Bildung und Demokratie

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Dem Begriff der Bildung kommt gegenwärtig in allen Gesellschaften eine Schlüsselrolle zu. Sie beschreiben mit ihm ihr Selbstverständnis, erfassen soziale und kulturelle Problemlagen, treiben mit ihm ihre Modernisierung voran. So werden hohe Erwartungen mit der Vorstellung verbunden, durch ein umfassend ausgebautes Schulsystem das Qualifikationsniveau der Menschen zu heben; Öffentlichkeit und Politik verhandeln Bildungsfragen meist in der Erwartung, mehr Demokratie verwirklichen zu können. Sie stützen sich dabei auf die in der Aufklärung entstandene Vorstellung einer öffentlich verantworteten Bildung für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft. Berechtigt ist diese Erwartung wohl eher nicht. Denn Bildungssysteme wirken stets als Instrumente gesellschaftlicher Reproduktion, wobei sie der Tradition sowohl von Wissensbeständen wie vor allem von Handlungsformen und habituellen Eigenschaften dienen, welche die Kultur einer Gesellschaft ausmachen (vgl. Bourdieu 2001). Bildungssysteme dienen der sozialen Selektion und der Zuweisung von Lebenschancen; sie reproduzieren soziale Verhältnisse, mithin Schichten- oder Klassenstrukturen. Allerdings tun sie dies in den Gesellschaften in unterschiedlichem Ausmaß und an unterschiedlichen Stellen der menschlichen Biographien; grosso modo gesprochen, wird bspw. soziale Zugehörigkeit in Deutschland am Übergang in das Sekundarsystem selektiv wirksam, während sich in Frankreich soziale Herkunft an den Übergängen ins Lycée oder in den Tertiärbereich niederschlägt. Im Ergebnis bleibt die Mehrheit der Bevölkerung von einem Aufstieg und gar von der Zugehörigkeit zu einer Elite ausgeschlossen. Die feinen Unterschiede wirken sich allemal aus.

Angesichts der Selektivität der Bildungssysteme wird politisch gefordert, die Zugänge zu diesen für alle zu öffnen und die Beurteilung von scholar erbrachter Leistung an Standards zu objektivieren. Meritokratismus wird als Voraussetzung für eine demokratische Gestaltung von Bildung angesehen, wobei Grenzen mit den individuellen Lernvoraussetzungen gegeben sind; es besteht daher eine Spannung zwischen Heterogenität und normalisierenden Bewertungsverfahren. Ohnedies scheint es unwahrscheinlich, dass das Bildungssystem als Funktion einer Gesellschaft die in dieser gegebenen sozialen Ordnung zu durchbrechen vermag; Klassen- und Machtverhältnisse reproduzieren sich dann an anderer Stelle, durch höhere Gewichtung der Kapitalformen, mit welchen Menschen ausgestattet sind (vgl. Bourdieu 2011, bes.: 112 ff.). Zum anderen reduzieren solche Überlegungen das Verständnis von Demokratie auf formale Prozesse, wobei die Ausrichtung auf – allerdings wichtige – Struktur- entscheidungen inhaltliche Fragen von Demokratie sowie die nach der nach Mitwirkung an Macht- und Herrschaftsprozessen in den Hintergrund treten lassen; Demokratie wird so auf eine Sozialtechnik reduziert, während zugleich die Debatte um Bildung im Blick auf Demokratie inhaltsleer, zugleich mit hoher Emphase geführt wird; bei Bildung geht es um die Zukunft der Gesellschaft, doch bleibt offen, was damit gemeint ist.

Tatsächlich dienen Bildungsdebatten in säkularen Gesellschaften als Religionsersatz, das Wort Bildung tritt als Verheißungsbegriff auf, der mit dem Paradies winkt – es wird selten erreicht, zu rechnen ist eher mit Dystopien. Dennoch: Wenngleich die noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts leitenden Ideen keine Rolle mehr spielen, nach welchen Bildung Bürgerrecht sei, wird Bildung heute als Instrument von Sozialpolitik verstanden. Die Ausweitung von Bildungschancen gilt als Möglichkeit, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Ein ständiges Monitoring des Bildungssystems (durch die empirische Bildungsforschung) sowie die Einführung von Standards sollen Privilegierung abbauen und das Bildungsniveau aller erhöhen; Bildungsoffensiven scheinen fast allgegenwärtig, führende Politiker stellen etwa Deutschland als Bildungsrepublik dar, wenngleich der Anteil einschlägiger Ausgaben an den öffentlichen Haushalten unter dem vergleichbarer Länder liegt und der Verweis auf zurückgehende Schülerzahlen zu drastischen Kürzungen von Lehrerstellen führt. Ohnedies fällt auf, wie mit dem Ausdruck Bildung fast absurd wirkende Vorgänge erfasst werden: Geradezu epidemisch erscheinen Bücher darüber, „was man wissen muss“, ihnen ist die Quizshow im Fernsehen zur Seite getreten. Sie gilt als Bildungsangebot, wobei die Prämierung punktueller Informationsbestände als symptomatisch für das gelten kann, was in einer die Bildungsrealität angemessen erfassenden Theorie der Unbildung darzustellen wäre (Liessmann 2006).

Bildung ist populär, aber um Demokratie geht es dabei nicht. Keine Rolle spielen Fragen nach der Sicherung und Wahrung von Freiheit, nach – negativ – Abwehr von Übergriffen auch des Staates und – positiv – Ermöglichung eines Handelns (vgl. Berlin 2006, Taylor 1988), um Einzelne oder Kollektive zu befähigen, Abhängigkeiten und Unterdrückung, Macht und Herrschaft zu erkennen, um die eigenen Lebensverhältnisse zu gestalten, also Autonomie im Kontext von Regeln zu finden, die durch die Subjekte geschaffen sind (vgl. Nussbaum 2010). Im Gegenteil: längst wird noch das Wissen um Demokratie vorenthalten, sogar das um die eher beschränkten Einflussmöglichkeiten, wie sie eine Sozialkunde in der Schule verrät, erst recht um – buchstäblich – radikalen Formen, welche ein Demokratiebegriff formuliert, der sich nicht bei den eingeschränkten Vorstellungen der griechischen Antike aufhält (vgl. Graeber 2012, 2013). Von radikaler Demokratie wird nicht erzählt.

Im Hintergrund der Entwicklungen des Bildungssystem stehen vorrangig ökonomische, marktradikal ausgerichtete Überlegungen (die eher missverstanden als neoliberal bezeichnet werden). Zwar spielt die Problematik der sog. Wissensgesellschaft eine wichtige Rolle, nach der die Bedeutung materieller Produktion in der Wertschöpfung zurückgeht, während die wissensbasierten Entwicklungen und Erzeugnisse höheres Gewicht gewinnen. Das trifft zumindest für die Ökonomien der Industrieländer zu, wenngleich in diesen die Erwartung widerlegt wurde, dass etwa Dienstleistungen ins Zentrum der Wertschöpfung rücken. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten, da Dienstleistungen (etwa im Bankenwesen) zunehmend automatisiert vollzogen werden. Bei der Durchsetzung des neuen Bildungsdenkens geht es also mehr um den globalen Wettbewerb der Ökonomien sowie um die Konkurrenz der Arbeitnehmer, die allzumal als „Geistesarbeiter“ längst einer „global auction“ ausgesetzt sind (Brwon/Lauder/Ashton 2011). Auf fatale Art und Weise ist die Egalität von akademisch Ausgebildeten gegenüber der übrigen workforce Wirklichkeit geworden. Alle sind nun proletarisiert, ohne dies zu merken. Das hängt im scholaren Bildungsgeschehen mit einer zunehmenden Tilgung von Inhalten zu Gunsten von eher diffusen Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen (vgl. Fuhrmann 2004), die mit dem Begriffspaar Humankapital und Kompetenz beschrieben und testdiagnostisch vermessen werden (Münch 2009: 36 ff.). Das vollzieht sich durchaus widerspruchsvoll. So geht es in den öffentlichen Debatten wie in den Institutionen erklärtermaßen stets um Kognition, während die Dimensionen des Emotional-Affektiven, des Ästhetischen, der Moralität und der Sozialität sowie des Politischen noch so weit ignoriert werden, dass Zweifel bestehen, ob überhaupt noch Lernprozesse möglich sind (und zwar in einem umfassenden Sinne des Ausdrucks sowie im Blick auf die Tatsache, dass kognitives Lernen und Emotionalität in enger Verbindung stehen) (vgl. Greenspan/Enderly 2001). Zugleich aber tritt das sichere Wissen in den Hintergrund, die Lehrpläne betonen in den Realwissenschaften eher diffuse Zusammenhänge. So wissen Schüler heute um die klimatische Bedeutung des tropischen Regenwaldes, können aber kein Land nennen, in welchem dieser abgeholzt wird.

Das feste, als kristallin denunzierte Wissen löst sich auf zu Gunsten von eher konzeptionellen Vorstellungen, wie sie einer Gesellschaft und Kultur entsprechen, die sich flüssig oder flüchtig zeigt, wenigstens aber brüchig, wie sehr harte Strukturen in ihrem Hintergrund doch wirken (vgl. Bauman 2000, Koerrenz/Winkler 2013). Darin liegt vielleicht eine Besonderheit des neuen Bildungsdenkens: Bildung soll nicht dazu befähigen, schon gar nicht ermächtigen, soziale und politische Wirklichkeiten als Objektivität zu begreifen, der Widerstand entgegengesetzt, an der gearbeitet werden kann, um sie zu verändern. Stattdessen entzieht sich die Wirklichkeit, sie wird adiaphorisiert (vgl. Bauman/ Donskis 2013), bleibt eher sublim, höchstens als Sachzwang, für den gilt, was Politik als TINA-Prinzip behauptet: There is no alternative. Das für diese Moderne gebildete Subjekt zeigt sich fit, wobei der wenig euphemistische Sinn des Ausdrucks unausgesprochen bleibt, nämlich: angepasst, körperlich stark, gehärtet und biegsam zugleich, ansonsten aber alert und open minded. Bildung im Medium der Gewissheit und des Gewissen sind einer Kompetenz und einem Habitus gewichen, die auf ständige Veränderung ausgerichtet sind.

Lebenslanges Lernen steht dabei auch für lebenslanges Vergessen und die Fähigkeit, Wissen und Verhaltensweisen ständig neu zu generieren, sich auf Innovation und Reform einzulassen, das eigene Leben als brüchig auszuhalten und Flexibilität zu beweisen, in der Charakter korrodiert ist (vgl. Bauman/Vecchi 2004, Sennett 1998). Subjektivität spricht sich als Projekt aus, das ständig mit dem Abbruch von sozialen Beziehungen und dem Zwang einhergeht, sich selbst der sozialen und kulturellen Entbettung auszusetzen (Boltanski o. J., Boltanski/Chiapello 2006). Alles Gefestigte wäre da nur Ballast, in der flüchtigen Moderne lagert das flüchtige Individuum seine geistigen Habseligkeiten längst in einer cloud ein.

Bildung bedeutet heute, dass die Verbindung mit Inhalten und Strukturen, selbst die zur eigenen Person, geknackt wird, aber dennoch die ständige Bereitschaft nachgewiesen sein soll, eben Verbindungen herzustellen. Im Netzwerkdenken ist Bildung smart geworden, aber das Zertifikat der Schlauheit beweist nur Anschlussfähigkeit. Das gilt für alle – und insofern sollen alle nachweisen, ob und wie sie den Vernetzungsmechanismen gehorchen. Darum geht es in den Zertifikaten, die den Schein wahren, indem sie die alten Fächer noch als Hüllen ausweisen, längst aber Kompetenzen meinen, die streng genommen nur performativ existieren. Dabei gehört es zu den Paradoxa einer insoweit vollständig vergesellschafteten Bildung, dass mehr Bildung für alle, mithin die vordergründige Demokratisierung des Geschehens, die Statusverhältnisse nicht verändert. Zwar erhöht sich vielleicht das Gesamtniveau an Qualifikation, wobei zugleich das für unverwertbare gehaltene Wissen, die Einsicht etwa in historische und soziale Prozesse, eskamotiert wird – mit einem faschistischen Ausdruck heißt das dann „Entrümpelung der Lehrpläne“. Man könnte dem noch etwas abgewinnen, wenn tatsächlich die MINT-Fächer sich breit machen würden. Doch lässt sich das an den Lehrplänen nicht wirklich nachweisen. In Wirklichkeit ändert sich durch die Erhöhung des Bildungsniveaus, ändert sich durch eine Vermehrung der Zertifikate nichts an den sozialen Differenzen. Denn die Eliten setzen auf neue Distinktionsmittel: Wenn alle das Abitur in der Tasche haben, wird entscheidend, an welchem Gymnasium man es erworben hat; die Ratingagenturen des Bildungswesens geben dazu die angeblich objektiven Informationen, verschweigen aber, wie aller Bildungserfolg von Aufwendungen abhängt, die als Hintergrundsicherheit für die einzelne Schule bestehen. (Das lehrt übrigens das finnische „Erfolgsmodell“, das nach der Prämiierung durch das Programme for International Student Assess- ment massive Kürzungen hinnehmen musste und sich nun auf dem Abwärtsweg im Ranking befindet.) Die Ausgestaltung eines Bildungssystems, selbst die Höhe der nationalen Bildungsinvestitionen sagt wenig über das Maß an Gleichheit in einer Gesellschaft aus, wie das Beispiel der USA belegt, wie sich auch an den neuen Bildungsgewinnern in den vorgeblich normierten Testverfahren zeigt (vgl. Wilkinson/Pickett 2010). Mehr noch: Häufig genug widerfährt im Bildungsboom den sozialen Mittelschichten eine Abwärtsbewegung wie noch nie; England gilt als das Musterbeispiel dafür schlechthin: Familien verschulden sich, weil die verbindlich gemachte akademische Ausbildung (eine solide Berufsbildung kannte man nicht) wegen ihrer angeblichen Vorteile für die Subjekte privatisiert und verteuert wurde, blickt schon die heutige junge Generation einer Zukunft entgegen, in der sie die Raten für ihre Bildungskredite so weit niederdrücken, dass sie sich kein Wohneigentum mehr leisten können (Boffey 2013).

Im neuen Bildungssystem wird also Heydorns dunkle Prophezeiung von der Ungleichheit für alle wahr (Heydorn 1980: 95 ff.). Aber der soziale Sinn der neuen Bildungsprogrammatik ist ohnedies ein anderer. Es geht um neue Formen der Abrichtung, wenn nicht um Zurichtung dafür, sich den modernen Lebensmustern zu fügen (vgl. Gelhard/Alkemeyer/Ricken 2013). Kompetenz ist eine Form der Selbstkontrolle, die mit der Beichte der eigenen Verfehlungen in Sachen Bildung einher geht (Gelhard 2011). Äußerlich drängen einen Bildungsstandards, die ständig revidiert werden, um den Druck zu erhöhen (Horvath 2012), innerlich wird man durch generelle Appelle an die eigene Bildungstätigkeit mobilisiert, dadurch auch, dass man sich dem zum Lebensmuster gewordenen Bildungskonsum beugt. Als Drohkulisse dienen Gegenmodelle, vergleichbar der im 19. Jahrhundert betriebenen Ausstellung von Narren, um selbst ein korrektes Verhalten hervorzubringen. Heute bietet die sogenannte das Gegenmodell, an dem man sich abarbeiten soll, wobei die Denunziation von Lebensweisen volatil bleibt. Vielleicht ist das der Trick, um den Bildungswahnsinn erst recht zu befördern, der geradezu in einer Distinktionshysterie endet (vgl. Ball 2003, Bude 2011).

Es besteht Bildungszwang. Der Bildungsdiskurs wird mit seiner Semantik zur Kontrollapparatur, in der die Einzelnen selbst noch als Akteure das Geschäft vorantreiben, das sie selbst bezahlen: Du musst dich bilden, sonst gehst du unter! Und das bedeutet: du musst dich den Tests fügen, die dich prüfen; das Szenario von Wer wird Millionär verkündet auf ungewollt ironische Weise die Wirklichkeit des Geschehens. Herrschaft wird ausgeübt, eine Form pädagogisch erscheinender Kognitionspolitik, parallel dem zu setzen, was Foucault als Gouvernementalität erkannt hat. Züge des Totalitären korrespondieren mit dem. Das omnes omnia omnino, mit dem Comenius in seiner Magna Didactica eine durch und durch demokratische Vorstellung von Bildung entworfen hat, verlischt, indem es pervers real wird. Bildung soll dann von früh an stets ganztags in Institutionen stattfinden, unter der Herrschaft professioneller Instruktoren, die sich dem testfähigen und messbaren Outcome verpflichtet sehen. Dabei ist längst vergessen, was als verhängnisvoll an totalen Institutionen ausgemacht wurde; weder das Stichwort Hospitalismus noch die Einsichten von Goffman oder Basaglia spielen in den Modulplänen der Hochschulen eine Rolle. Freiheit als die von Humboldt erkannte Wahrheit aller Bildung taucht nicht mehr auf, der im Namen von Bildung vollzogene Einschluss wird umfassend. So ist es kein Zufall, wenn die jüngste pädagogische Revolution unter der Überschrift der Inklusion stattfindet. Was denn auch sonst! Alle sollen verpflichtet sein, nicht mitwirken, nicht partizipieren, Teilhabe heißt längst, durch die eigene Leistung vereinnahmt zu sein, willfähriges Subjekt, das in seiner Subjektivität und um dieser willen verbraucht wird.

Deutlich ist, dass die Bildungsdebatte weitgehend von der um Demokratie abgekoppelt wurde – und zwar sowohl auf der Ebene allgemeiner Auseinandersetzung wie auf der einer konkreten Frage nach Beteiligung, Mitwirkung und Gestaltung. Die Diagnose von der Postdemokratie (Crouch 2008) bestätigt sich zuallererst im Bildungssystem selbst, dann an der Frage nach der Bedeutung, die Bildung zugesprochen wird. Sie hat nur noch instrumentelle und ökonomische Relevanz, trägt nicht mehr dazu bei, dass menschliche Subjekte sich orientiert fühlen, zur Analyse, Kritik und zum Verstehen der Welt und anderer Menschen in der Lage sind. Bildung ist aus der Sphäre des Politischen herausgetreten – zumindest, wenn man Politik mit Hannah Arendt verstanden sehen will (vgl. Arendt 2013, bes.: 74 ff.). Allerdings lässt sich gar nicht ausschließen, dass der Zusammenhang zwischen Bildung und Demokratie immer nur eher locker und an Skepsis gebunden war. Bildung und Freiheit, Aufklärung und Demokratie gehören zusammen, und doch birgt der Bildungsbegriff selbst ein elitäres Moment, weil er an Selbstbewusstsein gekoppelt war. Denn die klassische Theorie der Bildung, insbesondere bei Hegel, macht das Verhältnis des einzelnen, an seiner Freiheit interessierten Subjekts zu den Weltangelegenheiten als den gemeinten Grundsachverhalt aus; in der Arbeit an der Objektivität der Welt konstituiert sich das Subjekt in seiner Eigenart, verpflichtet darauf, das Begriffene selbst noch in seiner Universalisierbarkeit zu beurteilen. Elitär war dies, weil es allerdings jedem die Fähigkeit zusprach, reflexiv auf seine Weise Bildung zu gewinnen; unverwechselbar und immer eigenartig, so dass ein jeder noch in seiner Besonderheit anerkannt werden konnte.

Aber was bedeutet das nun alles für die Jugendhilfe? Sie gerät in eine dilemmatische Situation. Der Bildungsdiskurs ist hegemonial geworden und pragmatisch folgenreich; er muss erfolgreich sein, weil andernfalls das Gesellschaftssystem zerbrechen könnte. Fehlte die Überhöhung mit dem Begriff der Bildung, der ja das elitäre Bildungsdenken in Erinnerung bringt, um selbst sogleich ausgehöhlt zu werden, würden die Menschen möglicherweise gar nicht mehr mitmachen. Ihr Vorbehalt gegenüber den ökonomischen Zwängen ist längst ebenso verbreitet wie gegenüber einer Politik, die sich zum Sprachrohr des Finanzkapitals macht. Es könnte durchaus sein, dass Menschen mit einem Grundeinkommen leben wollen und sich der Arbeit für den Mehrkonsum verweigern, weil inzwischen genug für die Lebensführung zur Verfügung steht (vgl. Skidelsky & Skidelsky 2013). Der Bildungsdiskurs muss also funktionieren, als Leitmotiv und Dynamo, damit Verweigerung sich nicht breitmacht; wer daran erinnert, dass Schule von scholé abgeleitet ist und Muße meint, erntet die Mahnrufe der Experten.

Bildung ist dominant geworden, freilich nur in einem schlechten Sinne, nämlich dem der Hegemonie ökonomischer Interessen und solcher, die an der Gefügigkeit der Menschen interessiert sind; der Normalismus wirkt sich in ihm aus (vgl. Link 2013), wie sehr die Spannungen zwischen Normalität und Individualität das Geschehen in den modernen Gesellschaften überlagert (vgl. Seelmeyer 2008). Das schlägt sich darin nieder, dass die Jugendhilfe dem Bildungssystem strukturell untergeordnet wird. Schließlich mindert frühe Bildung angeblich das Risiko für Kinder und Jugendliche, macht die Ganztagsschule die Erziehungshilfe überflüssig; Determinismus kann auch als Glaubensprinzip auftreten, in Wirklichkeit gibt es keine Kausalbeziehungen zwischen früher Bildung und biographischen Verläufen. Ohnedies gilt: Das Schulsystem zielt auf Leistungstests, Messung und Selektion, um die Allokation im Gesellschaftssystem zu regeln; selbst die den Lehrern nun aufgetragene Diagnose führt zur neuen Ausgrenzung: weg mit den Störenfrieden – jede Mutter weiß das, wenn ihr zur Feststellung einer ADHS geraten wird. Wer in diesem System einer auf den ganzen Tag ausgedehnten Schule versagt, bedarf erst recht der intensiven Unterstützung und Förderung. Kinder- und Jugendhilfe unterstützt die Einzelnen, ermöglich ihnen, ein Leben in einer Gesellschaft und den individuellen Weg zu entdecken. Bildungssystem und Jugendhilfe folgen unterschiedlichen Handlungslogiken – Erziehungshilfe kann insofern mit Bildung im heute gegebenen Verstande sich nicht so leicht abfinden. Allerdings könnte man zur politischen Maxime erheben, das Bildungssystem nicht nach Kriterien der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu gestalten und zu bewerten, sondern darnach, ob und wie weit es zur sozialen Integration beiträgt und vielleicht Demokratie realer werden lässt. Empirisch lässt sich nämlich ein Effekt des Bildungssystems für die Steigerung des ökonomischen Erfolges nicht nachweisen, wohl aber zeigt sich, dass und wie es für sozialen Ausgleich und das Wohlergehen aller sorgen kann – um letztlich dann indirekt wohl auch den Wohlstand zu steigern (vgl. Wolf 2002).

Allerdings entkommt die Kinder- und Jugendhilfe der Frage nach Bildung nicht. Im einzelnen, konkreten Fall obliegt es ihr nämlich, Schulbildung und Ausbildung für eine Klientel zu sichern, die notorisch davon ausgeschlossen wird, das eigene Leben und die eigene Biographie praktisch in den sozialen und kulturellen Möglichkeitsräumen zu verwirklichen, der nicht einmal zugestanden wird, das Handeln in diesen überhaupt zu erlernen. Zur professionellen Verantwortung der Sozialpädagogik gehört, jungen Menschen zu den Bildungszertifikaten zu verhelfen, die ihnen Selbstständigkeit ermöglichen; sie mag elend sein, das Zeugnis selbst noch sogar Ausdruck der Ablieferung an Gesellschaft. Dennoch stellt das Schulurteil ein Moment subjektiver,   wenngleich prekärer Freiheit dar, wird zum Ausweis dafür, weniger der Willkür einer Sozialpolitik ausgeliefert zu sein, die mehr fordert als fördert. Ironischerweise geht es insofern bei Bildung im Fallbezug der Jugendhilfe nicht um Demokratie, sondern erneut um den eher elitären Bildungsbegriff, der aber doch Emanzipation bedeuten kann. Allerdings ist die Jugendhilfe zuweilen noch weit davon entfernt, mit ihrer Klientel die nötigen Abschlüsse zu erreichen – es fällt auf, wie die Beziehungen zwischen jenen, die in der stationären Jugendhilfe tätig sind, und denen, die in der Jugendberufshilfe arbeiten, nur zufällig zustande kommen. Vor allem aber: Angesichts der fatalen Auswirkungen von Risiko- und Übergriffsvorstellungen könnte drängend werden, in der Kinder- und Jugendhilfe selbst wiederum Arbeit an der Demokratie zu verankern – und zwar als praktische Erfahrung. Bildung und Partizipation, Mitwirkung gehören eng zusammen, sie müssen im institutionellen (und übrigens, was meist vergessen wird, im ambulanten) Setting realisiert werden. Wenn Kinder- und Jugendhilfe ernsthaft über Bildung nachdenkt, dann kann dies also nicht ohne ein praktisches Verständnis von Demokratie gelingen, das schon in den Einrichtungen Normalität des Zusammenlebens ausmacht.

 

Literatur

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