Rechte und Pflichten

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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Dem gegebenen (auch pädagogischen) Alltagsverständnis gilt als unhinterfragt, dass, wer Rechte hat, auch Pflichten habe. Doch was in durch Reziprozität gekennzeichneten lebensweltlichen Zusammenhängen als moralische oder traditionelle, normative oder kulturelle Verpflichtung gerechtfertigt sein mag, gilt nicht gleichermaßen im durch Rechte konstitutierten Verhältnis von Bürger_innen und Staat, wie es sich in der Moderne entwickelt hat.

Die hier gemeinten bürgerlichen, politischen und sozialen (Teilhabe-)Rechte sind noch vergleichsweise jung und haben sich erst über die letzten drei Jahrhunderte entwickelt bzw. wurden erkämpft. T.H. Marshall (1949/1992) hat diese zum modernen Wohlfahrtsstaat führende Entwicklung als Abfolge und Ausweitung individueller staatsbürgerlicher Rechte, welche alle Staatsbürger, egal welcher Klassenzugehörigkeit – und man kann ergänzen: zunehmend egal welchen Geschlechts und welchen Alters – zu formal Gleichen und Anspruchsberechtigten macht, beschrieben. Mit den in diese Rechte eingeflossenen sozialdemokratischen Ideen ausgleichender Gerechtigkeit und Solidarität „erweist sich der europäische Wohlfahrtsstaat als eine der wichtigsten (und prinzipiell akzeptiertesten – d. V.) Innovationen des letzten Jahrhunderts. Im weiteren Sinne trug er zu einer Transformation der Sozialordnung bei, indem er das reine Marktmodell verwarf und ein sekundäres Verteilungssystem entwickelte (…) Damit wirkte er nicht nur als Sicherungsinstitution, sondern strukturierte Lebensverläufe und Lebenslagen im umfassenden Sinne“ (Mau/Verwiebe 2009: 48) – insbesondere in der Phase seiner Ausweitung, in den heute so bezeichneten „30 goldenen Jahren“ nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die politische Einbeziehung von Personen erfolgt dabei im nationalstaatlichen Kontext „über den Zugang zu Mitgliedschaft (Rechte), die in der Regel an die Zugehörigkeit zu einer vorgestellten Gemeinschaft (…) gekoppelt ist. Als Brückenmodell bietet die Inklusion in das politische System den Zugang zu anderen Anrechten. Das Modell beruht auf politischer Demokratie einerseits und der Universalität des Zugangs zu den Anrechten im Wohlfahrtsstaat (wie Bildung, Medizin, soziale Gewährleistungen) andererseits. Aus diesem Grund wird von doppelter Inklusion gesprochen, nämlich in das politische System und in die Leistungsberechtigung (vgl. Stichweh 1998: 544)“ (Wobbe 2009: 8). Mit der – je unterschiedlichen – nationalstaatlichen Umsetzung der Idee der Sozialstaatlichkeit ist auch bereits klar, wer nicht in gleichem Maße profitiert: der/die jeweilig nicht Staatsangehörige.

Parallel und z. T. verwoben mit diesen nationalstaatlichen Entwicklungen wurden 1948 auf internationaler Ebene der Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMr) sowie das Abkommen über „Bürgerliche und Politische Rechte“ und der Sozialpakt über „Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (beide 1966) verabschiedet. Diese rechtlichen Konventionen haben aus sich heraus aber keine bindende Gesetzeskraft, sondern allenfalls eine moralische und bedürfen der nationalstaatlichen Ratifizierung. Gleiches gilt auch für die europäische „Charta der Grundrechte“ und der Unionsbürgerrechte, die, nachdem die letzten Staaten (Polen, Irland) den Vertrag ratifiziert haben, am 01.12.2009 in Kraft getreten sind, und die neben den klassischen Bürgerrechten den Verbraucher- und Datenschutz, ein Recht auf gute Verwaltung und weitgehende Rechte von Kindern, Behinderten, Alten sowie „würdige Arbeitsbedingungen“ und kostenlose Arbeitsvermittlung ebenso garantiert, wie sie weitgehende Diskriminierungsverbote enthält (vgl. Peters 2010: 119 f.).

Ungeachtet der je rechtsphilosophischen Begründungen war bis gegen Ende der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts im Prinzip unstrittig, dass es bei den vorstehend geschilderten Rechten und Konventionen um individuelle Freiheits- und Abwehrrechte gegenüber dem Staat bzw. um (individuelle und kollektive) Teilhaberechte ging, denen prima facie keine konkreten Pflichten des Einzelnen, außer denen, sich im Rahmen der Gesetze und einer pluralen Moral bzw. einer demokratischen Ethik der Anerkennung des Anderen zu bewegen, gegenüberstanden.

Ironischerweise ist es die europäische Sozialdemokratie, die einst den modernen Wohlfahrtsstaat mit etablierte, mit dem Ideengeber T. Blair, die auf die „geistig moralische Wende“ und dem damit verbundenen Angriff auf den Wohlfahrtsstaat der westlichen Konservativen (Reagan, Thatcher, Kohl) mit dem Modell des „Dritten Weges“ und des „aktivierenden Staates“ den bisherigen wohlfahrsstaatlichen Konsens infrage stellte, weil sie sich gegenüber der „neuen Mitte“ öffnen wollte, um wieder mehrheitsfähig zu werden. „Die Blairschen Reformvorstellungen kristallisieren sich im Begriff des New Deal. (…) Zum einen knüpft er an die Rooseveltsche Reform des Wohlfahrtsstaates an. Von dort ist das Wort übernommen worden und damit die Färbung, dass es sich bei den Reformen um einen Gestaltwandel des Systems handelt. Zum anderen verweist der Terminus auf einen (…) neuen Gesellschaftsvertrag: Rechte und Pflichten zwischen Staat und Bürgern und zwischen Bürgern werden auf eine neue Grundlage gestellt. (…) Darüber hinaus benennt das Wort New Deal auch die konkrete Beziehung zwischen Sozialverwaltung und Klient (…): Zwei Partner – der Staat als Leistungsanbieter und der individuelle Bürger als Leistungsnehmer – schließen eine Vereinbarung mit wechselseitigen Rechten und Pflichten, einen Deal, ab.“ (Leisering/Hilkert 1999: 12 f.)

Forderungen nach Gleichheit ebenso wie redistributive Wohlfahrtspolitiken erscheinen bestenfalls noch als schwaches Echo eines nun „erloschenen historischen Projekts“ (Giddens 1997). Was übrig bleibt, ist die Frage sozio-kultureller Integration und Ausschließung als die dominante Form der Problematisierung von „Ungleichheit“ in diesem Projekt, verbunden mit der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft, die das Interesse an einer Überwindung von Armut primär durch Erwerbsarbeit und (hohes und kontinuierliches) Einkommen teilt, sowie ein neues, kommunitaristisch beeinflusstes Verständnis von Rechten und Pflichten (vgl. Peters 2008: 55 ff.). In einer Gesellschaft, die auf Pflichten aufbaut, soll allen Gelegenheit gegeben werden, ihren Teil, der ggf. auch eingefordert wird (vgl. das Prinzip „Fördern und Fordern“), beizutragen. „Pflicht ist der Eckpfeiler einer anständigen Gesellschaft (…) Sie definiert den Kontext, in dem Rechte verliehen werden (…) Die Rechte, die wir empfangen, sollten den Pflichten entsprechen, die wir schuldig sind.“ (Blair 1995 zit. nach Dwyer 1998: 499) Und an anderer Stelle: „Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, die auf dem Begriff wechselseitiger Rechte und Verantwortlichkeiten gründet, was nichts anderes ist als ein moderner Begriff von sozialer Gerechtigkeit. Als Gesellschaft nehmen wir die Verpflichtung an, jedem einzelnen die Teilhabe an ihrer Zukunft zu gewähren. Und im Gegenzug nimmt jeder einzelne die Verantwortung auf sich, diese zu erwidern, und daran zu arbeiten, besser zu werden.“ (Blair 1996 – zit. nach MacIntyre 1999: 125)

Noch weitergehender ist die Forderung (1997) des „InterActionCouncil“ (IAC), einem selbstlegitimierten Zusammenschluss ehemaliger Staatsmänner und -frauen unter Ehrenvorsitz von Helmut Schmidt, eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ als Ergänzung der „Allgemeinen Menschenrechtserklärung“ international zu verabschieden. Dabei fällt auf, dass es hier insbesondere „Pflichten gegen sich selbst, positive Hilfs- und Schutzpflichten gegenüber anderen und Pflichten gegenüber Gemeinschaften sind, die den Ton angeben. Schon dadurch wird die Stoßrichtung der Pflichtenerklärung deutlich, die sich gegen die individuellen Freiheitsrechte der AEMr wendet und sie eben nicht ergänzen, sondern korrigieren will“ (Lohmann 1997: o. S.). Glücklicherweise ist dieser Vorschlag international nicht auf die politische Agenda gekommen, aber es zeigt den veränderten „Zeitgeist“, der sich dann deutlich in den sog. Hartz-Gesetzen und im SGB II in Deutschland niederschlägt. Eine solche Verschiebung der Prämissen der Grundlagen sozialstaatlichen Handelns legt eine Reformulierung der Sozialpolitik nahe, die von einer Neu-Definition „sozialer Probleme“ in Form von personen-, verhaltens- bzw. „dispositionsbezogenen“ Problematisierungen begleitet wird und in der programmatischen und zugleich legitimatorischen Formel vom „Fördern und Fordern“ ihren Ausdruck findet, die zwischenzeitlich weit über ihren Ursprungskontext hinaus in die sozialpädagogische Profession und Praxis hinein wirkt. Eine besonders pikante Variante stellt dabei die Überlegung dar, dass dem Recht des Kindes auf Erziehung, seine Pflicht, sich erziehen zu lassen (und dabei aktiv mitzuwirken), gegenüberstehe.

Zwei, zugegeben konstruierte, aber nahe an wahren Begebenheiten angelehnte Beispiele aus der Kinder- und Jugendhilfe, die beide vermeintliche Mitwirkungspflichten anspruchberechtigter Hilfeempfänger thematisieren, mögen das Gemeinte illustrieren: In einem Hilfeplangespräch, an dem Eltern, die Fachkraft eines Freien Trägers einer Wohngruppe, die zuständige Sozialarbeiterin des ASD sowie der gerade 18-jährig gewordene Sven teilnehmen, wurde einvernehmlich beschlossen, die Hilfe in der betreuten WG fortzuführen. In diesem Gespräch kam auch die Berufsorientierung des Jugendlichen zur Sprache und seine Einlassung wurde auch wörtlich protokolliert. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Die Hilfe wurde – aufgrund einer Intervention der ASD - Leitung, der stationäre Hilfegewährungen vorzulegen sind – nicht weiter gewährt, weil dem Jugendlichen vorgehalten wurde, er „sei sich zu sicher“ in seinen Äußerungen zu seinen Berufswünschen, zu dogmatisch und unrealistisch und nicht willens, Hilfen zur Berufsorientierung seitens der ARGE anzunehmen, was er allerdings schon einmal gemacht hatte.

Die 16-jährige Lea geht seit geraumer Zeit unregelmäßig zur Schule; sie hält sich stattdessen in einem besetzten Haus auf. Ihre Erzieher_innen, die wissen, wo Lea sich aufhält, versuchen nachweislich mehrfach, auch unter Hinweis darauf, dass Schulbesuch Pflicht in ihrer Einrichtung sei und die Schwierigkeiten in der Schule ja auch schon mit ein Grund für die Heimunterbringung gewesen seien, auf sie einzuwirken, wieder zur Schule zu gehen. Lea setzt ihr Schulschwänzen jedoch fort und bleibt auch schon mal über Nacht im besetzten Haus, woraufhin die Einrichtung in Absprache mit dem zuständigen ASD Lea nach Hause entlässt. Eine Anschlusshilfe wird nicht gewährt.

In beiden Fällen wird auf die Verletzung der Mitwirkungsverpflichtung hingewiesen, womit die Voraussetzungen für eine (weitere) Hilfe entfallen. Kein Einzelfall, wie in den letzten Jahren immer mal wieder zu hören oder zu lesen ist: „Die Familie bzw. XYZ erfüllt die Pflicht der Mitwirkung nicht. Die Hilfe wird beendet.“, heißt es da lapidar. Basta! Zwar reiht sich die Kinder- und Jugendhilfe mit solchen oder ähnlichen Formulierungen und Entscheidungen in die o. a. Responsibilisierungspolitiken ein, verstößt aber gegen Geist und Buchstaben des einschlägigen Gesetzes (SGB VIII), wie ein Blick darauf (s. w. u.) ebenso zeigt wie diese Sachverhalte darauf verweisen, dass im pädagogischen Alltag die Normierungsmacht der Politik und des politischen Willens den gesetzlichen Vorgaben oftmals überlegen sind. Wenn in Kontexten, wie in den Beispielen angedeutet, gesagt wird, XYZ erfülle die Pflicht zur Mitwirkung nicht, sind gerade nicht die allgemeinen Regelungen des SGB I gemeint, denn die „allgemeine Mitwirkungspflicht“ (§ 36) ab 15 Jahre bezieht sich inhaltlich auf die „Feststellung von Sachverhalten“ bezüglich des Vorliegens eines Anspruchs (§ 60); auch um „Einsichtnahme“ (§ 26 VwVfG), die evtl. einen Hausbesuch legitimieren kann, geht es nicht. Es geht inhaltlich um die Verpflichtung, „an sich selbst zu arbeiten, sich zu optimieren“ (s. o.) und wer da nicht mitmacht oder nicht so mitmacht, wie das im jeweiligen Setting eines Amtes oder einer Einrichtung „konzeptionell“ vorgesehen ist, fällt – schon aus Gründen des rationellen Mitteleinsatzes – raus – und/oder wird ggf. unter Anwendung von Sanktionen/Zwangsmaßnahmen zur Raison gebracht.

Ein Blick ins SGB VIII zeigt jedoch, dass hier Leistungsansprüche und Rechte und nicht Pflichten geregelt sind: In § 27 Abs. 1 SGB VIII wird das Recht der Personensorgeberechtigten auf individuelle Hilfe beim Vorliegen der entsprechenden juristischen Tatbestandsvoraussetzungen geregelt, die allgemein als erzieherischer Bedarf, Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe erfasst werden. Und in § 41 SGB VIII wird der Rechtsanspruch von jungen Volljährigen auf Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung formuliert. Auch in anderen Teilen des SGB VIII werden in Bezug auf sozialpädagogische Leistungen Rechtsansprüche und Beteiligungsrechte geregelt, jedoch keine Pflichten. Programmatisch steht zu Beginn des SGB VIII der § 1, in dem das Recht der jungen Menschen auf Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit geregelt ist. Grundsatz ist hier also die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit bei ungleichen und benachteiligenden individuellen und sozialen Lebensbedingungen und Problemlagen sowie die allgemeine Förderung des Aufwachsens von jungen Menschen, die Ausstattung durch geeignete Angebote der Kinder- und Jugendhilfe. Der Begriff der Pflicht findet sich in § 1 SGB VIII (als Übernahme aus dem Artikel 6 des GG) und bezieht sich auf das Recht und die Pflicht der Eltern bei der Pflege und Erziehung der Kinder, über welche ja bekanntermaßen die staatliche Gemeinschaft wacht. Erfüllen die Eltern ihre Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder – aus welchen Gründen auch immer – nicht, haben sie gerade deshalb einen Rechtsanspruch auf Hilfe in Form sozialpädagogischer Leistungen. Es wäre also paradox, die fehlende Pflichterfüllung als Begründung für die Nichtgewährleistung bzw. Einstellung von Hilfen anzuführen, gerade dann, wenn es darum geht, minderjährige junge Menschen zu fördern oder zu schützen. Vergessen wird bei einem Versagen von Leistungen wegen „mangelnder Mitwirkung“, dass Leistungen der Kinderund Jugendhilfe ausschließlich die Förderung und Erziehung von jungen Menschen im Fokus ihrer Bemühungen haben. Die entsprechenden Leistungen sind als Sozialisationsangebote sowie als konkrete Hilfen in krisenhaften Lebenssituationen nicht an eine formale Mitwirkung(-spflicht) der Personensorgeberechtigten sowie der Kinder und Jugendlichen gekoppelt. Dies gilt auch für § 36 SGB VIII – das Recht der Personensorgeberechtigten sowie der Kinder und Jugendlichen auf Mitwirkung in und Beteiligung an Hilfeplankonferenzen und deren Entscheidungen im Fall der Hilfen zur Erziehung betreffend. Die Beteiligungsrechte im SGB VIII haben den Sinn, die Personensorgeberechtigten sowie die Kinder und Jugendlichen als Akteure ihres eigenen Hilfeprozesses sowie innerhalb der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wahrzunehmen. Diese Rechte können sie in Anspruch nehmen, müssen aber nicht. Beispielsweise können Hilfekonferenzen gem. § 36 SGB VIII durchaus ohne die Personensorgeberechtigten sowie die Kinder und Jugendlichen stattfinden und im Ergebnis kann durchaus eine Hilfe gewährt bzw. fortgesetzt werden. Die Personensorgeberechtigten sowie die Kinder und Jugendlichen haben auch nach der Hilfekonferenz das Recht, diese Hilfe abzulehnen und damit selbst und aktiv den Hilfeprozess zu beenden. Oder sie beantragen die entsprechende Leistung dann auch formal bzw. in modifizierter Form gemäß ihren eigenen Vorstellungen (Wunsch- und Wahlrecht).

Was hat es also mit der Hervorhebung einer Pflicht der Personensorgeberechtigten sowie der Kinder und Jugendlichen zur Mitwirkung in Verfahren der Leistungserbringung der Kinder- und Jugendhilfe auf sich? Zunächst könnte angeführt werden, dass z. B. mit der mangelnden Mitwirkung am Hilfeplanverfahren und an der Entwicklung von Vorhaben und Zielen von fachlicher Seite eine Nichterreichbarkeit der Personensorgeberechtigten sowie der Kinder und Jugendlichen ausgedrückt wird. Das Hilfeplanverfahren erscheint von deren Seite nicht erwünscht und wird eher vermieden. Vor diesem Hintergrund wäre allerdings zu fragen, welche Bemühungen von fachlicher Seite unternommen werden, um diese Familien zu erreichen. Schließlich steht an jedem Beginn einer (sozial-)pädagogischen Intervention notwendigerweise die „Herstellung von Mitmachbereitschaft“. Fehlt diese, kann das als Indiz dafür gedeutet werden, dass das Hilfesystem bereits an Grenzen in der sozialpädagogischen Arbeit mit den Personensorgeberechtigten sowie den Kindern und Jugendlichen gestoßen ist und es gewissermaßen keine Hoffnungen mehr auf einen konstruktiven gemeinsamen Arbeitsprozess sieht. Die Reaktion, Verantwortung (oder auch Schuld) für diese Situation auf die Familien bzw. einzelne ihrer Mitglieder zu verlagern bzw. bei sog. „mangelnder Mitwirkung“ den Umgang mit diesen Familien – zumal in Fällen des Schutzes von Minderjährigen – in Richtung „striktes Kontrollhandeln“ zu verändern oder eine Nichtgewährung von Hilfe wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht zu legitimieren, verkehrt die Verhältnisse und Verantwortlichkeiten, macht aber deutlich, dass die Prämisse des „Förderns und Forderns“ aus dem SGB II Einzug in die Kinder- und Jugendhilfe gehalten hat. Der „aktivierende Staat“ verlangt generell von seinen Bürgern für den „Empfang“ sozialstaatlicher Unterstützung eine Gegenleistung (vgl. Rätz-Heinisch 2007). Warum dann nicht auch in der Kinder- und Jugendhilfe? Weil es falsch ist.

 

Literatur

  • Dwyer, P. (1998): Conditional citizens? Welfare rights and responsibilities in the late 1990s. In: Critical Social Policy, Vol. 4/Issue 2, pp. 232–255.
  • Leisering, L./Hilkert, B. (1999): Wohlfahrtsstaatsreform im Zeichen des Dritten Weges – das Beispiel aktivierender Sozialhilfepolitik unter Blair. Abschlussbericht für die Anglo-German-Foundation Projekt 1227 „Reforming social assistance in Britain“. Unveröffentlichtes Manuskript, Universität Bremen.
  • Lohmann, G. (1997): Müssen die Menschenrechte durch eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten ergänzt werden? Vortrag im Willy-Brandt-Haus v. 05.12.1997 (http://www.georglohmann.de/demokratie-menschenrechte.html, Zugriff am 18.06.2014).
  • MacIntyre, C. (1999): The stakeholder society and the welfare state: forward to the past! In: Contemporary Politics, Vol. 5, pp. 121–136.
  • Marshall, T. H. (1992): Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a. M.
  • Mau, S./Verwiebe, R. (2009): Die Sozialstruktur Europas. Konstanz.
  • Peters, F. (2008): Hilfen zur Erziehung in europäischen Modernisierungsprozessen. Frankfurt a. M.
  • Peters, F. (2010): EU-(Sozial-)Politik nach Lissabon und ihre Ausstrahlung auf die Kinder- und Jugendhilfe. In: Knuth, N./Koch, J. (Hg.): Hilfen zur Erziehung in Europa. Entwicklungen, Trends und Innovationen. Frankfurt a. M., S. 114–157.
  • Rätz-Heinisch, R. (2007): Soziale Arbeit und Bürgerschaftlichkeit. In: Hering, S. (Hg.): Bürgerschaftlichkeit und Professionalität. Wirklichkeit und Zukunftsperspektiven Sozialer Arbeit. Wiesbaden, S. 41–49.
  • Wobbe, T. (2009): Vom nation-building zum market-building. In: Mittelweg 36, Heft 3/ 2009, S. 3–16.