Aufarbeitung der Heimerziehungsgeschichte
aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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„Das Vergangene ist nie tot, es ist nicht einmal vergangen.“
William Faulkner
Kann man Geschichte „aufarbeiten“ oder gar bewältigen? Sollte man dies? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich vergegenwärtigen, dass die Forschung zu einer historischen Phase verschiedene Motive haben kann: Man kann sie betreiben, um „Wahrheit“ zu finden oder etwas, das ihr annähernd entspricht. Man kann Daten und Fakten sammeln oder verschiedene Perspektiven auf Ereignisse rekonstruieren und die Bewertung dem Lesenden überlassen. Man kann einer „Aufarbeitung“ aber auch den Charakter des endgültigen „Erledigens“ oder Beendens einer Diskussion geben und die Gefahr, eine „Aufarbeitung“ in diesem Sinne (miss-) zu verstehen, ist durchaus gegeben, auch wenn es oft nicht auf Dauer gelingt. Wenn im Folgenden von „Aufarbeitung“ gesprochen wird, so soll es in einem anderen Sinn verstanden werden: In dem hier dargestellten Zusammenhang wird es um die Notwendigkeit gehen, Tabuisiertes oder Verschwiegenes aufzudecken, um Menschen, die früher Unrecht, Demütigungen und Gewalt erleben mussten und die häufig auch noch selbst dafür verantwortlich gemacht wurden, darin zu unterstützen, sich zu rehabilitieren. Außerdem geht es dabei um die Analyse von Ursachen, die zu Machtmissbrauch in Institutionen führen können, in der Absicht, Möglichkeiten der Prävention für die heutige Praxis daraus abzuleiten.
Nationalsozialismus: Zwangssterilisierungen und Jugendkonzentrationslager
Im Rückblick auf die Geschichte der Erziehungshilfen des 20. Jahrhunderts ist die historische Phase des Nationalsozialismus mit Sicherheit diejenige, in der die größten Verbrechen an Kindern und Jugendlichen begangen wurden: Zwangssterilisationen, Verlegungen von „Erbkranken“ und „Unerziehbaren“ in Arbeits- und Jugendkonzentrationslager, die Ermordung von behinderten, psychisch kranken und „nicht-arischen“ Kindern und Jugendlichen in Heimen. Hinzu kam eine Pädagogik, die auf Härte und „blinden“ Gehorsam setzte, drastische Körperstrafen und militärische Umgangsformen propagierte. Zwar war auch die Heimerziehung der Weimarer Republik häufig durch eine strenge Arbeits- und Gehorsamkeitserziehung gekennzeichnet, aber die ideologische Rechtfertigung sowie die öffentliche Legitimierung und Ausübung von Gewalt gegen Kinder stand in der Zeit zwischen 1933 und 1945 besonders im Vordergrund (Peukert 1985, Kuhlmann 1989). Viele der Betroffenen sind in der Nachkriegszeit und auch später nie zu ihrem Recht gekommen, haben nie Entschuldigungen oder gar Entschädigungen erhalten, häufig auch nicht gefordert, weil sie sich noch lange für ihre angebliche Minderwertigkeit schämten. Erst in den 1990er-Jahren wurden kleinere Beträge an in Heimen zwangssterilisierte Jugendliche gezahlt und einzelne Entschädigungen für Euthanasieopfer beschlossen, die jedoch bis heute unzulänglich sind. Es gehört zur „zweiten Schuld“ (Giordano 1987) Deutschlands, dass viele Verbrechen der Nationalsozialisten vor allem in der Nachkriegszeit nicht hinreichend aufgearbeitet und die Opfer nicht oder erst viel zu spät anerkannt wurden.
Die 50er- und 60er-Jahre: Schläge, Demütigungen, Wegsperren
Bis in die 1970er-Jahre brauchten die Menschen der Bundesrepublik, um sich in einer Art „antiautoritärem Befreiungsschlag“ von der Selbstverständlichkeit harter und oft „schwarzer“ Pädagogik zu emanzipieren (vgl. Kuhlmann 2013: 81 ff. und 159 ff.), die als langer Schatten aus der NS-Zeit in die 50er- und 60er-Jahre wirkte. Erst durch die 68er-Bewegung und das langsame Umdenken hin zu einem partnerschaftlichen und gewaltfreien Erziehungsstil wurde es möglich, auch die Nachkriegszeit kritisch in ihren Kontinuitäten aus der NS-Zeit zu betrachten. Aber es brauchte wieder mehr als eine Generation, bis liberale Erziehungsvorstellungen auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen waren, und erst da wurde es möglich, auch die Heimerziehung der Nachkriegszeit zum Skandal zu machen.
Was ab 2005 in den Medien zur Aufarbeitung dieser historischen Phase geschah, führte zu einer neuen Dimension im Umgang Sozialer Arbeit im Allgemeinen und der Erziehungshilfe im Besonderen mit ihrer Geschichte. Heimträger blickten bis dahin mit Stolz in ihre Vergangenheit, die als Kontinuität christlicher oder solidarischer Hilfeleistung an Bedürftigen verstanden wurde, mit dem „dunklen Kapitel“ der NS-Zeit hatten sie in ihrer Wahrnehmung nicht viel zu tun. Diese Einstellung zur eigenen Geschichte sollte sich nun ändern. Erstmals beschwerten sich ehemalige „KlientInnen“, d. h. frühere Kinder und Jugendliche aus Heimen, in großer Zahl und unter Anteilnahme einer großen Öffentlichkeit (Wensierski 2006). Plötzlich sahen sich Jugendamts- und Heimleitungen, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Institutionen mit erwachsenen Menschen in der zweiten Lebenshälfte konfrontiert, die ihre Akten, oft auch Entschuldigungen, manchmal Entschädigungen von ihnen verlangten.
Die massiven Vorwürfe bezogen sich auf willkürliche Herausnahme aus der Familie mit der unspezifischen Diagnose (drohender) „Verwahrlosung“, harte Körper- und Isolationsstrafen im Heim, Zwang zur Arbeit und demütigendem Umgang mit Bettnässern, aber auch mit „Ungehorsam“. Dies führte neben politischen Aktivitäten (bspw. die Einrichtung des Runden Tisches Heimerziehung) auch zu neuen Forschungen, die den Anspruch erhoben, die Heimerziehung der 50er- und 60er-Jahre historisch „aufzuarbeiten“, erstmals auch unter Bezug auf die rückblickenden Erinnerungen der damaligen Kinder und Jugendlichen. Daneben wurden die wichtigsten Quellen aus Kirchen-, Ver- bands- und Behördenarchiven gesichtet, und zusammengenommen ergibt sich heute ein Bild der Zustände der Heimerziehung in der Nachkriegszeit, das massive Menschenrechtsverletzungen deutlich macht. Gründe werden gesehen in dem systematischen Zusammenspiel aus physischen und psychischem Nachkriegselend, Personalmangel, negativem Menschenbild, autoritärem Erziehungsverständnis und mangelnder Heimaufsicht. Dies führte zu einer Erziehungspraxis in der Mehrheit der Heime aller Träger (Länder, Kommunen, Kirchen, AWO etc.), für die man sich heute entschuldigen sollte.* Diese Entschuldigungen folgten in der Regel im Anschluss an die Dokumentation der Missstände vonseiten der einzelnen Träger (etwa des LVR Rheinlands oder der EKD). Am Runden Tisch wurde schließlich ein Fonds beschlossen, aus dem seit 2012 auch Entschädigungszahlungen und Therapieleistungen nach Prüfung des Einzelfalls gezahlt wurden.
Heimerziehung in der DDR: Umerziehung Schwererziehbarer in Spezialkinderheimen
Die Aufarbeitung der Heimerziehung in der ehemaligen DDR verlief nicht parallel zur Entwicklung in der Bundesrepublik, da die Heimerziehung insbesondere im Rahmen der Spezialheime auch als Ausdruck des DDR-Unrechtsregimes interpretiert wurde. Interessant ist der Befund der neueren Forschung, dass in der Sozialistischen Besatzungszone (SBZ) und später auch in der DDR die Strukturprinzipien und Konzepte einer diktatorischen und spezifisch nationalsozialistischen Jugendhilfe deutlicher und länger erhalten blieben als in der BRD, insbesondere was die Verstaatlichung der Jugendarbeit, die politische Indoktrination pädagogischer Institutionen, die Einrichtung von Heimen zur „Sichtung“ der Kinder (Beobachtungsheime) wie auch die „Arbeitserziehung“ von „Bummelanten“ betrifft.** Bis 1989 gab es neben den Säuglings- und „Normalkinderheimen“ sog. „Spezialkinderheime“ (3–14 Jahre) und „Jugendwerkhöfe“ (14–18 Jahre) für „Schwererziehbare“. Schwererziehbar war nicht nur derjenige, der aggressiv war, die Schule schwänzte oder bei der Arbeit „bummelte“, sondern auch, wer einer „westlich“ orientierten Jugendkultur angehörte, Beat- oder Punkmusik hörte, den Staat kritisierte oder sich nicht „in das Kollektiv“ einfügen wollte – was immer dies auch meinte. Diese Kinder und Jugendlichen sollten „umerzogen“ werden zur sozialistischen Persönlichkeit, ein Ziel, das autoritäre Praktiken legitimierte (Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer (Hg.) 2012, Sachse 2013). Christliche Heime wurden nicht mehr belegt oder erhielten so wenig Pflegegelder, dass sie ihre Arbeit aufgeben mussten. Die allermeisten Heime waren in der DDR verstaatlicht. Obwohl die Körperstrafe in pädagogischen Institutionen schon gleich nach 1945 abgeschafft wurde, kam es nach Berichten der aufsichtführenden Behörden, aber auch nach Zeitzeugenberichten sehr häufig zu körperlichen Übergriffen, ebenso ist sexueller Missbrauch in DDR-Heimen geschehen.
Fakt ist, dass in der sozialistischen Heimerziehung teilweise ähnliche Strafen und demütigende Umgangsweisen praktiziert wurden wie in der BRD, insbesondere in den „Endstationen“ der Jugendhilfe (vgl. Benad/Schmuhl/Stockhe- cke 2009), die es auch in der DDR gab. Auch hier ist ein Zusammenspiel aus Personalmangel, negativem Menschenbild und autoritärer Erziehungsvorstellung ursächlich, trotz unterschiedlicher politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen. Insbesondere im Jugendwerkhof Torgau, der „Endstation“ der DDR-Jugendhilfe für „Dauerentweicher“ oder besonders Oppositionelle, kam es nach Aussagen ehemaliger Jugendlicher zu strengen Isolationsstrafen und Übergriffen (Blask 1997).
Heimerziehung in den 70er- und 80er-Jahren: Heimreform, aber auch sexuelle Gewalt
Während körperliche Übergriffe in Heimen – trotz der beginnenden Heimreform – noch bis in die 80er-Jahre in manchen Heimen zur legitimierten Erziehungspraxis gehörten und daher auch öffentlich stattfanden, fand sexueller Missbrauch zu allen Zeiten vorwiegend im Geheimen statt (Kappeler 2011). Selten hat man daher den Opfern, meistens den Tätern geglaubt, die teilweise aus pädophiler Neigung gezielt Heime als Betätigungsfeld suchten. Bekannt sind daher nicht nur Fälle aus den 50er- und 60er-Jahren, sondern leider auch besonders in den 70er- und 80er-Jahren (vgl. z. B. Bestand des LJA Rheinland „Besondere Vorkommnisse“, Wolf 2010: 543 f.). Vom Typus her waren die Täter gerade in dieser Zeit nicht mehr überwiegend sexuell verklemmte Geistliche, sondern auch antiautoritäre, selbsternannte „Aufklärer“. Insbesondere in der Umbruchzeit der Heimskandale und Revolten um 1970 ist es neben Vernachlässigungssituationen auch vermehrt zu missbräuchlichen Situationen gekommen, die bereits damals kritisch reflektiert, aber nicht eindeutig genug verurteilt wurden (Gothe/Kippe 1970: 182, Gothe/Kippe 1975: 48). Dies ist ein weiteres „Kapitel“ in der Geschichte der Heimerziehung, das bis heute noch nicht hinreichend aufgearbeitet wurde. Denn was in der Odenwaldschule geschah, ist möglicherweise auch Praxis in der einen oder anderen Jugend- wohngemeinschaft gewesen. Ganz öffentlich hat damals die „Indianerkommune“ „freie“ Sexualität mit aus Heimen entlaufenen Minderjährigen propagiert und nur wenige Vertreter der Heimreform haben sich ebenso öffentlich von ihnen distanziert (vgl. dazu Spiegel 21.07.1980: 151).
Die Verantwortung heutiger Träger der Erziehungshilfe für ihre Geschichte
Unterstützung bei der biographischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte
Ehemalige Kinder und Jugendliche, die in den 50er- bis 70er-Jahren in Heimen lebten, haben nicht nur demütigende Strafen, Gewalt und Lieblosigkeit zu verarbeiten, sie wissen oft auch wenig, manchmal gar nichts über ihre Vergangenheit. Für die Menschen, die heute in der zweiten Lebenshälfte über ihre Kindheit und Jugend nachdenken, bedeutet die Möglichkeit von Gesprächen mit früheren Mitarbeitenden aus Ämtern, Erziehenden oder anderen Kindern aus ihren Heimen sowie die Einsicht in noch existierende Einzelfallakten eine Hoffnung auf Klärung existenzieller Fragen. Leider sind viele der gewünschten Informationen nicht mehr zu erhalten. Oftmals sind aus Datenschutz- oder Platzgründen und aus mangelndem Bewusstsein für die Bedeutung für die biographische Suche ehemaliger Kinder und Jugendlicher viele Akten vernichtet worden. Aber allein die Räumlichkeiten, die möglicherweise inzwischen einem ganz anderen Zweck dienen, haben für viele eine besondere Bedeutung. Lange Jahre waren sie der Lebensmittelpunkt von ehemaligen Kindern und Jugendlichen – verbunden mit schlechten, aber auch mit schönen Erinnerungen. Diese Orte zu besuchen sollte möglich sein, andere Ehemalige dort zu treffen, ebenfalls.*** Es wäre wünschenswert, wenn die heutigen Träger der ehemaligen Heime einen Ansprechpartner für die Ehemaligen benennen, der nicht nur bei der Suche nach möglichen Akten und bei der Lektüre unterstützen kann, Besichtigungsmöglichkeiten und Ehemaligentreffen organisiert, sondern auch für Bedingungen sorgt, dass dies in einer wertschätzenden Atmosphäre geschieht.
Festschriften überarbeiten: eine neue Erinnerungskultur in Heimen und Ämtern schaffen
Aber nicht nur für die Betroffenen sind die Kontakte zu den Heimen, in denen sie aufwuchsen, oder zu den Ämtern, die Entscheidungen über ihr Leben fällten, wichtig. Sie sind auch für die Träger selbst wichtige Zeitzeugen. Denn auch wenn sie teilweise Negatives zu berichten haben, so gehören auch diese Anteile in die Chroniken der Institutionen. Das erfordert eine Veränderung der bisherigen Erinnerungskultur: weniger konzentriert auf die Leistungen der Gründer und Anstaltsleitungen, der Bauvorhaben, Platzzahlen und Finanzen, mehr bereit, den Geschichten der Kinder und Jugendlichen Raum zu geben, die in diesen Institutionen lebten, aufwuchsen und arbeiteten. Mit dieser Perspektive werden auch Fragen nach den damals im Erziehungsdienst Tätigen aufgeworfen, die ebenfalls häufig unter den Zuständen in den Heimen litten. Es reicht nicht, sich von den „dunklen Kapiteln“ der eigenen Geschichte abzugrenzen, um auf dieser Hintergrundfolie die heutige Praxis umso leuchtender hervorzuheben. Bevor nicht verstanden wird, welche Strukturen zu Übergriffen führten und immer wieder führen können, ist die Geschichte nicht „aufgearbeitet“.
Umgang mit sexuellem Missbrauch
Während der Runde Tisch Heimerziehung direkte Schmerzensgeldzahlungen für Arbeitszwang und physische Gewalt von den einzelnen Heimen nicht emp- fohlen hat, sondern eine Auszahlung von Rentenbeiträgen und Finanzierung von Therapien über regionale Anlaufstellen in die Wege leitete, kam der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch zu der Ansicht, dass im Fall von sexuellem Missbrauch in Institutionen die einzelnen heutigen Träger auch direkte Schmerzensgelder zahlen sollten. Den ehemaligen Heimträgern wächst daher, wenn es in ihren Einrichtungen in der Vergangenheit zu sexuellen Übergriffen von Mitarbeitern oder sexueller Gewalt von Jugendlichen an Kindern gekommen ist, eine besondere Aufgabe zu. Der Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch rät zur Zahlung von Schmerzensgeldern, die von der Höhe her erkennbar eine „ernstgemeinte Geste“ sein und gemäß der heutigen Schmerzensgeldtabelle berechnet werden sollten. Er rät von einer erneuten Überprüfung des Sachverhaltes des Missbrauches ab, wenn er bereits von einer der einzurichtenden Clearingstellen festgehalten wurde, und empfiehlt, dass die Hürden der Anerkennung deutlich geringere sein sollten als vor Gericht (Abschlussbericht Run- der Tisch Sexueller Kindesmissbrauch 2011: 17 f.).
Öffentlich darüber zu berichten, dass in der eigenen Einrichtung Missbrauch möglich war, ist für die Heime nicht leicht. Es ist aber zugleich ein Schritt in Richtung Prävention für heute, da potenzielle Täter wahrnehmen, dass sich hier eine Institution mit dem Thema auseinandersetzt und daher auch neue Verdachtsfälle besonders nachdrücklich untersuchen wird.
Fazit
Pädagogisches Handeln ist immer zeitgebunden. Aufarbeitung der Geschichte bedeutet auch, nicht vorschnell die früheren Heime zu verurteilen, sondern sie im Licht zeitgenössischer Erziehungsvorstellungen zu bewerten – ohne sie damit zu rechtfertigen. Für die heutige Praxis muss vermieden werden, dass alte Strafformen in neuem Gewand und mit modernen Namen wieder auf Akzeptanz stoßen. An den Übergriffen, die früher geschahen, aber auch heute noch geschehen, lernen wir, dass insbesondere geschlossene Systeme dazu neigen, Gewalt und Gegengewalt zu produzieren. Transparenz, eine offene Kommunikationskultur, Wertschätzung und Fortbildung der Erziehenden und institutionalisierte Kontrolle von außen (durch direkten Kontakt zu Ombudsmännern und -frauen) sind dabei ebenso wichtig wie besondere Vorsicht im Umgang mit Time-out-Räumen und eine Ablehnung von „Therapiemaßnahmen“, in denen autoritäre Erziehungsvorstellungen enthalten sind (vgl. die Menschenrechtsverletzungen in der Haasenburg).
Beziehungsaufbau kommt vor Erziehung, das wusste schon Pestalozzi und ist in einer Vielzahl von Evaluationen bestätigt worden. Nichts bestimmt so sehr den Erfolg einer Erziehungshilfe wie das Gelingen einer guten, exklusiven und längerfristigen Beziehung, in der auch Traumata und belastende Lebenssituationen aufgearbeitet werden können (Kuhlmann 2009).
Leerstellen und „blinde Flecke“ in der Aufarbeitung der Geschichte gibt es trotz des befriedigenden Forschungsstandes zu den 50/60er-Jahren in der BRD heute noch, vor allem in Bezug auf einzelne Träger und Einrichtungen. Daneben sind auch die Fachdiskurse wenig aufgearbeitet, z. B. zum Verhältnis von Behinderung und Fürsorgeerziehung oder zur Heimerziehung in der DDR außerhalb der Spezialkinderheime. Am wenigsten erforscht ist bisher die Haltung zur Pädophilie in der Zeit der Heimreform. Aufarbeitung „dunkler Kapitel“ ist unbequem. Man möchte zur Tagesordnung übergehen, denn es gibt wichtigere, aktuellere Probleme. Vorgeblich haben alle aus der Geschichte gelernt. Aber wie wird das historische Wissen in eine Tradition kritischer Reflexion der eigenen Praxis überführt? Tabuisiert werden bis heute häufig sexuelle Übergriffe und Gewalt in den Einrichtungen. Aufarbeitung in dem eingangs vorgeschlagenen Sinn würde hier bedeuten: eine Kultur der Erinnerung aus Sicht der ehemaligen Heimkinder zu etablieren und aus die- sen Erinnerungen zu lernen, gerade, wenn es schmerzhafte Erinnerungen sind.
Fußnoten
* Landeswohlfahrtsverband Hessen 2006; Kuhlmann 2008, Benad/Schmuhl/Stockhecke 2009, Pötzsch 2009, Landschaftsverband Rheinland (LVR) 2010, Damberg/Frings/Jähnichen/Kaminsky 2010, Schrapper 2010, Runder Tisch Heimerziehung 2010, Kuhlmann 2011, Arbeitskreis zur Auf- arbeitung der Heimerziehung im Land Bremen (AK) 2012), Frings/Kaminsky 2012, Kraul 2012.
** Das mag auch an der speziellen Entnazifizierung liegen, da in der SBZ ehemalige NS-Parteimit- glieder als entnazifiziert galten, wenn sie Mitglied einer Partei oder Organisation der Nationalen Front wurden (vgl. Waibel 2011).
*** Nach Erikson gehört zur Lebensaufgabe des alternden Menschen, die bisherigen Lebensphasen zu integrieren, sich mit ihnen zu versöhnen. Dies ist nicht ohne die Auseinandersetzung auch mit dem nicht Gelungenen möglich und besonders schwer, wenn wichtige Ereignisse und Hintergründe der Biographie (etwa, warum man ins Heim kam) im Dunklen bleiben.
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