Responsibilisierung

aus: Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung. Düring, Diana et al. (Hrsg.) (2014)
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„Wenn in neueren sozialwissenschaftlichen Texten von ‚Responsibilisierung‘ die Rede ist, sind in der Regel politische Strategien gemeint, die darauf abzielen Individuen zur Verantwortung zu ziehen.“ (vgl. Oelkers/Richter 2009, Kessl 2013) Dabei steht weniger eine rückwärtsgewandte Zuweisung von Verantwortung und Schuld für die eigene aktuelle Lebenssituation („blame responsibility“) im Mittelpunkt, sondern vor allem die Zuweisung einer zukunftsgewandten Aufgabenverantwortung („task responsibility“, dazu: Goodin 1998). Diese intendiert, Individuen unter dem Signum von Eigeninitiative und Eigenverantwortung zu einer aktiven und engagierten Lebensführung zu aktivieren und zu mobilisieren, damit diese in einer gemeinwohlkompatiblen Weise für ihr eigenes Leben und Wohlergehen sorgen (vgl. Heidbrink 2006, Krasmann 2000). Responsibilisierung bezeichnet insofern eine Form der Zuweisung von Eigenverantwortung, die auf die Hervorbringung einer umsichtigen und aktiven Selbststeuerung der Subjekte ausgerichtet ist, indem sie „das Individuum auf sich selbst verweist und so zugleich seine Kräfte mobilisieren soll“ (Krasmann 2003: 11).

 

Verantwortung und Wohlfahrt

Auch wenn Responsibilisierung in diesem Sinn weniger die Feststellung von Verantwortung als vielmehr deren Hervorbringung (Verantwortlichmachung) meint (vgl. Oelkers/Richter 2009), ist diese Strategie eng mit einem Verständnis von Eigenverantwortung verbunden. Der Begriff der Eigenverantwortung spielt bei der Gestaltung wohlfahrtsstaatlicher Arrangements eine kardinale Rolle. In Begründungs- und Rechtfertigungsdiskursen verweist der Begriff auf nicht weniger als die Grenze des Bereichs der (unmittelbaren) Zuständigkeit der öffentlichen Institutionen des Sozialstaats. Wie weit der Bereich der zugeschriebenen Eigenverantwortung reicht, ist politisch umstritten und historisch wie national unterschiedlich – im eher residualen Wohlfahrtsstaat der USA bspw. ist er deutlich größer als im Kontext des schwedischen Folkhemmet.

In der Bundesrepublik spielt – im Kontext der Debatte um den Stellenwert der Eigenverantwortung – das Prinzip der Subsidiarität eine bedeutsame politische und ideologische Rolle: Zwar soll der Selbsthilfe prinzipiell Vorrang vor der Daseinsgestaltung durch staatliche Institutionen geben werden (Personalprinzip), trotzdem verneint das Prinzip der Subsidarität einen „beziehungslosen Individualismus“ und betont „die gegenseitige Abhängigkeit und die Bindung aller an der Gesellschaft“ (Höfer 2007: 951) (Solidarprinzip). Die je möglichst personennächsten Einheiten und Einrichtungen sind mit Unterstützungs- und Absicherungsleistungen zu betrauen, sollen aber von höheren Ebenen subsidiär unterstützt werden. Zwar ist das Subsidiaritätsprinzip als solches durchaus dazu geeignet „die Verantwortung für die Behebung/Vermeidung prekärer Lebenslagen vom Staat bzw. von einer größeren Gemeinschaft auf kleinere Einheiten oder das einzelne Individuum zu verlagern“ (Butterwegge 2007: 200), dennoch löst der bloße Rekurs auf das normative Subsidiaritätspostulat die Kontroverse um den Stellenwert der Eigenverantwortung nicht zwingend auf. Die Deutungen von Subsidiarität sind durchaus unterschiedlich und legen unterschiedliche Implikationen mit Blick auf das Verhältnis von individueller und kollektiver Verantwortung nahe. So weist etwa Christoph Sachße (2003: 212) darauf hin, dass „Subsidiarität in der Tradition des sozialen Katholizismus (…) den Auf- und Ausbau der spezifisch deutschen Form des Wohlfahrtsstaates legitimiert [habe] – und damit eine Ausweitung staatlichen Handelns“. Konservative wie Kurt Biedenkopf (2006) interpretieren Subsidiarität indes programmatisch als Forderung zur Eingrenzung staatlicher Verantwortung. Das Subsidiaritätsprinzip dient hier als Vehikel, um „die Ordnung des Sozialen vom Kopf wieder auf die Füße [zu stellen]. Freiheit in diesem Bereich heißt Vorfahrt für personale Solidarität und Begrenzung der staatlich organisierten Solidarität auf die Sicherung der Grundbedürfnisse“ (zit. nach Butterwegge 2007: 200 f.). Die mit dem Begriff der Responsibilisierung nahegelegte Priorisierung personaler Solidarität und Verantwortung vor einer staatlich organisierten Solidarität impliziert jedoch u. E. einen bemerkenswerten Bruch mit dem Entwicklungspfad einer klassisch wohlfahrtsstaatlichen Rationalität mit erheblichen Konsequenzen für das Professionalisierungsprojekt der Sozialen Arbeit.

 

Die soziale Regierung

Es ist sinnvoll, zunächst die Rationalitäten des Wohlfahrtsstaats als „soziale“ Regierungsform etwas genauer in den Blick zu nehmen. Deren Etablierung ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts war eng mit der Entwicklung verfeinerter sozialstaatlicher Verfahren verbunden, die Gefahren und Bedrohungen (wie z. B. Arbeitsunfälle, Invalidität, Armut etc.) nicht mehr nur als individuelles Schicksal, sondern in Form sozialer Regelmäßigkeiten sichtbar machten. Ohne auf individuelle Nachlässigkeiten oder moralische Dispositionen zu rekurrieren, lassen sich so soziale Risiken für die Gesamtpopulationen oder bestimmte Bevölkerungsteile bestimmen. Dieses – im 19. Jahrhundert zum Teil noch als „Sozialphysik“ beschriebene – Wissen ist eine wesentliche Grundlage für systematische (sozial-)politische Versuche der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Denn im Gegensatz zu Schicksalen, Gefährdungen und Problemlagen, die als unvorhersehbares Produkt individueller Unvorsicht oder Fehlentscheidungen verstanden werden, erweisen sich soziale Risiken als sozialtechnologisch bearbeit- und regulierbare Gegenstände. Die soziale Regierung im Sinne sozialtechnologischer Planung und Steuerung sowie gesellschaftlicher Totalisierungen und Prognosen lässt sich insofern nicht zuletzt als Folge einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Raphael 1996) im Sinne einer politischen Arithmetik als „Politik der großen Zahl“ (Desrosières 2005) verstehen, deren sukzessiver Niedergang nicht zufällig mit einer, von Alain Desrosières treffend beschrieben, Krise des statistischen Denkens einherging.

Für die soziale Regierung bilden institutionalisierte Sicherungssysteme und Unterstützungsstrukturen das Fundament einer standardisierten Form „administrativer Solidarität“ (vgl. Ewald 1993) zur Kollektivierung dieser Risiken vermittels „zwangsförmig“ (durch obligatorische Versicherungen und Abgaben) durchgesetzter wechselseitiger Anspruchsberechtigungen. Diese administrative oder staatlich organisierte Solidarität dient nicht nur der Absicherung der Einzelnen, sondern auch dazu, eine in Begriffen des Risikos konzipierte Wirklichkeit „regierbar zu machen oder unter veränderten Umständen regierbar zu halten. ‚Risiken‘ sind soziale Problematisierungen individueller Gefährdungspotentiale, und die ‚Versicherung‘ ist eine neue Form (…) der Regierung der Gefahren (die vorhersehbar und beherrschbar gemacht werden) wie auch der Menschen“ (Lessenich 2003: 84).

Die Rede von einer „Versicherungs-Gesellschaft“ (Ewald 1989), einem „Vorsorgestaat“ (Ewald 1993) oder einem „Sozialversicherungsstaat“ (Olk/Riedmüller 1994) verweist auf die Etablierung einer bürokratisch-administrativ organisierten, in Sozialversicherungs-, Versorgungs- und sozialen Fürsorgesystemen institutionalisierten, risikominimierenden sozialen Solidarität. Im Sinne eines staatlich vermittelten Reziprozitätsarrangements, das die wechselseitige Unterstützung der Sozialbürger über individuelle Risikoungleichheiten hinweg verallgemeinert, stellen sie ein zentrales Moment moderner Sozialpolitik oder, umfassender formuliert, einer Form des Regierens aus der Perspektive „des Sozialen“ (vgl. Rose 1996) dar. Das Prinzip der Subsidarität, dass in dieser Phase auch gesetzlich durch das JWG (1961) gestärkt wird, folgt hier in erster Linie einem solidarischen Verständnis subsidiärer Hilfe. Dabei werden dem religiös-moralischen Deutungsrahmen der ständischen Gesellschaft und der immer weniger zureichend erscheinenden klassisch liberalen Betonung des Moments der individuellen Verantwortung für das eigene Leben die Vorstellung einer kollektiven und öffentlich institutionalisierten sozialen Verantwortlichkeit entgegengesetzt. Die Leistungen des Wohlfahrtsstaates sind gar darauf gerichtet, „Individuen eine Lebensführung in Ausrichtung an den Inklusionsbedingungen von Funktionssystemen und Organisationen in einer Weise zu ermöglichen, die ihnen als selbstständige zugerechnet wird“ (Bommes/Scherr 2000: 143).

Diese Logik findet sich nicht nur im Sozialversicherungssystem, sondern auch im Bereich der personenbezogenen Wohlfahrtsproduktion und insbesondere der Sozialen Arbeit wieder, die sich der Bearbeitung individueller Probleme der Lebensführung von solchen Personen widmet, bei denen die klassischen wohlfahrtsstaatlichen Versicherungsleistungen nicht (mehr) greifen oder als unzulänglich gelten (dazu auch: Luhmann 1978: 117 f.) Als Bestandteil eines Regierens aus der Perspektive „des Sozialen“ scheint ein professionstypisches Moment der Sozialen Arbeit darin zu bestehen, zwar individuelle Lebensführungsproblematiken zu bearbeiten, dabei jedoch nicht „primär nach Schuld und Verantwortung, sondern nach individuell nicht zurechenbaren Ursachen und Gründen“ (Scherr 1998: 64–65) zu fragen. Ein entscheidender Unterschied zwischen der „vor-sozialen“ Armenpflege und der modernen Sozialarbeit ist gerade darin zu sehen, Problemlagen und abweichendes Verhaltens als „soziale“ (bzw. „sozialpathologische“), d. h. durch ungünstige und benachteiligende Lebenssituationen begründete Phänomene und weniger als Ausdruck moralischer Defizite zu deuten. So argumentiert etwa Helge Peters 1969 im Rekurs auf Wilhelm Roschers 1894 erschienenes „Hand- und Lesebuch für Geschäftsmänner und Studierende“ zum Thema der „Armenpflege und Armenpolitik“ Jahre wie folgt: „Roscher charakterisierte die Handlungsadressaten der Armenpflege größtenteils als ‚arbeitsscheu‘, als ‚in den Tag hineinlebend‘, als geneigt, ‚sich durch Trunk zu betäuben‘, als ‚verschwenderisch‘ (…) verwendete also moralische Kategorien, die die Eigenverantwortlichkeit der so Bezeichneten unterstellten. Diese Kategorien legitimierten diskriminierende Maßnahmen. Kein Buch der modernen Sozialarbeit verwendet ähnliche Begriffe.“ (Peters 2010 [1969]: 116 f., Herv. d. Verf.)

Es ist in der Tat sehr plausibel, dass „de-responsibilisierende“ Deutungen von Lebensführungsproblemen ein wesentliches Moment der (vermeintlich oder tatsächlich) professionstypischen Strategien Sozialer Arbeit sind, ihren AdressatInnen weniger durch repressive Maßnahmen zu begegnen, sondern in „advokatorischer“ oder „stellvertretend verantwortlicher“ Weise (vgl. Brumlik 1992) auf deren psychosoziale Unterstützung oder die Verbesserung der sozialen Bedingungen ihrer Lebenswelten zu zielen. Aktuelle Debatten über eine mögliche Neubestimmung des Verhältnisses von Fremdverschulden und Eigenverantwortlichkeit stellen damit nicht nur die Prämissen einer sozialen Regierung und damit die Legitimität der Bereitstellung und Inanspruchnahme kollektiver Sicherungssysteme infrage, sondern betreffen darüber hinaus konstitutive Merkmale des professionellen Selbstverständnisses der Sozialen Arbeit.

Moralische Kategorien der Eigenverantwortlichkeit, wie sie von Roscher genutzt wurden, legitimieren nicht nur repressive oder diskriminierende Maßnahmen. Vielmehr sind sie von grundlegender Bedeutung mit Blick auf die Frage danach, was, wem gerechterweise zustehen und widerfahren soll. In der liberalen politischen Philosophie definiert die Unterscheidung zwischen Umständen, die der Kontrolle der Betroffenen entzogen sind, und Umständen, die eine Folge „autonomer“ Entscheidungen darstellen, die Grenze zwischen legitimen und illegitimen Ungleichverteilungen und damit verbunden auch zwischen dem, was sozial(-staatlich) auszugleichen ist, und dem Bereich, für den die betroffenen Individuen selbst verantwortlich zeichnen bzw. zur Verantwortung zu ziehen sind werden sollen (vgl. Dworkin 2000, Roemer 1995). Verantwortlich, so lautet eine bekannte Formulierung von Richard Arneson (1989: 88), seien die einzelnen AkteurInnen „so long as the individual was capable of making such a voluntary choice and standing fast by it“.

Für die Debatte um Responsibilisierung ist es maßgeblich, wie „großzügig“ diese Fähigkeit zum Wahlhandeln ausgelegt wird. Diese Fähigkeit lässt sich empirisch nur sehr schwierig fassen. Sie ist im Wesentlichen eine Frage politischer Annahmen, aber auch disziplinärer Setzungen. Pointiert bringt dies ein vielzitiertes Verdikt des Ökonomen James Duesenberry (1960: 233) auf den Punkt: „Economics is all about how people make choices, sociology is all about how people don’t have any choices to make.“ Damit wird zugleich der aktuelle diskursive Kontext gegenwärtiger Responsibilisierungsstrategien angesprochen. Denn es spricht sehr viel dafür, dass die Ökonomie der Soziologie im Bereich der Wohlfahrtsgestaltung den Rang als zentrale, programmatische Leit- und Legitimationswissenschaft abgelaufen hat. Hinweise für diese Relevanzverschiebung zeigen sich bereits auf formaler Ebene, z. B. in Gesetzesnovellen wie den §§ 78a–g SGB VIII (vgl. Lutz 2010: 71). Auch die Sozialwissenschaft selbst hat zunehmend ökonomische Akteursmodelle (z. B. den Rational-Choice-Akteur) übernommen und sich Mikroanalysen von Handlungsrationalitäten zugewandt, während Großkategorien – wie z. B. die der sozialen Klasse – in den Hintergrund rücken bzw. als „Zombie-Kategorien“ aktiv zurückgedrängt werden. So zeichnet etwa der britische Wohlfahrtstheoretiker Alan Deacon (2004) nach, dass sich die Sozialpolitikforschung in der Nachkriegszeit – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer ideologischen Verbundenheit mit dem Ideal sozialer Gleichheit – hauptsächlich auf die Analyse sozialer und institutioneller Strukturen konzentrierte, während sie Fragen nach individueller Verantwortung sowie den damit verknüpften Fragen der Handlungsfähigkeit von Individuen (bewusst) in den Hintergrund gerückt hätte. Dieser Fokus verliert spätestens seit Beginn der 1980er-Jahre seine Dominanz. Konservative monieren, dass der primäre Blick auf soziale Risiken zu einer „Kultur der Entschuldigung“ beigetragen habe, weil die scheinbar sozial Benachteiligten pauschal als Opfer gesellschaftlicher Zwänge betrachtet werden. Aus systemkritischer Perspektive wird die Entmündigung der Klienten durch Experten kritisiert (Illich 1979) und in sozialwissenschaftlichen Theorien dem vorherrschenden strukturfunktionalistischen Erklärungsmodell à la Parsons mit dem Vorwurf, gesellschaftliche Akteure als „cultural dopes“ (Garfinkel 1967) zu konzeptualisieren, begegnet. Allen gemeinsam ist darin, dass sie die Idee der Einzelnen als „aktive GestalterIn“ ihres eigenen Lebens unterstützen.

 

Responsibilisierung und Soziale Arbeit

Für die bundesdeutsche Soziale Arbeit lässt sich die von Deacon ausgeführte Perspektivverschiebung nahezu prototypisch nachzeichnen. Die Idee von AkteurInnen als ErzeugerInnen und aktive GestalterInnen ihrer Lebenssituation (vgl. Reutlinger 2008) wird hier – zunächst in Debatten um gesellschaftliche „Individualisierung“ und „Modernisierung“, dann in Annahmen bezüglich der Entstrukturierung und Biographisierung des Lebenslaufs und schließlich in Debatten um „Agency“ und „Empowerment“ – zum zentralen Verdikt. Die Überwindung einer „Defizitperspektive“ wird zum geflügelten Wort, strukturelle Ungleichheiten werden zu „Heterogenitätskontexten“ umdefiniert und der „kompetente und handlungsfähige Akteur“ wird zu einer Figur, die die Lehrbücher dominiert, die in allen Lebenssituationen vermutet und in entsprechenden Forschungen dann auch überall gefunden wird.

Das Verständnis vom „kompetenten und handlungsfähigen Akteur“ ist zum Fundament für eine weitreichende Kritik bisheriger Hilfeformen geworden. Soziale Hilfe, so heißt es exemplarisch in einem Papier der Stiftung SPI und des Deutschen Jugendinstituts (2002: 30), sei problematisch, wenn sie „neue Abhängigkeiten und Lethargie fördert und eine Anspruchshaltung sich entwickeln lässt, welche den persönlichen Anteil und eigene Verantwortung für die jeweilige Lage leugnen und verdrängen hilft. Wird der Hilfsbedürftige dabei (fast reflexhaft) in den Status eines Opfers in den herrschenden Verhältnissen definiert und nicht seine eigene Verantwortung eingefordert, kann Hilfe nicht zur Selbsthilfeführen“. DieAlternativebestehestattdesseninder„konsequente[n] Ausrichtung auf die Förderung von Eigeninitiative, Selbsthilfe und subsidiärem Beistand“. Dies entspricht ziemlich genau dem, was als Responsibilisierung verstanden wird: Es geht darum, sozialen Problemlagen durch eine Förderung und ein „Empowern“ der Einzelnen zur aktiven Gestaltung ihrer eigenen Lebensführung zu begegnen. Anders als es die „soziale Regierung“ vorsah, scheint die Priorität zwischen Solidarprinzip und Personalprinzip mittlerweile immer häufiger auf Letzterem zu liegen. „Subsidiärer Beistand“ wird in neueren Debatten oftmals unter ausschließlich konservativen Vorzeichen, als personales Prinzip ausgelegt. Zugleich kann auch jenseits der Sozialen Arbeit eine verstärkte Bindung zwischen einer überprüfbaren Bereitschaft zur Selbstverantwortlichkeit der AdressatInnen, verbunden mit Strategien „Befähigung“ „zur Übernahme von mehr Eigenverantwortung“ (Evers 2008: 239) und subsidiären Leistungen festgestellt werden. Diese Verkoppelung stellt einen programmatischen Schwerpunkt in den Konzeptionen einer „aktivierenden“ bzw. „investiven“ Sozialpolitik dar, in deren Kontext eine vermeintlich „passive Wohlfahrtsabhängigkeit“ als ein zentrales sozialpolitisches und -pädagogisches Problem diskutiert wird. In diesem Zusammenhang stellt Responsibilisierung im Sinne einer individualisierten „Verantwortlichmachung“, die für die AdressatInnen Sozialer Arbeit einen breiten Raum vom „autonomous choices within her control“ unterstellt, ein wesentliches Element einer Neujustierung des Verhältnisses von sozialen Rechten und einer moralischen Verpflichtung zu einer gleichermaßen eigenverantwortlichen wie gesellschaftskonformen Lebensführung dar.

Die mit der Kategorie der Responsibilisierung beschreibbaren Diskurse und Neujustierungen des Wohlfahrtssystems müssen sich nicht zwangsläufig in der Praxis Sozialer Arbeit niederschlagen. Sofern es zutrifft, dass es für die Soziale Arbeit professionstypisch sei, „nach individuell nicht zurechenbaren Ursachen und Gründen“ (Scherr 1998: 64 f.) statt nach individueller Verantwortung zu fragen, wäre zu erwarten, dass die Profession Sozialer Arbeit ein Opponent der beschriebenen Responsibilisierungsstrategien ist. Eine Befragung von Mohr und Ziegler von mehr als 2000 Fachkräften der Jugendhilfe aus 60 verschiedenen Einrichtungen zeigt jedoch, das jeweils etwa zwei Fünftel der Befragten die Ursache der Probleme ihrer AdressatInnen darin sieht, „dass diese einfach keine Lust dazu haben, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen“ und davon überzeugt sind, dass Unterstützungsleistungen, die ihre AdressatInnen bekommen, dazu führen würden, „dass sie immer weniger bereit sind, selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen“. Das Ausmaß der Zustimmung zu dieser verantwortungszuschreibenden Deutung korreliert erwartungsgemäß hoch mit der Forderung, die „Werte von Disziplin und Ordnung“ in der Sozialen Arbeit wieder stärker zu betonen (r = .444), der Betonung der Wichtigkeit „mangelndes Kooperationsverhalten der KlientInnen zu sanktionieren“ (r = .383) sowie der Forderung, nach „mehr Möglichkeiten [… um] mangelndes Kooperationsverhalten der KlientInnen zu sanktionieren“ (r = .470).

Responsibilisierende Deutungsmuster scheinen demnach auch in der Praxis der Sozialen Arbeit angekommen zu sein und weisen dabei nicht nur auf veränderte Rationalitäten des Wohlfahrtsstaates und Veränderungen im Verhältnis von sozialpolitischen Steuerungen und sozialarbeiterischen Praktiken hin, sondern scheinen auch nahezulegen, bislang als gültig erachtete Prämissen des Professionalisierungsprojekts der Sozialen Arbeit zu verwerfen bzw. das Professionalisierungsprojekt selbst infrage zu stellen. Die Notwendigkeit einer systematischen, sowohl sozial- und wohlfahrtsstaats- als auch disziplin- und professionstheoretischen Analyse und Kritik aktueller Responsibilisierungsstategien liegt entsprechend auf der Hand.

 

Literatur

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