funktion und Verantwortungsbereich zugeordnet wird, äußerst kontroverse Antworten. Hier konkurrieren unterschiedliche Berufsgruppen miteinander: Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Pflegekräfte oder auch Verwaltungsfachleute. Strittig ist etwa, ob Case Management zur Sozialen Arbeit gehört oder als ein Verfahren professionsübergreifend bzw. arbeitsfeldneutral gedacht werden sollte. Demnach hätten unterschiedliche Professionen gleichermaßen Zugang zum Verfahren und könnten in die Verantwortungsrolle als Case Managerin oder Case Manager eintreten.

Bezüglich der Kinder- und Jugendhilfe wird Case Management manchmal in Zusammenhang gesehen mit einem Trend zur De-Professionalisierung, Ökonomisierung und Technisierung der Arbeitsvollzüge von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern im Allgemeinen Sozialpädagogischen Dienst ( ASD ) der Bezirkssozialarbeit (vgl. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend 2013: 293). Demnach führe die Implementierung von Case Management zwar zur Standardisierung und Rationalisierung von Arbeitsabläufen, aber schränke damit möglicherweise zugleich die individuellen Entscheidungsspielräume der Fachkräfte ein. Zudem drohe eine weitere Gefahr, wenn nur noch „komplexe“ Fälle durch das „Falleingangsmanagement“ in Richtung Case Management gelenkt werden. Der generalistische und ganzheitliche Blick könnte dadurch zu Gunsten einer Re-Spezialisierung der Sozialen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien im ASD verloren gehen. Ergänzend kann hier formuliert werden, dass sich die Komplexität einer Hilfe häufig erst dann zeigt, wenn eine intensive Fallarbeit anläuft, so dass im Vorfeld, etwa während eines Falleingangsmanagements, hierüber noch gar kein passendes Urteil gefällt werden kann.

Für die Zukunft kann erwartet werden, dass sich Case Management weiter etabliert. Allerdings scheint der Trend dahin zu gehen, dass sich in den zahlreichen Weiterbildungsprogrammen zur Case Managerin/zum Case Manager weniger einzelne Fachkräfte wieder finden, sondern dass Weiterbildungen zu Organisationsentwicklungen transformieren. So werden ganze Organisationen und Netzwerke von Organisationen strukturell dabei unterstützt, Case Management als Verfahren der Fall- und Hilfesystemkoordination zu implementieren. Dabei kommt es dann weniger darauf an, wer, also welche Fachkraft Case Management konkret verantwortet, sondern wichtiger wird, die Organisation und ihre Zusammenarbeit mit anderen Organisationen so zu gestalten, dass sich strukturell Kooperations-, Koordinations- und Vernetzungsprinzipien in und zwischen Organisationen etablieren. Case Management ist dann weniger an einzelne Fachkräfte gebunden, sondern als Verfahren der gemeinsam verantworteten inner- und intersystemischen Zusammenarbeit dauerhaft eingerichtet.

 

Komplexe Fallarbeit

Zentral bei der Diskussion und Implementierung von Case Management ist der Bezug des Konzeptes auf die professionellen Anforderungen, die mit einer Fallarbeit angesichts einer hohen Komplexität der relevanten Problemlagen einhergehen. Mit komplexen Problemlagen ist zum einen gemeint, dass es um Situationen von Personen geht, die mit einer Mehrzahl von Problemen konfrontiert sind, die ihr körperliches oder psychisches Wohlbefinden beeinträchtigen, die sich im Kontext ihrer sozialen Beziehungen zeigen oder ihre Teilhabechancen an Organisationen der gesellschaftlichen Ressourcenvermittlung verringern. Zum anderen zeigt sich die Komplexität solcher Problemlagen durch die jeweilige Beteiligung von mehreren an der Beseitigung der Probleme arbeitenden Akteuren oder Institutionen. Demnach geht es im Case Management um die Bewältigung von multiplen Problemen mit einer hohen Akteurs- bzw. Beteiligungsdichte.

Soziale Arbeit im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, etwa im Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung (z. B. der Sozialpädagogischen Familienhilfe) hat es i. d. R. mit Fällen dieser (komplexen) Art zu tun – wobei unter Fall nicht ein einzelner Mensch verstanden wird, sondern eine bestimmte professionelle Perspektive auf Menschen. Bei dieser wird ein Ausschnitt der Persönlichkeit im sozialen Kontext sichtbar, der durch körperliche, psychische oder soziale Probleme auffällt. Für deren Lösung kann professionelle Fremdhilfe beansprucht werden, die angemessen und notwendig erscheint.

Case Management verdankt seine Entstehung der Diversifizierung des professionellen Hilfesystems, was dazu führte, dass sich für jedwede körperliche, psychische oder soziale Problem- und Bedarfslage unterschiedliche helfende Spezialperspektiven und Arrangements entwickelten. Sobald Menschen mehrere solcher Probleme artikulieren oder ihnen eine solche Betroffenheit attestiert wird und helfende Akteure oder Institutionen ihre Arbeit aufnehmen, generiert sich das, was Case Management notwendig macht: Fallkomplexität.

 

Case Management als Verfahren, Methodenpool und Haltung

Case Management versteht sich als Lösung des Problems der Fallkomplexität. Bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass sich mithin die passende Zusammenarbeit unterschiedlicher professioneller Akteure oder Institutionen in lebensweltlichen Kontexten mit einer Mehrzahl von Problemen nicht im Selbstlauf realisiert, sondern immer wieder erneut und gezielt hergestellt werden muss. Gemäß des alten Sprichwortes „Viele Köche verderben den Brei“ erleben Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter regelmäßig, dass der Erfolg ihrer Arbeit mit dem Grad der Koordination, der Qualität des Zusammenspiels der unterschiedlichen am Fall beteiligten Akteure und Institutionen korreliert. Die Funktion von Case Management ist es, diese Koordination, dieses Zusammenspiel der heterogenen und diversen Spezialperspektiven, -akteure und -institutionen in fallangemessener sowie effektiver, d. h. zielwirksamer und effizienter, d. h. in wirtschaftlicher Weise zu realisieren.

Dabei setzt das Case Management-Verfahren auf zwei Ebenen an, zum einen auf einer fallbezogenen und zum anderen auf einer hilfesystembezogenen, fallübergreifenden Ebene. Die Fallebene bezieht sich auf die Koordination hinsichtlich der helfenden Akteure und Institutionen, bezogen auf eine konkrete Fallkonstellation. Demgegenüber ist mit der Hilfesystemebene die auch fallübergreifende Organisation im Netz unterschiedlicher professioneller Hilfeerbringer gemeint. Damit ist ein Ziel des Case Managements, die Organisation personenbezogener Dienstleistungen durch strukturelle Veränderungen und Entwicklungen, so zu gestalten, dass die tatsächliche Fallarbeit adäquater, bestenfalls effektiver und effizienter realisiert werden kann.

Den Kern des Case Management-Verfahrens bildet ein Phasenmodell, in dem eine Falleingangsphase (Intake), eine Falleinschätzungsphase (Assessment), eine Hilfeplanungsphase (Service Planning), eine Phase der Einleitung, Implementierung sowie Verknüpfung notwendiger und geeigneter Hilfen (Intervention und Linking), eine Phase der Fallbegleitung (Monitoring) und eine Phase der Evaluation und des Fallabschlusses (Evaluation) unterschieden werden. Diese Phasen werden durch die Nutzung unterschiedlicher Methoden umgesetzt, so dass das Verfahren den Rahmen bildet für die methodische Ausgestaltung der genannten Schritte, die sich bspw. aus dem reichhaltigen Angebot systemischer Ansätze bedient (siehe weiterführend dazu etwa Kleve u. a. 2011).

Die Methoden rücken die Problem-, Ziel- und Lösungsvorstellungen der Menschen, denen geholfen wird, die unterstützt werden, ins Zentrum der Betrachtung. Es geht also um die methodische Ausgestaltung eines Verfahrens, das das selbstbestimmte und eigenverantwortliche Leben zu stärken versucht und Menschen dabei unterstützt, dass sie herausfinden, was sie stärkt und wie diese Stärkungen in passender, mithin lösungs- und zielgerichteter Weise einbezogen und beispielsweise mit professionellen Hilfen zusammengebunden werden können.

Trotz des klar benannten Verfahrens und der vielen Methoden, mit denen das Verfahren ausgefüllt werden kann, lässt sich mit dem Case Management eine Erwartung nicht erfüllen, die manchmal von Verfechtern des Konzeptes artikuliert wird: dass komplexe Fallarbeit zielgerichtet gesteuert werden kann. Diese Idee kann eher als eine Steuerungsillusion kritisiert und mit systemischen Positionen konfrontiert werden. Denn biologische, psychische und soziale Systeme lassen sich grundsätzlich nicht von außen determinieren, sondern können bestenfalls konstruktiv zur Selbststeuerung angeregt werden. Daher ist eine wichtige Haltung im Rahmen der komplexen Fallarbeit die Steuerungsgelassenheit, die mit der ironischen Position einhergeht, dass wir zwar versuchen sollten zu planen, dass aber die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich so kommt, wie wir das intendieren, gering ist. Case Managerinnen und Manager benötigen daher eine Kontingenztoleranz, die es ihnen erlaubt, damit zu leben, dass es (praktisch/empirisch) wahrscheinlich anders kommt als es (theoretisch) geplant wurde.

Zweifellos lässt sich Case Management auch als ziel-, lösungs- und ressourcenorientiertes Verfahren verstehen, das professionelle Fremdhilfe als nachrangig zur lebensweltlichen Selbsthilfe einordnet. Demnach setzt es eine professionelle Haltung voraus, die dazu beiträgt, den Menschen zuzutrauen, dass sie persönliche und soziale Ressourcen besitzen bzw. entwickeln können, um die Bewältigung ihrer eigenen persönlichen und sozialen Belange (wieder) selbst wahrnehmen und gestalten zu können. Somit zeigt sich auch hier das Motto der Hilfe zur Selbsthilfe als das zentrale Ziel.

 

Literatur

Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2013): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 14. Kinder- und Jugendbericht (http://www.bmfsfj.de/Redaktion- BMFSFJ /Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/14-Kinder-und-Jugendbericht,property=pdf, bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf, Zugriff am 24.03.2014).

Galuske, M. (2007): Case Management und aktivierender Sozialstaat. In: Soziale Arbeit, Heft 11–12, S. 409–417.

Kleve, H. u. a. (2011): Systemisches Case Management. Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit. 3., überarbeitete Auflage. Heidelberg.

Löcherbach, P. (2003): Einsatz der Methode Case Management in Deutschland: Übersicht zur Praxis im Sozial- und Gesundheitswesen. Unveröffentlichtes Manuskript. Vortrag auf dem Augsburger Nachsorgesymposium am 24.05.2003.

Wendt, W. R. (2010): Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen. Eine Einführung. 5. Auflage. Freiburg/Br.

Wendt, W. R. (Hg.) (1995): Unterstützung fallweise. Case Management in der Sozialarbeit. 2. Auflage. Freiburg/Br.

 

 

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